Eröffnungsrede auf dem Kongress der Freien Medien, Berlin, am 10.10.2020
I.
Guten Morgen meine Damen und Herren, ich freue mich Sie zum 2. Kongress der Freien Medien begrüßen zu dürfen. Wir haben ein straffes Programm, ich komme daher auch gleich zur Sache: Deutschland hat kein Politikproblem, sondern ein Medienproblem.
Damit ist jene auffällige Meinungsuniformierung gemeint, die sich inzwischen nicht mehr unter den Tisch kehren lässt. Während der seit Februar medial bewirtschafteten „Corona-Krise“ wurde uns einmal mehr vor Augen geführt, wie einfach es geworden ist, Andersdenkende und Regierungskritiker verbal zu brandmarken und vom Meinungsdiskurs auszugrenzen. Ohne die freien Medien, die unabhängigen Blogger und Influencer, hätten die wenigsten überhaupt von der Existenz kritischer Stimmen erfahren.
In der gegenwärtigen Zerrüttung der Meinungsfreiheit kommt den freien Medien die Rolle von Whistle blowern und kreativen „Übersetzungsdiensten“ zu. Der Ausdruck Lückenpresse greift inzwischen tatsächlich zu kurz, wo vorsätzlich falsch informiert wird. Wenn die Verwüstungen ganzer Innenstädte durch Randalierer als „neue deutsche Partyszene“ verharmlost werden, andererseits ein paar fahnenschwenkende, friedfertige Demonstranten auf der Treppe des Reichstags als – Zitat – „Sturmtruppen“ und „rechter Mob“ in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt werden, dann zeugt das von der Absicht, uns, die Noch- Mehrheitsgesellschaft, auf eine fast schon kriminelle Art und Weise zu täuschen.
Dass solche Falschdarstellungen der aktuellen Geschehnisse von der breiten Masse immer noch geschluckt werden, liegt am großen antifaschistischen Narrativ der Berliner Republik, dem sich täglich fortschreibenden Framing aller Gesamtereignisse des Landes. Da das Ganze nur funktionieren kann, weil die Mainstream-Medien in perfekter Synchronisation senden, möchte man fast von einem Simulacron – also einer künstlich hergestellten Realität – sprechen, in der viele Zeitgenossen noch immer zuversichtlich in die Zukunft schauen: Hier hat die Regierungschefin noch alles im Griff, hier gibt es keine Zensur, dafür aber eine brandheiße Gefahr namens „Das IV. Reich der alten weißen Männer“ – und Greta Thunberg gilt als Öko-Ausgabe von Harry Potter. Man möchte an dieser Stelle mit Franz Kafka rufen: „Nichts Böses; hast du die Schwelle einmal überschritten, ist alles gut.“ So ist es hier und es ist möglich geworden, da die meisten unserer Mitmenschen einen nicht unbeträchtlichen Teil ihrer Lebenszeit nicht mit – sondern in den Medien zubringen.
William Gibson äußerte dazu kürzlich: „Wir leben heute im Internet, statt es zu nutzen.“ Das ist zweifellos wahr. Und selbst die neuen Medien, die zuerst eine Alternative zu den Alt-Medien boten, haben die Sinndiffusion am Rande dessen, was gut und richtig ist, noch verstärkt. In ihrer Effizienz leisten die gleichgeschalteten Medien heute – im Hinblick auf 2021 – die Arbeit von „Wählertäuschungsanstalten“. Sie verhindern de facto eine objektive Beurteilung der Politik. Es ist ja nicht nur, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht mehr stimmt. Muttis Governance – kurzStaatstechnologie –, also das definierte „Produkt“, für das die Bürger Steuern bezahlen –, schadet dem Land offensichtlich mehr, als es nützt. Die Kosten hat der Bürger zu tragen. Doch da die politische Kaste weder ISO-Zertifizierung noch ein Top Quality Management-Gütesiegel braucht und der unzufriedene Kunde als Wähler alle fünf Jahre wieder legal durch eine neue Koalition ausgetrickst wird, ist der dringend nötige Kehraus in den Mainstream-Medien nicht zu befürchten. Ursache ist möglicherweise auch die von Hans-Hermann Hoppe in Democracy – The God That Failed konstatierte Abkoppelung der Subventionierung des Politikers von der Zufriedenheit seiner steuerzahlenden »Kunden« – der Wähler: Ihre Gehälter bleiben gleich, ob ihr Produkt den Konsumenten zufriedenstellt oder nicht. Das heißt, auch die Arbeit der dienstbeflissenen Manipulatoren geht einfach so weiter.
Der Denker-Club, 1819, deutsche Karikatur auf die Karlsbader Beschlüsse, die die Demagogenverfolgung einleiteten
II.
Damit bin ich beim eigentlichen Thema und ich möchte mit einem Zitat des britischen Kulturkritikers Arnold Toynbee beginnen: Werden wir richtig informiert? Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass von der Antwort auf diese Frage die Zukunft der Gesellschaft abhängen wird.
Auf die Situation in Deutschland gemünzt, hängt von der Antwort auf diese Frage womöglich das Überleben der Noch-Mehrheitsgesellschaft ab, die tagtäglich geframed – d.h. hereingelegt wird. (Als das Wort 2017 im Zusammenhang mit dem BTW erstmals größere Kreise zog, war bemerkenswert, dass kein einziger Journalist auf die negative Bedeutung des Wortes hingewiesen hat.)
»Framing« nennt sich diese erstmals 1974 von Erving Goffman beschriebene Kommunikationsstrategie.Sie »bedeutet in der journalistischen Praxis, bestimmte Aspekte einer allgemein wahrgenommenen Realität auszuwählen und sie in einem Text so hervorzuheben, dass eine bestimmte kausale Interpretation für den beschriebenen Gegenstand gefördert wird«.Dies beschreibt in der Medienwirkungsforschung auch die Einbettung von politischen Ereignissen und/oder Themen in ein vorgegebenes Deutungsraster, sodass die Problemdefinition einer ganz bestimmten moralischen Bewertung und/oder Handlungsempfehlung dient.
Wenn Medien in ihrer Mehrzahl dieses Framing von Nachrichten leisten, dann ist es sicherlich nicht verkehrt,von Wahrnehmungs- oder Perzeptionsfiltern zu sprechen. In einem alten Handbuch der Medienwissenschaften aus den 1970er Jahren fand ich allerdings eine andere, viel interessantere Definition: a) Medien sind unsichtbare Maschinen der gesellschaftlichen Vernetzung. Und b) Sie legen dem Kommunizierten eine Form auf. Besonders schön auch ein Nachsatz: Je selbstverständlicher wir Medien benutzen, desto mehr haben sie die Tendenz zu verschwinden. Mediennutzung geschieht weitgehend unbewusst.
Ja, gute, alte Informationstheorie! Wer weiß heute noch, wer Max Bense war, Norbert Wiener oder Heinz von Förster? Ihre Erkenntnisse wurden und werden von sich progressiv wähnenden Kräften der Gesellschaft genutzt und haben inzwischen ein kontinuierlich laufendes, selbstreferentielles Kommunikationssystem hervorgebracht. Man möchte im sozio-kybernetischen Sinn von einer Taktung des Menschen sprechen, einer Art regelmäßiges Updaten, damit das Individuum mit den laufenden Ereignissen Schritt halten kann. Die Medien helfen ihm, diese Ereignisse schnell einzuordnen und zu evaluieren.
Mir scheint daher, dass der Begriff Denkprothese für ein Medium ganz passend ist. Kein Ersatz, sondern analog zu Apps und Algorithmen – eine Art Gehhilfe des Gehirns. In einer Gesellschaft, die durch das Propagieren von „einfacher Sprache“ bewusst ihr kulturelles Niveau absenkt, dürfte es kaum auffallen, wenn sich auch Journalisten vorgefertigter Sprachbausteine bedienen und diese in einem vorher abgesteckten Rahmen variieren.
Wer einmal versucht hat, mit jüngeren Linken zu diskutieren, wird festgestellt haben, dass die meisten – so sattelfest sie ideologisch sein mögen – eine große zerebrale Ermattung ausstrahlen. Statt eigene Gedanken zu formulieren, reihen sie wie ausgestanzt wirkende Sprachmuster aneinander. Man könnte von einem in sich stimmigen Wahnsystem sprechen und genau das verweist auf einen „Rahmen“, der ins Unterbewusstsein implementiert worden ist und dafür sorgt, dass ein gutes Mitglied dieser Gesellschaft immer nur das sieht, was man es sehen lassen will. Wer die ihm angebotenen Denkprothesen konsequent nutzt, dürfte als menschliches Wesen komplett in den staatlich gelenkten Informationsregelkreisläufen aufgehen und das Wahrnehmungsangebot der freien Medien als Störungen empfinden. Es ist gut möglich, dass es auch schon Personen gibt, bei denen eine nicht-konforme Reportage zur Einwanderung zu physischer Übelkeit führt. In den freien Medien manifestiert sich dagegen die Unwägsamkeit der conditio humana, die von der Norm abweichen will.
Nun könnten prothetische Hilfsmittel durchaus auch positive Effekte haben. Das könnte auch auf die Mainstream-Medien zutreffen, wäre da nicht der inoffizielle, aus den USA stammende Verhaltenskodex namens Political Correctness. Sie bleibt der größte Feind der Meinungsfreiheit.
Insofern sind also die „Medien“ – als technische Erzeuger der allgemein vorherrschenden Verblendungszusammenhänge – gar nicht die Feinde der freien Medien, sondern die selbsternannten autoritären Gedankenbetreuer und journalistischen Bevormunder. Unterstützt werden diese inoffiziellen Aufsichtspersonen von neuen „Zensurunternehmen“, die die ungefilterte Meinungsäußerung in den sozialen Medien bereits empfindlich einschränken konnten.
Auch über Political Correctness wurde schon viel gesagt, ich möchte im Sinne der guten, alten Informationstheorie eine Übersetzung liefern, die nicht nur das Hirn, sondern auch das Herz ansprechen dürfte, und damit sind wir dann auch gleich bei den Freien Medien.
III.
ODE AN DIE POLITICAL CORRECTNESS
Wäre Political Correctness eine Frau, ihre Persönlichkeit wäre eine grässliche Mischung aus Klageweib, Mutter Teresa und Henriette Reker alias »die Frau mit der Armlänge«, wohlgemerkt nach einer Panchakarma-Kur mit Sibylle Berg: Ach, kotz, wie herrlich werden hier die Toxine gelöst … all die kleinen Gifte, die frau so in sich trägt … Wir speien sie dem alten weißen Mann einfach mal ins Gesicht. Take that, you bastard! Diktatorin eines geistigen Wohnzimmerreiches, hysterisch nervende Klugscheißerin, Vorschreiberin, giftversprühend wie Annetta Kahane, wenn sie auf ihre Vergangenheit beim DDR-Spitzeldienst angesprochen wird. Eine kleine, geile Dreckschleuder, immer bereit zum Kampf gegen die bitterböse rechte Gefahr. Immer das Prisma der Lüge im Anschlag, um die Wahrheit zu brechen. Was wahr sein darf, ist sowieso nur, was ihr nützt. Fakten lösen bei ihr schnell eine posttraumatische Belastungsstörung aus. Das macht sie zur Urenkelin der Inquisition und jener geistigen Grabesnacht, die vor der Aufklärung herrschte, aber auch zur Wegbereiterin des neuen islamischen Mittelalters, das sich noch im Gefältel ihrer Robe verbirgt … Im günstigsten Fall spielt sie sich als Lebensratgeberin auf, die den Deutschen entschieden abrät zu leben! Wie das, wo doch jeder Idiot weiß, dass sich Leben ausbreiten, dass es wachsen will und dass es – Vorsicht, ihr hypersensiblen Seelchen! – auch das Verdrängen von anderem Leben erfordert.
Nicht anders hat es die eine oder andere Gattung an die Spitze der Nahrungskette geschafft. Das Ganze heißt Überleben. Der Deutsche dagegen unterlebt, wie es ihm nach ‘45 beigebracht wurde (wenn dieses Vor-sich-hin-Vegetieren als schuldbeladener Schrumpfgermane in einer landesweiten Besserungsanstalt überhaupt noch etwas mit Leben zu tun hat). Der Gutdeutsche folgt lieber dem Rat einer blutleeren, von amerikanischen Marxisten ausgebrüteten »Spinne«:
Man muß nur etwas sagen, das ihr nicht passt. Zupf den Klingeldraht und siehe da, aus der Tiefe des Raums dampft ein verhärmtes Etwas heran, eine Weltgeist-Schimäre, die nichts weiß und doch andauernd Lehrreiches auszuspucken versteht. Stinklangweilig, sozial inkompetent, frustriert und unglücklich darüber, dass die Welt so ist, wie sie ist, predigt diese mit geistiger Syphilis parfümierte Kokotte den totalen Verzicht auf das Leben. Vom Standpunkt eines Lebewesens aus zwar nicht zu verstehen … es sei denn, man hat Selbstmordabsichten. Was P. C. aber nicht irritiert, sie kann und weiß nada, wie die norwegische Gender-Trine »Kati« Egeland, und gleicht somit einmal mehr einer gescheiterten Existenz, die es nicht verkraftet, dass kein Aas etwas mit ihr anfangen kann. Sie ist etwas, dass einem Stock im Allerwertesten verdächtig gleicht, freilich einem, der dauernd den Takt vorgeben will … was der Grund ist, warum diese Schreckgeschraubte auch keine Freunde außer anderen Arschlöchern hat! Ein Urteil ohne Vorurteil wird selten in ihrem Namen verhängt. Wird sie kritisiert, reagiert sie wie eine verzogene, daueradoleszente Prinzessin, der nichts gut genug ist und die den Dolch, den sie bei sich trägt, auch ohne Bedenken gegen die besten Freunde gebraucht. Bekommt sie nicht, was sie will, wird sie psychisch labil, packt die Jakobiner-Hass-Kappe aus, trommelt ihre Antifa-Kumpels zusammen, rennt los, schreit Zetermordio – während sie Häuser abfackelt und auf Leute eindrischt, die ihr nicht passen.
Sie versteht sich – und das ist das Absurde – als Ordnungshüterin, als Vertreterin des Bürgerlichen Gesetzbuchs, das sie selbst nie gelesen hat, geschweige denn respektiert. Im Grunde ist Political Correctness die neidischste und tollwütigste Megäre, die diesen Namen auch voll verdient; sie ist die größte Schande für den denkenden Teil der menschlichen Rasse und hätte es zigfach verdient, auf einem der von ihr angerichteten Scheiterhaufen zu brennen!
IV.
Damit sind wir dann auch beim denkenden Teil der menschlichen Rasse und dem Bereich, in den sich die Vernunft des Menschen zurückgezogen hat – in die Sphäre der freien Medien, die in der Informationstheorie dem Verhältnis von Materie zu Antimaterie entsprechen: Explosive Auseinandersetzungen sind vorprogrammiert, denn Deutschlands Medienproblem kann und wird nur durch neue, entgegengesetzte und bessere Medien gelöst werden. Nun möchte man altersmilde darauf spekulieren, dass sich hier eine sukzessive Ablösung, ein allmähliches gegenseitiges Durchdringen durchsetzen wird, doch angesichts der sich selbst schützenden Propagandamaschine, die nicht einmal mehr davor zurückschreckt, verdiente Mitstreiter wie den treuen Clas Relotius über die Klinge springen zu lassen, sollte man eher davon ausgehen, dass ein Diffundieren nicht stattfinden wird: Stattdessen dürfte den neuen Medien nur die Flucht nach vorn und der Angriff auf die etablierte Themenindustrie bleiben. Dabei steht ihnen nicht nur eine technologische Übermacht gegenüber, sondern ein regelrechtes „Medienregime“, dessen Zerschlagung eben auch das Ende der Mediendemokratie bedeutet. Das ist auch den Medienfürsten bewusst.
Die so genannte Coronakrise, in der jeder, der sich nicht zur größten Panikmache bekennt, als Covidiot oder Aluhutträger abgestempelt wird, könnte ein lohnendes Feld sein, um der tönenden und aufgeblasenen Medienrhetorik die Luft rauszulassen. Ein anderes ist die schon fast wieder versandete Debatte um Cancel Culture – die Unsitte, Personen, denen man eine bestimmte Haltung zuordnen kann, negativ zu etikettieren und in eine existentiell bedrohliche Lage zu bringen. Die offensichtlichste Rolle der freien Medien entspricht heute schon der Funktion, die es beim Spiegel oder der Süddeutschen schon lange nicht mehr gibt – die des Op-Ed-Kommentators (der redaktionellen Meinung entgegengesetzt).
Eine weitere Rolle sehe ich im Gleichnis von dem Mann, der lange Zeit keinen Mund hatte, um zu sprechen, und der sich nun freut, dass er ihn wiedergefunden hat und diese erfreuliche Tatsache nutzt. Es geht ihm um das ungebremste Benennen der Auswirkungen des ›Weltumfahrungsmodells‹, dem sich Deutschland nicht erst seit der jüngeren Geschichte anvertraut hat. Deutlich wird: Die fremdgesteuerte und aufwendig produzierte Simulation von Welt und Geschichte – im Detail für den Einzelnen über die eigene Sinneswahrnehmung nicht oder nur in den seltensten Fällen verifizierbar –, hat heute ihre Grenzen erreicht. Und auch das muss einmal gesagt werden: Die „Abständigkeit“ von der Wirklichkeit lässt sich nicht weiter biegen. Fakten wurden und werden nur noch durch „Geglaubtheiten“ ersetzt. Die Gesichtsfelddefekte im programmierten Bewusstsein der Öffentlichkeit lassen sich aber nicht länger kaschieren. Die Projektion, die bislang wie eine Dunstglocke über Deutschland lastete, ist nicht mehr willfährig-gefällig, untertänig-verformbar – sie ist brüchig geworden und deutlich begrenzt. Auf dem Präsentierteller des Simulakrums findet sich die Faktizität der Ereignisse nur noch in kleinsten Partikeln wieder – clues (engl. Hinweise), die gewisse Ereignisse ausschließen und andere wahrscheinlicher machen. Dieses Wissen hat viele von uns zu wahren „Kombinationsmaschinen“ des Alltags und subversiven Winkelzüglern gemacht. Aus Wahrscheinlichkeiten und Unschärferelationen konstruieren wir das Sinn-Gestänge, an dem wir uns – mühsam am Rande der Informationsautobahn des Systems vorbei – zu unseren Erkenntnissen über die eigene Lebenswirklichkeit hangeln. Selbst wenn wir wissen, dass diese Ergebnisse fragwürdig sind, ziehen wir sie den Wahrnehmungsangeboten der Medienkonzerne eindeutig vor. In Deutschland befinden wir uns daher in einer neuen anthropologischen Situation, die einem Angsttraum von Elias Canetti entspricht: »Ohne es zu merken, hätte die Menschheit die Wirklichkeit plötzlich verlassen; alles was seither geschehen sei, wäre gar nicht wahr; wir könnten es aber nicht merken. Unsere Aufgabe sei es nun, diesen Punkt zu finden, und so lange wir ihn nicht hätten, müssten wir in der jetzigen Zerstörung verharren.« (Elias Canetti: Die Blendung, Wien, 1936).
Ich glaube, mit diesem Satz ist die immens wichtige Aufgabe der freien Medien für die nächsten Jahre klar definiert, und man kann allen nur viel Glück wünschen, denn Sie werden es brauchen.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Wir bedanken uns bei Thor Kunkel für die Veröffentlichungsgenehmigung.
Thor Kunkel
Thor Kunkel, geboren 1963 in Frankfurt am Main, studierte bildende Kunst und arbeitete von 1985 bis 1992 für Werbung und Film. Für seinen ersten Roman „Das Schwarzlicht-Terrarium“ wurde er beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet. Sein nächster Roman „Endstufe“ über die Pornofilmindustrie im Dritten Reich löste eine heftige Debatte in den Feuilletons aus. Thor Kunkel hat außerdem mehrere Hörspiele geschrieben.
Ich bin ein Mensch des Gleichgewichts. Ich lehne mich instinktiv nach links, wenn der Kahn rechts zu kentern droht – und umgekehrt. (THOMAS MANN, 1934, in einem Brief an Karl Kerényi)
Naturphilosophie und Biologie, Andy Warhol und Stanley Kubrick, Pulp-Fiction und die Utopie des III. Reiches, Cargocult und gesellschaftskritische Dystopien – sie bilden den intellektuellen Hintergrund Thor Kunkels, einer Ausnahmeerscheinung unter den Repräsentanten der neuen „rebellischen“ , von den Mainstream Medien ausgeblendeten deutschenGegenkultur, die sich dem Konsens eines ideologisch manipulierten Weltbilds verweigert.
Der Schriftsteller galt Volker Weidermann, Feuilleton-Chef der FAS, bis 2004 als ein Hoffnungsträger der deutschen Gegenwartsliteratur.
Der Ernst-Willner-Preisträger wurde jahrelang von den Medien hofiert und vom Literaturbetrieb mit Stipendien gefördert. Das alles ändert sich schlagartig nach einer vom Spiegel lancierten Rufmord-Kampagne, die dem Autor – anhand eines von Kunkel verfassten Werkstattberichts „Revisionismus“ unterstellte. Was folgte war einer der heftigsten Literaturskandale der Gegenwart. Nie zuvor wurde ein Autor von den Medien dermaßen „hart, unerbittlich, um nicht zu sagen, gnadenlos“ (Volltext, 9/08) gejagt und beschimpft.
Dem 2004 von den Medien formulierten Kulturvorbehalt folgte die intellektuelle Ausbürgerung des Schriftstellers. Seine Romane werden demonstrativ von den Feuilletons, die sich als verlängerten Arm der Political Correctness verstehen, ignoriert oder nur schubweise rezensiert –, damit Kunkels erzählerisches Werk allmählich in Vergessenheit gerät. Die Vernichtung des Künstlers soll wie im Stalinismus durch gezieltes Verschweigen geschehen.
Schaut man sich Kunkels Bibliografie genauer an, stellt man allerdings fest, dass das Thema „III. Reich“ nur eines von vielen ist: Auch utopisch-technische Romane („Schaumschwester“), mit Herzblut geschriebene Noir-Krimis (“Kuhls Kosmos“) und eine beißende Gesellschaftskritik wie „Subs“ (verfilmt 2018 als HERRliche Zeiten von Oskar Roehler) belegen die Bandbreite dieses Autors, den manche Kritiker zu den besten Schriftstellern der jüngeren, deutschen Gegenwart zählen.
Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet Thor Kunkel heute als Kreativ-Direktor einer Schweizer Werbe-Agentur, – eine „Industrietätigkeit“, wie er meint. Berufliche Stationen waren u. a. führende Agenturen wie Young & Rubicam, GGK London, Team BBDO, Scholz & Friends, Wunderman Cato Johnson und McCann-Erickson Amsterdam, wo er einige preisgekrönte Kampagnen entwarf. Nebenbei engagierte sich Kunkel immer wieder für humanitäre Hilfsorganisationen wie Mensen in Nood, die Stiftung „S.A.N.E. – A National Emergency“ und die niederländische SIRE – Stichting Ideele Reclame.
„Ohne Helden werden wir nicht auskommen“ – Der Fall Monika Maron
Ein Besuch bei der Autorin anlässlich ihres neuen Romans „Artur Lanz“ und eine Kritik der Kritiken.
In Zeiten des Kulturkampfes werden Feuilletons zu Schlachtfeldern. Die Etikettierung als „neurechts“ kann Existenzen vernichten, ein Klima der Einschüchterung im Diskurs hat um sich gegriffen im Westen, auch über die Schriftstellerin Monika Maron ist seit ihrem magisch-realistischen Roman „Munin“, in dem einige Figuren die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin kritisierte, ein Schatten gefallen.
Da sich die Wochenzeitschrift DIE ZEIT offenbar als Maß aller Dinge sieht, schickte sie im vergangenen Mai den als Spaßmacher im Feuilleton angestellten Redakteur Moritz von Uslar („99 Fragen“, „Auf ein Frühstücksei mit Claudia Roth“) nach Vorpommern, um der Frage nachzugehen, ob die Schriftstellerin Monika Maron noch möglich, bzw. „noch nicht ganz unmöglich“ sei.
Hinter dieser lockeren Ironie des Redakteurs lauerte selbstverständlich die garnicht lustige, ja in der Tat gänsehauttreibende Frage, mit welchen Konsequenzen die ins achtzigste Jahr hineinlebende vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin zu rechnen hätte, sollte sie von ihm als „unmöglich“ etikettiert werden.
Sie selber übrigens war dieser Frage in einem anderen Deutschland bereits einmal ausgesetzt, sie erhielt daraufhin Publikationsverbot und wurde von der Stasi observiert.
In einem noch früheren Deutschland war ihr jüdischer Großvater Pawel mit dem Unmöglichkeits-Verdikt ermordet worden von ordnungsliebenden Deutschen, die sich ebenfalls als Mass aller Dinge fühlten.
Anlässe zu einem Besuch bei Monika Maron in ihrem Haus in Vorpommern gab es reichlich – da war nicht nur ihr Jubiläumsjahr, sondern auch ein neues Werk zu besprechen, ihr zehnter Roman mit dem Titel „Artur Lanz“.
Matthias Matussek besucht Monika Maron in Vorpommern
Und der hat es in sich, denn er bewegt die (in diesen Zeiten der Denkmalszertrümmerungen) jäh hitzig diskutierte Frage, ob ein Volk Helden braucht und was es mit ihnen anfängt. Bekanntermaßen hat sich die Lesart durchgesetzt, dass wir in postheroischen Zeiten leben. Helden sind obsolet, es gibt sie, nein, es darf sie nur noch im Kino geben (dort aber bitteschön massiv).
Brauchen wir Helden? Spannende Frage. Leider erfuhr man der ZEIT-Reportage so gut wie nichts über den Roman, aber Reporter Uslar kennt die In- und Out-Listen der Lifestyle-Magazine genau, er weiß, was In ist, also was geht, bzw. „gerade noch möglich“ ist, und das bezieht sich nicht nur auf das Label der Jeans, sondern auch das im politischen Diskurs.
Er kennt die Gefahren, die mit einem allzu sorglosen Griff in den politischen Kleiderschrank verbunden sind: „Das kann vorkommen, dass ein allseits geachtetes Mitglied des Literaturbetriebs ins Abseits gerät – zuletzt hat sich der Dresdner Schriftsteller Uwe Tellkamp, unter anderem mit Äußerungen zur Meinungsfreiheit in der Demokratie, in eine Ecke begeben.“
Mittlerweile wird sich herumgesprochen haben, dass nicht Tellkamp sich „in irgendeine Ecke begeben hat“ , sondern dort vom linksliberalen juste milieu, das die verschmockte Zeit verkörpert wie nichts sonst, abgestellt wurde, um dem Bombardement mit faulen Eiern höhere Trefferquoten zu garantieren.
Ach übrigens: Jüngst erschien im US-Magazin „Harper‘s“ ein Brief, der von 150 auch linken Autoren und Akademikern unterzeichnet wurde (u.a. Noam Chomsky und J.K.Rowling) , ein Brief, der sich gegen die neuen Sittenwächter von links und ihr „moralisches Gehabe“ wendet, das „die offene Debatte und Tolerierung abweichender Meinungen zugunsten eines ideologischen Konformismus schwächt.“
Ich schaute damals selber nach bei Maron und wurde von der Autorin samt Hund Bonnie am Bahnhof im Nachbarort abgeholt
Monika Marons „Artur Lanz“ ist ein reichlich abgerüsteter, ein gebrochener Held, blonde Locken, um die 50, geschieden, er sitzt da auf einer Bank und kritzelt mit einem Ast im Sand, die Autorin kommt mit ihm ins Gespräch und erfährt, dass er von seiner schwärmerischen Mutter nach dem legendären Ritter Arthur der Tafelrunde benannt wurde, was umso besser passte, als sich der Nachname Lanz umstandslos in Lancelot hinausträumen ließ.
Heldentaten hat dieser Lanz nicht vorzuweisen bis auf jene eine, erschütternd banale: Er ist seinem Hund, der ihm samt Leine in ein Rapsfeld getürmt ist, hinterhergelaufen, immer tiefer in diese undurchdringliche Schlingpflanzenwelt hinein, hat ihn schließlich kläglich fiepsend und komplett verheddert befreit und gerettet.
Er kämpft sich in glühender Hitze durchs Feld, er kämpft bis an den Rand des Kollaps, bis ihm die Sinne schwinden, und als sich nach der Rettung der Puls wieder beruhigt hat, überkommt ihn ein „fast heiliges Gefühl. Ich hatte mein Leben riskiert. Für einen Hund. Für einen Hund, weil ich ihn liebte.“ Und die Erkenntnis, dass er seinen Hund mehr liebe als seine Frau, schwoll in ihm an. Schließlich im nüchternsten Maron-Ton: „Im Winter bin ich ausgezogen. Den Hund hat sie behalten.“
Verschiedentlich trifft diese Charlotte Winter ihn wieder, mal nach einem Schauer in einer Kneipe, mal zum Abendessen, er berichtet von einem politisch inkorrekten Kollegen im Institut (der hatte tatsächlich in einer erregten Diskussion von einer Ökodiktatur, von einem „grünen Reich“ gesprochen), Artur hält sich raus, beginnt aber ein Krav-Maga-Training, verstaucht sich prompt die Hand.
Oh ja, Maron hat Sinn für Komik, sie spielt das Thema Heldentum in den verschiedensten Runden durch, unter anderem in größerer Gesellschaft mit einer gewissen Penelope, die verdammte Ähnlichkeit mit einer berühmten Grünen-Politikerin hat.
„Diese Helden hätten nun wirklich genug Unheil in der Geschichte angerichtet, rief Penelope mit routinierter Empörung in der Stimme und stellte ihr Glas dabei mit Schwung auf den Tisch, so dass der Wein fast überschwappte.
Nein, Penelope, mischte sich Ulrike Zeisig ein, das sei doch zu einfach. Was ist mit Stauffenberg oder Bonhoeffer, sind das etwa keine Helden?“ Doch die Sache wird noch komplizierter, denn jetzt kommen die Hormone ins Spiel.
„Penelope verkündete, sie sei jedenfalls sehr froh, in einem unaggressiven, nicht von Testosteron beherrschten Land zu leben, worauf ich mich nicht beherrschen konnte und das Wort, das bisher alle vermieden hatten, als Brandbeschleuniger in das bislang nur glimmende Feuer warf.
Warum sie dann den Einzug des Islam in Deutschland so wohlwollend kommentiere, wie ich ihren öffentlichen Äußerungen habe entnehmen können.“
Spätestens hier, bei den bärtigen Muckibuden-Stammgästen, hätte sich unser Revisor von der Zeit „einbringen“ können, als Freizeitboxer, der unlängst verkündete, mit AfD-Sympathisanten würde er nicht lang reden, da gibt’s im Kampf um das bessere Argument gleich auf die Fresse, was er allerdings Monika Maron ersparte, wohl weil hier die Beweisdecke zu dünn war.
„Aber tatsächlich kam er mir dauernd mit der AfD und warum die hier 20 Prozent hat“. Nicht der Roman, sondern Marons politische Einstellung, die von den Revisoren in der SZ bereits als „auffällig“ bezeichnet wurde, interessierte ihn.
Sie nimmt einen tiefen Zug an ihrer langen schmalen Zigarette, die polnische Marke Pueblo, und erklärt es auch mir. „Es gab hier eine Initiative gegen weitere Windmühlen, ein Verein wurde gegründet, Manuela Schwesig war hier, es gab Vereinbarungen – und dennoch wurden die Dinger gebaut, mit der Allüre: ihr da unten könnt uns mal. So kommen 20 Prozent zustande.“
Pause. Ihr Enkel Anton ist aufgetaucht. Wir steigen hinunter zur Küche, sie hat das Osterlamm aufgetaut, dazu werden Pfifferlinge geschnibbelt, Speck ausgelassen, Kartoffeln gekocht, Anton ist Fan von Borussia Dortmund, sie natürlich auch, tatsächlich ist einmal pro Jahr ein Besuch im Iduna Park fällig.
Zeit für einen Gartenbesuch, ein schönes einfaches Haus mit terracotta gestrichenem Mauerwerk, zahlreiche Kirschbäumchen, ein veritabler Tschechowscher Kirschgarten, dazu Birken und Lärchen, alle selber gepflanzt, und dann der Blick übers weite Land. Das Haus gehört ihr seit 1981, und wenn sie es in den alten Zeiten mal nicht mehr aushielt, floh sie hierher, in die Natur, in die Stille, auch in die wilden Unwetter, denn schließlich, sagte sie sich, „über den Himmel können sie noch nicht bestimmen.“
Ein wirklich unbefangener und über ihr Werk informierter Besucher könnte mit ihr über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit unter totalitären Bedingungen reden, über „Flugasche“, diesen so genauen und sprachmächtigen Erstling Marons, über die ideologische Feilscherei mit der Redakteurin Luise darin über den richtigen, aber verbotenen Satz „Bitterfeld ist die dreckigste Stadt Europas“.
Oder über die Sanftheit in „Animal Triste“ und den persönlichkeitszertrümmernden Schrecken der Liebe, ein Roman, den Marcel Reich-Ranicki als „grandios“ bezeichnete oder den raffinierten und eiskalten Vatermord in „Stille Zeile sechs“, den sie selber für ihr bestes Werk hält – er handelt vom langen Sterben und den Lebenslügen des Politkaders Beerenbaum, eine fesselnde, grimmig-groteske Abrechnung mit dem SED-Funktionär und späteren DDR-Innenminister Karl Maron, den ihre Mutter nach dem Krieg heiratete und ihr Stiefvater war.
Diese Autorin beherrscht alle Tonarten, eben auch die Angriffslust und die Zweifel des Debattenromans, und das ist „Artur Lanz“, denn wer ist heute noch Held oder Heldin?
Als Kind las sie mit Herzklopfen über die Partisanin Soja im Kampf gegen die Faschisten, auch der Mord kann eine Heldentat sein, sie zitiert im Buch eine Erinnerung des alten Stechlin von Fontane, dann die stalinistische Version, in die Brecht die Anekdote in seiner grauenhaften „Maßnahme“ umgeschmiedet hat.
Wer ist Held oder Heldin? Batman, Jeanne d’Arc, die Rettungstrupps in Fukushima?
Monika Maron umspielt das Thema in den unterschiedlichsten Lichteinfällen, und auf einiges hat sie einfach keine Antwort.
Aber eines steht für sie fest: „Wer nicht beschützen will, was er liebt, wird es verlieren. Heldentum ist für mich etwas zwischen Opferbereitschaft und Liebe. Helden sind Einzelne, eine Heldentat ist eine außergewöhnliche Tat. Davor steht der normale, zivile Mut zu sagen und zu tun, was man für richtig hält, auch wenn es Ärger einbringt.“
Ach, sagt sie, es gibt die unterschiedlichsten Formen von Heldentum, und Heldenmut ist nicht den Männern vorbehalten.
Ihr Artur Lanz findet dann tatsächlich zu seiner ihm gemäßen Form des Heldentums, man könnte auch sagen zu einer Art Bekenntnis.
„Er ist kein Held, aber auch kein Feigling, das ist doch schon was“, sagt Monika Maron, diese zierliche, wundervoll unmögliche, schwarz gewandete, fast 80-jährige Autorin und Heldin der Unbeirrbarkeit zum Abschied vor ihrem Haus in Vorpommern.
Doch es sollte noch dick hinterhergewütet werden, denn als der Roman die Gemüter so richtig in Wallung gebracht hatte, rückten die weiblichen Schwadronen an.
Und nun entfaltete sich eines der lustigsten (und sicher gänsehauttreibendsten) Spektakel der Feuilletons der letzten Monate: Das stetige und unablässige Abschlachten von Monika Maron in den sogenannten „etablierten“ Feuilletons, die sich längst nicht mehr voneinander unterscheiden lassen.
Warum lustig? Weil einige Figuren im Roman behaupten, dass man nicht mehr alles sagen dürfe in unserem Lande, worauf die Rezensent*Innen brüllen: Buh, pfui, das geht zu weit, das darf man jetzt wirklich nicht sagen, geschweige denn schreiben, raus mit der Dame!
Bemerkenswert weiterhin ist, dass bereits „Flugasche“, Marons Debüt-Roman über die Umweltkatastrophe Bitterfeld in der DDR, dort 1981 nicht erscheinen durfte, denn er handelte auch von beengten Meinungskorridoren. Ja, er beschäftigte sich ganz besonders mit den „Grenzen des Sagbaren“ (SPD-Lars Klingbeil nach dem Rauswurf Sarrazins aus der Partei) unter totalitären Bedingungen.
Links oder rechts. Mehr interessiert nicht. Holzhacken, mit einem schon besorgniserregenden „Nuancenverlust“ (Sloterdijk).
In der FAS rühmt die Rezensentin, die frisch bestallte Leiterin des FAS-Feuilletons Julia Encke, zunächst die mit „Flugasche“ 1981 ins Rampenlicht getretene Autorin als „große deutsche Schriftstellerin“, um sie in der Folge dafür abzufertigen, dass sie nicht ihre politischen Ansichten teilt.
Artur Lanz, so die Rezensentin, „gehört zur besonders schwachen Männersorte, die der Zeitgeist angeblich neuerdings überall hervorbringe“. Angeblich? Hat die Journalistin noch nie von der „Schneeflöckchen-Generation“ besonders im akademischen Milieu gehört, die sich „safe spaces“, also Schutzräume sucht, weil sie sich ständig irgendwelchen Mikroaggressionen ausgesetzt fühlt?
Zum Beispiel Büchern, die ihrem Weltbild widersprechen und demzufolge vom Lehrplan gestrichen werden müssen?
Charlotte Winter im Roman: „Es sind nicht die klügsten und sympathischsten Frauen, die der Zeitgeist gerade nach oben spült, im Gegenteil, es sind zum Teil garstige Weiber, die es wagen, die intelligentesten und klügsten Männer zu beschimpfen…
Sie sagt das in schönster Unschuld während einer Abendgesellschaft im linksliberalen Bürgertum, es gibt Steinbutt, und sie bezieht sich auf Doris Lessing, aber das rettet sie nicht – die garstigen Weiber stehen Schlange, um der Maron eins zu verpassen.
„‚Die Männer sind entmachtet‘, jammert ein Professor“, zitiert die Rezensentin. Um dann „die frauenlosen Führungsetagen des nächsten Unternehmens“ zu beklagen und die gegen Frauen gerichtete „häusliche Gewalt im Nebenhaus“, kurz, sie beklagt, dass Maron nicht den Roman geschrieben hat, der ihr, der Rezensentin, in den Kram passt.
Weshalb sie am Schluss ihrer Rezension meint: „Maron war mal eine große Schriftstellerin…“ Puh!
Aber sie kommt nicht allein. In der gesamten ersten Spalte referiert die Rezensentin die Vorwürfe zweier Journalistinnen der Berliner Zeitung (oh ja, es ist eine Phalanx, die sich Maron in den Weg wirft). Diese befragten sie streng nach dem Verlag „Exil“, in dem Maron jüngst eine Reihe wundervoller Essays und Porträts publizierte. Der Verlag sei von der neurechten Susanne Dagen in Dresden geführt, die in einem Manifest gegen die Schikanen der für rechts befundenen Verlage auf der Buchmesse protestierte.
Sorry, die Argumente sind zunehmend byzantinisch verschlungen und selbstreferentiell und schlucken sich selber, denn sie bestätigen die Einschränkungen, die Maron beklagt.
Warum sie sich nicht von ihr, dieser Susanne Dagen, früher mehrmals als Buchhändlerin des Jahres ausgezeichnet, distanziere? Die heutzutage wohl verblüffende Antwort Marons: „Ich grenze mich grundsätzlich nicht von Freunden ab, nur weil wir vielleicht unterschiedlicher Meinung sind.“
Nun also wurde Monika Maron tatsächlich vom Verlag gefeuert, der sie einst, nachdem sie in der DDR geschasst worden war, aufnahm und druckte.
Der Fischer-Verlag, der noch vor 15 Jahren mein Buch „Wir Deutschen – warum die andern uns gern haben können“ verlegte, ein Plädoyer für einen beschwingten deutschen Patriotismus, und der damit viel Geld verdiente, denn es war ein Bestseller! – er wendet sich nun von einer wundervollen, mit Preisen überhäuften Autorin ab, weil sie sich politisch inkorrekt äußerte.
Dieses Land hat sich geändert. Zum Schlechten.
Ach was, hin zum Katastrophalen!
Dieser Artikel erschien zuerst auf der Internetseite von Matthias Matussek mit vielen hochinteressanten Artikeln und Kommentaren: https://www.matthias-matussek.de/
Wir danken Matthias Matussek für die Veröffentlichungsgenehmigung.
Matthias Matussek
Matthias Matussek, geboren 1954, wollte Missionar oder Bundesliga-Spieler werden. Er schloss einen Kompromiss und wurde Maoist. (Paul Breitner!) Nach dem Abitur trieb er sich ziellos in der Welt herum (Griechenland, Balkanstaaten, Indien). Ein ebenso zielloses Studium (Theaterwissenschaften, Amerikanistik, Komparatistik, Publizistik, Schauspiel) wurde erstaunlicherweise relativ zügig mit einem Zwischendiplom in Anglistik und Germanistik beendet. Danach wechselte er auf die Journalistenschule in München, wo es Zuspruch von erfahrenen Journalisten gab, sowie eine Abmahnung seitens der Schulleitung aufgrund mangelnder Disziplin. Nach Praktika beim Bayrischen Fernsehen und der Münchner tz wechselte er zum Berliner Abend, danach zum TIP. Die Zeit: RAF-Wahnsinn, besetzte Häuser, Herointote.
Als er 1983 zum STERN nach Hamburg wechselte, hatte er das Gefühl, endlich in der Bundesliga angekommen zu sein. Allerdings purzelte ein paar Monate später das gesamte Staresemble des STERN über die gefälschten Hitlertagebücher und war fortan stark abstiegsgefährdet. Dennoch lernte Matussek – gemeinsam mit den großen STERN-Fotografen (Bob Lebeck) – die Kunst der Reportage, die zu einem nicht geringen Teil auf der Kunst besteht, im entscheidenden Moment unverschämt zu sein. Weshalb Disziplinlosigkeit durchaus Teil des Berufes sein kann.
1987 machte ihm der SPIEGEL ein Angebot, das er nicht zurückweisen konnte. Chefredakteure und Ressortleiter gingen und kamen. 1989 konnte er seine theoretischen Kenntnisse des Maoismus nutzbringend anwenden, als er in die kollabierende DDR zog und dort ins Palasthotel. Die Lehre: kein Umweg, den wir nehmen ist unbrauchbar.Schriftsteller Thomas Brussig, der im Palast-Hotel als Etagenkellner arbeitete, und Matussek zur Hauptfigur seines Romans „Wie es leuchtet“ machte, schrieb:“ Für Matthias Matussek hatte ich die meiste Bewunderung. Er schrieb eine glänzende Reportage nach der anderen. Sie lasen sich wie Rezensionen des laufenden Geschehens…Zum Reporter muss man geboren sein – und Matthias Matussek ist es“. (Natürlich hatte er Brussig dafür ganz groß in eine Pizzeria ausgeführt.) Für eine seiner Ost-Reportagen erhielt Matussek 1991 den Kisch-Preis.
Seine Frau lernte Matussek 1990 im Roten Rathaus kennen, wo sie, von Sprachstudien aus Moskau kommend, ein Praktikum absolvierte. Zwei Jahre später zogen sie um nach New York, was damals in etwa gleich weit von Ost- wie West-Berlin lag, also durchaus neutraler Boden war. In New York entstanden nicht nur der gemeinsame Sohn sondern auch ausgedehnte Reportagen und Artikel für amerikanische Zeitungen, sowie Kurzgeschichten und ein Roman. Harold Brodkey nannte Matussek „den besten seiner Generation“.
Zurück in Deutschland zog Matussek kreuz und quer durch die Nation und schrieb eine zweiteilige Bestandsaufnahme der deutschen Einheit, die wiederum für den Kischpreis nominiert wurde. Dann nahm er Stellung im Geschlechterkampf. Mit seinem Buch „Die Vaterlose Gesellschaft“ verärgerte er den Großteil deutscher Frauen und wurde von der Zeitschrift „Emma“ zum „Pascha des Monats“ ernannt. Aus seinem Buch entstand das Spielfilm-Projekt „Väter“ (Regie: Dany Levi), zu dem Matussek das Drehbuch schrieb. Mittlerweile, hat er den Eindruck, hat man ihm beides verziehen.
Im Jahr 1999 trat Matussek die Korrespondentenstelle in Rio de Janeiro an. Er bereiste den Kontinent, erlebte Putschversuche und Katastrophen, recherchierte in Favelas, unter Drogenbanden und unter den Eliten der Länder. Für eine 2-teilige Serie zog er wochenlang durch den Amazonas, und veröffentliche das Ergebnis in Buchform unter dem Titel „Im magischen Dickicht des Regenwaldes“.
Im Jahr 2003 übernahm er die Korrespondentenstelle des SPIEGEL in London, wo er sich ehrenhafte Kämpfe mit der blutrünstigen, Deutschen-hassenden Fleetstreet lieferte, was in seinem Buch „Wir Deutschen – warum uns die anderen gerne haben können“, auf das schönste dokumentiert ist. Das Buch war 13 Wochen lang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, und lieferte den Beleg dafür, dass man patriotische Gefühle nicht den Knallköpfen von rechts überlassen muss.
2003 übernahm er das Kulturressort in der Hamburger Spiegel-Zentrale. Die Presse meinte, dort sei nun „Rock n Roll im Laden“. Gleichzeitig hatte er für den SWR das TV-Format „Matusseks Reisen“ entwickelt und einen wöchentlichen Video-Blog etabliert, der 2007 mit dem Goldenen Prometheus ausgezeichnet wurde. Im gleichen Jahr entstand sein Buch „Als wir jung und schön waren“ (Fischer-Verlag).
Schon 2007 hatte Matussek seine Funktion als Ressortchef wieder abgegeben und widmete sich den Sachen, die er am besten kann: dem Schreiben und der Disziplinlosigkeit. „Matusseks Reisen“ wurde unter dem Titel „Matussek trifft“ noch ein paar Folgen fortgesetzt und fiel dann dem Sparzwang zum Opfer. Seinen wöchentlichen Videoblog betrieb er weiter und publizierte mit „Das Katholische Abenteuer“ eine „Provokation“, die es ebenfalls in die Bestellerliste schaffte.
Nach mehr als 25 Jahren beendete er seine Zeit beim Spiegel und stellte sich als Kolumnist für den Springer-Konzern zur Verfügung, eine Zusammenarbeit, die bereits nach erfüllten und produktiven 17 Monaten beendet wurde.
Fortan arbeitet er als freier Autor für die „Weltwoche“ und den „Focus“ und andere und widmet sich erneut seinen Stärken: dem Schreiben und der Disziplinlosigkeit.
Die Dresdner Chaisenträger: Ein ganz besonderer Berufsstand
Bereits im Altertum ließen sich ägyptische und babylonische Würdenträger in Sänften transportieren. Die Portechaise (frz. = Tragestuhl) kam seit dem 17. Jahrhundert auch in europäischen Städten in Gebrauch, wurde in Paris und Berlin heimisch und gelangte schließlich auch an die Elbe, in die Residenz Augusts des Starken.
„Dresdens ältestes Vehikel für den öffentlichen Nahverkehr“ (Silvia Brand) bestand aus einer mannshohen hölzernen Kabine, die von zwei kräftigen Männern, den Chaisenträgern, an seitwärts angebrachten Holmen getragen wurde. Der Einstieg erfolgte durch eine Vordertür, für etwa nötige Diskretion sorgten Vorhänge an Tür- und Seitenfenstern. Nicht zuletzt muß es beim Zustand damaliger Straßen für den Fahrgast eine Wohltat gewesen sein, aus dem federlosen Kutschwagen in die weitaus bequemere Sänfte zu wechseln.
1705 begründete der Dresdner Senator und Kaufmann Johann Friedrich Landsberger mit zunächst vier Chaisen und acht Trägern eine Sänftenträgeranstalt auf eigene Rechnung, vier Jahre später verrichteten zwanzig Träger mit zehn Portechaisen ihren Dienst. Landsbergers Witwe führte den „Contract“ fort, für 285 Taler vermachten deren Erben das Geschäft schließlich der Elbestadt. So führte seit 1730 ein Stadtrat Aufsicht über die Beschaffenheit von Sänften und Bekleidung der „Ratschaisenträger“, deren Domizil ab 1745 im eigenen Chaisenhaus auf der Südseite des Altmarktes, ausgangs der Schreibergasse sich befand.
Der Volksmund aber reimte:
„Das Geschlecht, das dieses Haus bewohnte, Mächt’ges, Schönes trug’s mit sich herum, So lang‘ noch der Zahn der Zeit es schonte, Unsrer Residenz Paladium.“
Ein Zeitgenosse, Hermann Günter Meynert alias Janus (1808-1895), attestierte den Chaisenträgern ein „roh-pfiffiges Bediententalent“ und rühmte ihre durch Bescheiden- und Verschwiegenheit gegebene Eignung als „Postillons d‘ amour“. Zugleich seien die Chaisenträger „mechanische Tausendkünstler“, die in ihrer auftragsfreien Zeit Mäusefallen, Stiefelknechte und Vogelkäfige anzufertigen wußten und außerdem noch Strümpfe und Socken strickten. Ihr bei Umzügen bewiesenes Geschick war legendär; so soll im neuen Quartier das Salzfaß genau auf jener Stelle des Tisches zu finden gewesen sein, wo es schon in früherer Wohnung Platz gefunden …
1719/20 hatte der Kammerherr Rudolph Gottlob von Seifertitz (1664-1740) die Aufstellung von Chaisen am kurfürstlichen Schloss veranlaßt, trugen nunmehr auch die „Hofchaisenträger“ in gelben Leibröcken Kavaliere und Hofdamen durch die barocke Stadt. Ebenso waren im rechtselbischen Altendresden Sänftenträger in Mode gekommen.
Doch eine neue Zeit brach sich Bahn, auch und gerade im Verkehrswesen. Aufgrund der zunehmenden Konkurrenz durch Pferdedroschken wurde das Chaisentragen in Dresden 1878 eingestellt, das Chaisenhaus im selben Jahre abgebrochen. Doch die seit 1717 bestehende Genossenschaft der Chaisenträger blieb bestehen, vollzog manch technischen Wandel, wechselte vom Tragestuhl zum Lastkraftwagen, vom Frack zur Arbeitskombi. Noch heute firmiert die „Genossenschaft Ratschaisenträger e. G. zu Dresden“ als Spezialtransportbetrieb für Maschinen, Geldschränke, Öfen und Klaviere in 01189 Dresden, Am Eiswurmlager 5.
Die gelbuniformierten Herren aber, die, in Spitzwegscher Manier, dereinst die Dresdner und ihre Gäste durch die Residenz bugsierten, haben ihren Platz in den Annalen längst eingenommen. Als sympathische Erinnerung an ein beschauliches Zeitalter, in dem die städtische Personenbeförderung per pedes, und dabei auch bequem, geräuschlos und umweltschonend, eine schöne Selbstverständlichkeit gewesen war.
Literatur:
Silvia Brand: Dresdener Bilderbuch. Dresden 1888. W. E.: Für fünf Groschen nach Neustadt. Aus der Geschichte der Dresdner Chaisenträger. In: Dresdner Monats-Blätter. Zeitschrift der Freunde Dresdens. 37. Jahrgang, Folge 1, Frankfurt am Main 1986. Janus (d. i. Hermann Günter Meynert): Charaktergemälde von Dresden, grau in grau; für Alle, welche die Elbresidenz bewohnen oder kennen zu lernen wünschen. Pößneck 1833.
Beitragsbild: Gottlob More, Königl. Porte-Chaisenträger in Dresden (1895)
Bert Wawrzinek
Bert Wawrzinek wurde 1959 in Leipzig geboren und lebt heute im Stolpener Land. Im ersten Leben Rockmusiker, betreibt er im 30. Jahr das Historica Antiquariat im Dresdner Barockviertel und ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zu Themen sächsischer Geschichte und Kultur.
Ihre persönliche Geschichte und die Geschichte Ihrer Familie sind auf vielfältige Weise verwoben mit der deutschen bzw. deutsch-deutschen Geschichte. Die politischen Verhältnisse haben zum Teil sehr massiv in Ihre Familie hineingewirkt.
Was wohl mein ganzes Leben durchzogen hat, waren ein starkes Gerechtigkeitsempfinden und patriotische Gefühle, die erwachsen sind aus der Verbundenheit mit meinem Geburtsort Dresden. Diese Haltung hängt zum Teil sicherlich auch mit meiner Familiengeschichte zusammen, aber nicht nur.
Aus welcher Familie kommen Sie?
Ich wurde 1938 in eine Dresdener Anwaltsfamilie hineingeboren. Mein Vater, schon zur Zeit des Dritten Reiches in der Praxis seines Vaters als junger Anwalt tätig, hat sich damals, soweit dies möglich war, den Nationalsozialisten widersetzt. Gott sei Dank wurde er nur einmal für ein paar Tage verhaftet. Meine Mutter stammte aus Bremen, sie war eine sehr impulsive Frau, die kaum ein Blatt vor den Mund nahm, was ihr später zum Verhängnis wurde.
Das Jahr 1953 brachte für Ihre Familie und damit auch für Sie einschneidende Veränderungen.
Im Oktober 1953 wurde zunächst mein Vater und drei Nächte später auch meine Mutter vom DDR-Sicherheitsdienst (SSD) verhaftet. Zuerst wußten wir wochenlang überhaupt nicht, wo meine Eltern waren. Die Anklage stützte sich dann auf mehrere Punkte. Zum einen: angebliche Verbindung zu einer „westlichen Agentenzentrale“ – meine Mutter hatte sich 1949 in West-Berlin beim „Bund freiheitlicher Juristen“ nach den Möglichkeiten erkundigt, im Westen eine Anwaltskanzlei aufzubauen – dort waren offenbar SSD-Spitzel eingeschleust. Zum anderen hatte mein Vater sich dagegen gewehrt, daß alle Anwälte zwangsweise in eine Anwaltsgenossenschaft einverleibt werden sollten. Außerdem wurde meinen Eltern ein Wirtschaftsvergehen vorgeworfen. Es bestand darin, daß sie Lebensmittel, die sie von Verwandten und Freunden aus dem Westen erhalten hatten, gehortet hätten. Und nicht zuletzt hatte meine Mutter am 17. Juni, in der spontanen Freude darüber, daß das DDR-Regime nun zusammenbrechen würde, auf dem Balkon das Deutschlandlied gesungen, und meine Schwester hatte sie auf der Ziehharmonika begleitet.
Im April 1954 wurden meine Eltern zu 3 1/2 und 4 Jahren Zuchthaus verurteilt. Mein Zwillingsbruder und ich flohen im Juli in den Westen, nachdem man uns (zunächst auch meiner Schwester) eröffnet hatte, daß wir als Kinder von Verbrechern nicht mehr die Oberschule besuchen dürften. So kam es quasi zur fünffachen Trennung der Familie: mein Vater in Bautzen, meine Mutter in Halle, meine Schwester im Internat in Dresden, mein Bruder in Holstein und ich in Bremen, Niedersachsen und Westfalen (in verschiedenen Familien und Internaten). Alle vier Wochen durften wir großzügigerweise einen Brief von 20 Zeilen an die Eltern schreiben. Das bedeutete, daß mein Bruder mit 6 1/2 Zeilen anfing und mir seinen Text zusandte, ich schrieb weitere 6 1/2 Zeilen dazu, schickte das Ganze dann nach Dresden zu meiner Schwester, sie schrieb den Brief fertig und schickte ihn ins Gefängnis.
Meine Mutter wurde dort, ebenso wie ihre Mitgefangenen, gezwungen, nachts Nähmaschine zu nähen, und tags durften sie sich kaum hinlegen. Als sie dagegen aufbegehrte, wurde sie in einen Keller gesteckt. Dort fand man sie eines Morgens – und sie konnte nicht mehr sprechen. Sie hatte einen Schlaganfall erlitten, mit 42 Jahren. Dieser wurde ebensowenig richtig behandelt wie die nachfolgende Krebserkrankung. Die wenigen Jahre, die sie dann noch zu leben hatte, blieb sie gelähmt und konnte nie mehr richtig sprechen. Als ich viele Jahre später in den Stasi-Unterlagen zu lesen bekam, was man im Gefängnis mit meinen Eltern, besonders mit meiner Mutter so alles gemacht hatte und wie sie selbst in der Zelle noch von „Mitgefangenen“ ausgehorcht worden waren – ich gebe zu, daß mir da die Tränen gelaufen sind. Ich habe die Akten nicht zu Ende gelesen.
1961 kam dann der Mauerbau und damit eine Verschärfung der deutschen Teilung.
Zu dieser Zeit waren Gott sei Dank meine Eltern bereits im Westen und auch meine Schwester, eine mutige Kämpferin, die doch eigentlich gar nicht hatte weg wollen aus dem Osten. Sie war in der Studentengemeinde in Leipzig sehr aktiv gewesen – der Anfang jener Friedens-, Ökologie- und Kirchenbewegung, die ja dann letztendlich auch die sog. Revolution 1989 mitbewirkt hat.
Ich hatte unterdessen ein Jurastudium angefangen, zunächst in Berlin. In Köln als Werkstudent startete ich nunmehr meine ersten Aktionen. Ich druckte und verteilte Flugblätter, schrieb an Dutzende Zeitungs- und Rundfunkredaktionen und forderte die Menschen auf, sie sollten möglichst viele Briefe und Päckchen nach drüben schicken, um die Verbundenheit aufrecht zu erhalten, so gut es nur geht. In Freiburg, meinem nächsten Studienort, folgte dann beispielsweise die Aktion „Sammeln von Rabattmarken“. Zusammen mit anderen Kommilitonen von der dortigen Studentengemeinde stellten wir in zehn Lebensmittelgeschäften Kästchen für Rabattmarken auf. Mit den von den Kunden gespendeten Rabattmarken kauften wir dann Lebensmittel und schickten sie vor allem an die Studentengemeinde Rostock, aber auch an immer neue gesammelte Adressen in der DDR.
Auch meine juristische Dissertation in Würzburg hatte ein deutsch-deutsches Thema zum Gegenstand: „Die Einheit und Spaltung Deutschlands im Spiegel völkerrechtlicher Verträge von 1941 bis 1967″. Das war eine völkerrechtlich-politische Untersuchung von 80 einschlägigen Urkunden, vor allem die beiden deutschen Teilstaatsprovisorien betreffend, aber auch Fragen wie Vietnam und Korea oder Warschauer Pakt und Nato waren einbezogen. So ist ein Buch von knapp 500 Seiten entstanden.
Mit den Jahren schienen sich die Ost-West-Blöcke und damit die Trennung aber doch zu verfestigen.
Trotzdem habe ich nicht geglaubt, daß man einem Volk auf Dauer das Selbstbestimmungsrecht würde vorenthalten können. Wie eine solche Änderung im einzelnen vor sich gehen könnte, vermochte ich natürlich auch nicht vorherzusagen. Aber ich habe stets – gegen den Spott, die Ignoranz und satte Willfährigkeit westdeutscher Politiker und Journalisten – die These vertreten, daß noch in diesem Jahrhundert der totalitäre Kommunismus zusammenbrechen und der „eiserne Vorhang“ fallen würde. Dabei berief ich mich in meiner Argumentation auf die UN-Charta, die Menschenrechtskonvention und das verfassungsrechtliche Wiedervereinigungsgebot. Überhaupt war mir letzteres Maßstab und Rechtfertigung für alle meine Initiativen – ob mit einem Transparent („Wer schweigt, verrät 17 Millionen“) mutterseelenallein oder in Gemeinschaft mit anderen bei Demonstrationen zum Tag der deutschen Einheit, beim symbolischen Mauerbau, bei Fotoausstellungen in Fußgängerzonen oder bei spontan initiierten Podiumsdiskussionen – zumeist an meinen weiteren Wohnorten Würzburg, Berlin, Frankfurt/ Main, Koblenz und Emmelshausen. Trotz vieler Hindernisse, Anfeindungen und Verdächtigungen gelang es mir immer wieder, engagierte Bürger zu gewinnen und mein Anliegen mit demokratischen Mitteln zu verbreiten: sei es mit Autoaufklebern (der „D“-Aufkleber mit dem Spruch „Deutschland ist größer als die Bundesrepublik“ stammt ursprünglich von mir), sei es mit der Gründung einer ökologisch-heimatverbunden orientierten Wählergruppe und eines unabhängigen und überparteilichen Diskussionszirkels namens „Forum res publica, Gesprächskreis für Staat und Volk“, sei es bei Herbert Gruhls ÖDP oder, in deren Anfangsphase, bei den Grünen, zu deren Gründungsmitgliedern ich gehöre. Was immer ich in Aufsätzen, Vorträgen und Presseartikeln an Beiträgen geleistet habe – mein Ziel war es, den Zusammenhalt der Deutschen so lange wie möglich zu erhalten, bis die politische Lage es irgendwann erlauben würde, die Wiedervereinigung zu verwirklichen.
1989/90 war es ja dann tatsächlich so weit – und die Ereignisse blieben für Sie nicht ohne Folgen.
Erst einmal war ich natürlich überglücklich. Ich organisierte ein großes Fest mit Freunden. Dann brachte ich drei neue Aufkleber heraus mit der aus dem Osten – und letztlich aus der Nationalhymne der DDR – übernommenen Parole „Deutschland einig Vaterland“. Die hab ich dann in Fußgängerzonen verkauft, neben mir ein Plakat mit dem bekannten Schiller-Wort „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr“. Einige hab ich auch einzeln verschickt oder an Reisebusfahrer von „drüben“ verschenkt, insgesamt wurden mehr als 20.000 Stück gedruckt.
Und dann kam die Überlegung auf, im Wege der dienstlichen Abordnung für einige Zeit als Richter nach Dresden zurückzugehen und beim Justizaufbau in Sachsen zu helfen. So kehrte ich 1994 tatsächlich in meine Heimatstadt zurück und arbeitete 2 1/2 Jahre am dortigen Oberlandesgericht. Das hat mir viele interessante Begegnungen und wertvolle Aspekte eröffnet. Eigentlich wäre ich gerne auch für ganz dort geblieben, aber die sächsische Haushaltslage ließ bei meinem Alter eine Versetzung nicht zu. Wie schätzen Sie aus Ihrer Erfahrung das deutsch-deutsche Verhältnis heute ein? Es ist komplizierter als ich es je vermutet habe. Die 45jährige gegenläufige Erziehung und Prägung des Denkens haben ihre Spuren hinterlassen. Langsam gewinnt aber auch – wie schon lange im Westen – das Materielle an Priorität. Zugleich wurden Vorurteile bestätigt oder entwickeln sich sogar erst, auf beiden Seiten.
Anfangs hatte ich das Gefühl, daß man als Wessi sehr erwünscht war – für meine Begriffe fast zu viel Respekt kam einem da entgegen. Das hat sich aber dann im Laufe der Zeit gewandelt, als die Leute merkten, daß es unter den Wessis, die da rübergekommen waren, auch miese Typen gab, die andere über den Tisch ziehen wollten, ob das nun im Versicherungs- oder beispielsweise im Baugewerbe war. Ich habe das auch als Richter in vielen Prozessen erlebt. Da entstand schon manche Bitternis. Rückblickend habe ich tatsächlich den Eindruck. daß im Vergleich zu 1989/90 der innere Zusammenhalt nachgelassen hat. Die Jugend nimmt das etwas lockerer und kommt wohl im großen und ganzen mit den westdeutschen Altersgenossen ganz gut zusammen. Aber die Älteren sind doch zunehmend reserviert, weil sie das Gefühl haben, daß zwischen Ost- und Westbundesländern eine Art Zweiklassengesellschaft entstanden ist, und weil sie nostalgisch übersehen, wie unsozial der DDR-Unrechtsstaat im Grunde gewesen ist, indem er fast alles hat verkommen lassen: Straßen, Bahnhöfe, Krankenhäuser, Schulen usw.
Für mich bleibt die Verwirklichung der deutschen Einheit also auch weiterhin eine Aufgabe. Es geht darum, eine geistige und patriotische Verbundenheit der Deutschen zu fördern, wie sie (auch im zusammenwachsenden Europa!) bei anderen Völkern ganz normal ist und bleibt – nicht mit einem übertriebenen Nationalstolz, aber mit einem gesunden Selbstbewußtsein ausgestattet. Diese innere geistige Klammer ist ein unschätzbarer Wert für die Entwicklung des einzelnen wie für den Gemeinsinn und den Bestand der Demokratie. Ich denke, zur Wiederherstellung der deutschen Einheit gehört auch Vaterlandsliebe. Das ist nichts Altmodisches oder Überholtes, im Gegenteil, es ist die einzige Chance, die seelenlose Konsumgesellschaft mit all ihrer Einsamkeit und ihren Auswüchsen zu überwinden. Denn gerade in unserer zunehmend anonym-technisierten Welt sucht der Mensch – auch wenn er es mitunter leugnet – nach Geborgenheit. Und diese bietet ihm nicht nur der Lebenspartner und die Familie, sondern auch das Verbundensein mit Kultur, Heimat, mit Abstammung, Natur, Sprache, Geschichte und Tradition. Ich bin davon überzeugt: Wer diese Werte fördert, ist nicht vergangenheitsbezogen reaktionär, sondern gewinnt die Zukunft.
Das gilt für das deutsche Volk ebenso wie für alle anderen Völker – und damit für die Völkergemeinschaft.
Dr. Albrecht Giese
Dr. Albrecht Giese setzte sich nach seiner (durch die Verhaftung seiner Eltern und Schulausschluß in der DDR bedingten Flucht – siehe Interview) Zeit seines (erwachsenen) Lebens mit verschiedensten Aktionen, oft völlig allein, für die GG-Präambel-Forderung einer Wiederherstellung der deutschen Einheit ein. Ob mit Plakaten vor dem Bonner Hbf oder am Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald („Wer schweigt, verrät 17 Millionen“), ob mit regelmäßigen Kontaktaufnahmen zu allen deutschen Medien, Brief- und Paketinitiativen Richtung DDR, Werbung für demokratische nationalkonservative Zeitschriften, Straßen-Interviews und Info-Tischen z.B. aus Erinnerung an den 13.8.1961 in Freiburg, Düsseldorf, Mainz und Koblenz, Vorträgen, Publikationen und allein initiierter Veranstaltungen überparteilicher Gesprächskreise. Neben diesen gründete er einen Kreisverband der GRÜNEN (aus denen er wegen der rot- ideologischen Ausrichtung wieder austrat) und eine mit 23 % in den Stadtrat seiner Heimatgemeinde einziehende FREIE WÄHLER-GRUPPE.
Seine öffentlichen Vorträge u.a. in Dresden, wohin er nach der Wiedervereinigung als Richter am Oberlandesgericht von Koblenz für einige Jahre abgeordnet worden war, beschäftigten sich häufig mit dem Thema seiner 500-seitigen Dissertaion „Die Einheit und Spaltung Deutschlands im Spiegel völkerrechtlicher Verträge von 1941 bis 1967“ und den Grundsätzen unserer Verfassung und ihren Verletzungen seitens der Medien und der Politik.
Auch heute im hohen Alter wird Dr. Giese nicht müde, sich politisch zu äußern und für redliche Streitkultur und demokratische Prinzipien einzutreten, ob durch Leserbriefe, Redebeiträge bei Versammlungen aller Parteien oder durch Kritik und Anfragen an staatliche Institutionen und Unterstützung national-konservativ-demokratischer Politiker.
Das Beitragsbild ist ein Ausschnitt aus dem Mittelteil des Triptychons „Die Öffnung der Berliner Mauer“ von Prof. Matthias Koeppel. Matthias Koeppel beschreibt sein Werk in der Jubiläumsausgaber der Zeitschrift wir selbst „10 Jahre – wir sind ein Volk!“ (Ausgabe 3/1999). Hier kann diese Ausgabe bestellt werden.
Aus dem Inhalt: National ist revolutionär von Henning Eichberg Wie weit verbindet die Deutschen die gemeinsame Nation? von Richard Schröder Mauer-Öffnung – und heute? Stellungnahmen von Herbert Ammon, Poul Engberg, Gertrud Höhler, Matthias Koeppel, Reiner Kunze, Freya Klier, Lennart Meri (Staatspräsident der Republik Estland), Johann Scheringer (PDS-Fraktionsvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern), Baldur Springmann, Rolf Stolz und vielen anderen Der Anstoß kam aus dem Osten von Peter Joachim Lapp 1989 und die Lehren von Detlef Kühn Kennen Sie den? Deutsch-Deutsches im Witz von Ernst Elitz
Die Präambel unseres Grundgesetzes benennt „das deutsche Volk“ als seinen Autor: es habe sich „diese Verfassung gegeben.“ Das Volk war die Henne und das Grundgesetz ihr Ei.
Aus diesem Ei schlüpfte ein Küken, das über 70 Jahre lang über die Freiheit der Personen wachte. Deren Menschenwürde zu schützen gab sie dem Staat als oberste Verpflichtung auf.
Politische Kräfte, auch bereits Juristen, möchten das Grundgesetz jetzt umfunktionieren und zu einem Vogel machen, der seine eigene Mutter und Autorin verschlingt: das deutsche Volk. Vorläufig wird allerdings noch nicht gefressen, aber von ganz oben scharf beobachtet.
Objekt des staatlichen Argwohns sind sogenannte Identitäre. Das Verwaltungsgericht Berlin hat deren Antrag am 18. Juni 2020 vorläufig abgelehnt, nicht mehr vom Verfassungsschutz beobachtet zu werden. Der Beschluß ist noch nicht rechtskräftig und liegt dem Oberverwaltungsgericht vor.
Für verfassungsfeindlich hält das Gericht die identitäre Sorge um unsere Identität als Volk:
„Zentrales politisches Anliegen des Antragstellers ist der Erhalt des deutschen Volkes in seinem ethnischen Bestand.“
Weil niemand auf Anhieb verstehen würde, was daran verdächtig sein könnte, erklärt uns das Gericht es näher. Es behauptet: „Ethnisch Fremde sollen ausgeschlossen bleiben. Ein dergestalt völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff verstößt gegen die Menschenwürde.“
Es geht also um unterschiedliche Volksbegriffe.
Rechtliches und ethnisches Volk
Das Grundgesetz selbst nimmt in Art. 116 Absatz 1 die Unterscheidung zwischen deutschen Staatsangehörigen und deutschen Volkszugehörigen vor: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist vorbehaltlich anderweitiger gesetzlicher Regelung, wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.“
Man kann also dem deutschen Volk angehören, ohne deutscher Staatsangehöriger zu sein. Man kann auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, ohne zwangsläufig deutscher Volkszugehörigkeit zu sein. Im Rahmen unserer Staatsverfassung mußte das Gesetz eine solche Unterscheidung treffen, um das Faktische vom rechtlichen zu trennen. An sie knüpft an, daß zum Beispiel einen Einbürgerungsanspruch hat, wer schon im Ausland als Deutscher gelebt hatte.
Sowohl das Grundgesetz als auch einfache Gesetze unterscheiden säuberlich zwischen deutscher Volkszugehörigkeit und deutscher Staatsangehörigkeit. Es behandelt die in ihrer Menschenwürde moralisch gleichen Menschen rechtlich ungleich.
Das VG Berlin sieht darin eine Diskriminierung, wenn es „rassisch motiviert“ sei,
denn die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG umfaßt die prinzipielle Gleichheit aller Menschen, ungeachtet aller tatsächlich bestehenden Unterschiede. Sie wird beeinträchtigt bei allen Formen rassisch motivierter Diskriminierung sowie wenn einzelne Personen oder Personengruppen grundsätzlich wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden.
Daß der Betätigung des Antragstellers ein ethnisches Volksverständnis zugrunde liegt, zeigt seine zentrale Forderung nach dem Erhalt der ethnokulturellen Identität. Der Hintergrund dieser Forderung wird auf der Internetseite des Antragstellers erläutert dahingehend, dass das Staatsvolk – als Kultur-, Abstammungs- und Solidargemeinschaft – nicht beliebig austauschbar, sondern durch eine ethnokulturelle Kontinuität bedingt sei.
VG Berlin, Beschluß vom 18.6.2020, S.6.
Nun findet sich im mitgeteilten Sachverhalt des Gerichtsbeschlusses kein Wort dazu, Identitäre wollten jemanden rassisch diskriminieren. Den Vorwurf scheinen der Verfassungsschutz oder das Gericht frei erfunden zu haben. Es zieht darum eine eigene Schlußfolgerung an den Haaren herbei: „Erwünscht ist eine wie auch immer geartete Zuwanderung aber nicht, insbesondere wird wiederum deutlich, daß die Politik des Antragstellers auf den Erhalt der ethnischen „Reinheit“ letztlich aller Völker gerichtet ist.“
Woran das angeblich „deutlich“ werde, erfährt der Leser nicht. Würden Identitäre tatsächlich eine rassische Diskriminierung deutscher Staatsbürger fordern, zum Beispiel anhand eines Maßstabes rassischer Reinheit, hätte das Gericht ja Recht. Wenn man aber, wie ich, die identitären Quellen nicht kennt, ist man auf den im Beschluß des Gerichts mitgeteilten Sachverhalt angewiesen, in dem da nichts von steht.
Die kollektive Identität
Tatsächlich ergreift das Gericht hier Partei in einer gesellschaftspolitischen Diskussion über unsere kollektive Identität. Den Verteidigern unserer Identität als Deutsche steht ein extremistischer Multikulturalismus gegenüber.
Zur Menschenwürde zählt auch das Recht der Individuen, eine kollektive Identität zu entwickeln. Diese darf der Staat nicht hoheitlich unterdrücken. Diese kollektive Identität hat viele Quellen und viele Funktionen.
Zu den Quellen gehören die ethnischen Merkmale gemeinsamer Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur oder des gemeinsamen Schicksals. Dabei bilden übereinstimmende Vorstellungen von gutem Zusammenleben ein wichtiges kulturelles Merkmal. So war es eine gemeinsame kulturelle Leistung des deutschen Volkes, sich ein Grundgesetz zu geben, das die Rechte der Person so umfassend schützt und demokratisch gefällte Mehrheitsentscheidungen friedlich zu akzeptieren.
Ohne eine gewisse Abgrenzung nach innen und außen kann es keine Selbstbehauptung des kulturell Eigenen geben. Ein Volk würde im Wind der Geschichte verwehen und vergehen.
Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio auf der Frankfurter Buchmesse 2018, Heike Huslage-Koch (gemeinfrei: Wikimedia Commons)
Das „moderne Verständnis von Nation“ trägt „in sich die Idee kultureller Selbstbehauptung einer sich abgrenzenden Gruppe. Rings um Sprache und erlebtes, historisch erinnertes Schicksal, rings um gemeinsame Werte und Sitten, rings um einen Kanon der Weltinterpretation, von Würde, Anstand und Alltagsvernunft wächst die Idee der Nation. Jede Nation ist auch eine bloß geistige Konstruktion, eine paradoxe Erfindung von sich selbst, in Bildern, Fahnen, Hymnen und großen Erzählungen zum Gegenstand gemacht und sich in dieser Spiegelung selbst erst erschaffend,“
Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.187.
formulierte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio.
Bekanntlich gibt es global viele andere ethnisch-kulturelle Modelle, die mit unserem Menschenrechtsverständnis unvereinbar wären, weil sie dem Kollektiv oder einer religiösen Doktrin grundsätzlich den Vorrang vor den Rechten der Person einräumen. In eine Demokratie läßt sich aber nur integrieren, wer bereit ist, als Abstimmungsminderheit den inneren Frieden zu wahren. Wer unsere Töchter unbedingt unter Kopftücher zwingen will und so ihre Menschenwürde mißachtet, hat ein prinzipiell anderes ethnokulturelles Vorverständnis als wir: Er weist, verglichen mit uns, entscheidende Merkmale der ethnokulturellen Gleichheit nicht auf. Viele lassen sich integrieren. Integration ist nicht nur eine indviduelle Aufgabe, sondern kraft Gesetzesauftrags im Aufenthaltsgesetz auch eine staatliche.
Um die Integration zu fördern, darf das Recht
„eine bestimmte Form der kollektiven Identität vorschreiben und so Ziele der System- und Sozialintegration vorgeben. Dies macht das Recht etwa durch die in den Grund- und Menschenrechten zum Ausdruck kommenden Werte, die grundlegenden Verfassungsprinzipien wie das Demokratie-, Sozial- oder Rechtsstaatsprinzip oder die im Staatsangehörig-keitsrecht enthaltenen Regelungen über die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft.“
Eichenhofer, Johannes u.a., Mehr Integration und Teilhabe, Gutachten, Hrg. Dietmar Molthagen für die Friedrich-Ebert-Stiftung, 2017, S.3.
Damit hat der hier für die SPD arbeitende Verfassungsrechtler Eichenhofer zugleich die multiple Funktionalität unserer kollektiven Identität („Ziele“) beschrieben. Daß unser Gesetz „bestimmte Formen der kollektiven Identität vorschreiben“ darf und dies mit den Mitteln des Staatsangehörigkeitsrechts in die Tat umsetzt, verkennt völlig, wer in begründeten Sorgen um unsere „ethnokulturelle Identität“ ein verfassungsfeindliches Verhalten sieht, das der Verfassungsschutz beobachten dürfe.
“Der Einwand, eine kollektive Kulturprägung sei im Gegensatz zu konkreter individueller Grundrechtsbetroffenheit nicht auszumachen, ist unzutreffend. Die kollektive Erscheinungsform wird notwendigerweise anders zum Ausdruck gebracht, nämlich in der Rechtsstruktur und ihrem Gewährleistungsrahmen, nicht der vereinzelten Grundrechtsnorm, sondern dem System. Es gilt als Allgemeinplatz der Ethnizitätsforschung, daß partikulare Rechtsnormen im Gegensatz zum Glauben an ihren besonderen Gehalt keine fundamental anderen Werte formulieren als in anderen Staaten. Genau hier liegt der entscheidende Punkt: Denn ebenso anerkannt ist, daß die Normen gleichwohl an partikularen Ideen über die Lebensweise orientiert sind, die sich aus gemeinsam gelebten kulturellen Formen ableiten läßt (Sprache, Geschichte, Wirtschaftssystem).”
Ferdinand Weber, Staatsangehörigkeit und Status, 2018, S.409.
Während sich die Merkmale des ethnisch-kulturellen Volksbegriffs also keineswegs auf eine gemeinsame Abstammung reduzieren lassen, sondern viel umfassender und komplexer sind, möchte das VG Berlin ihn allein so verstehen:
Daraus, daß seiner Betätigung ein völkisch-abstammungsmäßiger Volksbegriff zugrunde liegt, macht der Antragsteller auch in seiner Antragsschrift keinen Hehl,
VG Berlin B.v.18.6.2020, S.7
Ob das auf die Identitären so zutrifft, läßt sich wiederum am Beschluß des Gerichts nicht ablesen. weil dieser keine Textstellen oder Belege dafür zitiert. Sollten die Identitären tatsächlich aus der nur ethnisch verstandenen deutschen Volkszugehörigkeit ableiten, Deutsche fremder Abstammung rechtlich schlechter zu stellen als andere, wäre das grundgesetzwidrig. Vor dem Gesetz kann nur die rechtliche Staatsangehörigkeit gelten. Grob und für jedermann nachlesbar falsch behauptet aber dann das Verwaltungsgericht:
Das Grundgesetz kennt einen ausschließlich an ethnischen Kategorien orientierten Begriff des Volkes nicht.
Oben hatten wir Johannes Eichendorfer zitiert, der die kollektive Identität für „Ziele der System- und Sozialintegration“ für erforderlich hält. Integration in unsere sozialen Systeme bringt es mit sich, daß ein Eingebürgerter bereit sein muß, mit uns solidarisch zu sein und umgekehrt. Der Staat kann nicht sinnvoll nur als unpersönliche Verteilungsanstalt materieller Güter verstanden werden, sonst würde er keine Opferbereitschaft wecken. Er muß darum, schreibt der Kölner Verfassungsrechtler Otto Depenheuer,
„als personenbezogenes Gebilde gedacht werden, dessen Substrat nur das Volk sein kann. Tatsächlich liegt im Begriff des Volkes der Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach dem materiellen Grund der staatsbürgerlichen Solidarität. Diese findet ihre Grundlage in der substantiell durch Volkszugehörigkeit, rechtlich durch Staatsangehörigkeit vermittelten Gemeinsamkeit der Staatsbürger.“
Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2016, S.324.
Wenn uns Opferbereitschaft abverlangt wird, kommt es für die Legitimität und Akzeptanz entscheidend auf das wechselseitige Gefühl der Verbundenheit an. Wer uns im Stillen haßt und ablehnt, wer uns für Ungläubige oder Verworfene hält oder auch nur für eine beliebige Party, die man danach wieder verläßt und weiterzieht, wird diese Solidarität nicht aufbringen.
Das Staatsangehörigkeitsrecht und die faktische Regierungsmacht, Massen von Ausländern unkontrolliert nach Deutschland einwandern zu lassen, geben dem Staat faktische Instrumente in die Hand,
„die solidarischen Grundlagen“ seiner eigenen Existenz zu „verändern – etwa durch die politische Entscheidung, ein Einwanderungsland zu werden. Dadurch würde die national geprägte Homogenität auf Dauer untergraben und mit ihr die durch sie vermittelte Solidarität.“
Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2016, S.347.
In welchem Umfang unser Recht jeweils weitergehende Homogenität durch Integration vorschreibt oder Heterogenität durch Zuwanderungen zuläßt, sollte eine Frage demokratischer Mehrheitsentscheidung sein. Insbesondere die Massenzuwanderungen 2015 waren reine Regierungsentscheidungen. Die demokratische Legitimation für solche Entscheidungen ist dünn. Das Volk wird in Deutschland nicht unmittelbar nach seiner Meinung gefragt. Ihm wird wiederum durch die öffentlich-rechtlichen Massenmedien wie dem Fernsehen Tag für Tag erzählt, was es fühlen und denken möge: humanitär und nicht primär gesetzlich. Vor allem soll es sich selbst vergessen und nur noch als Konsumenten oder Kosmopoliten von sich denken.
Die Deutschen werden medial stets bei guter Laune gehalten, obwohl sie sich demographisch von Generaton zu Generation nahezu halbieren. Lücken entstehen freilich nicht, im Gegenteil. Unsere Regierung sorgt in ihrer Weisheit stets dafür, daß sie durch tatkräftige junge Männer aus Übersee gefüllt werden. Diese Ersetzungsmigration und Entnationalisierung untergraben aber die Grundlagen unserer auf solidarischem Zusammenhalt beruhenden Demokratie und unserer Sozialsysteme.
Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT
Autor der Bücher:
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Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Hier erhältlich!
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Im Oktober 2020 erscheint ein neues Werk von Klaus Kunze: Die solidarische Nation. Wie Soziales und Nationales ineinandergreifen. Gebundene Ausgabe, ca. 240 Seiten, Preis: 19,80 Euro (Vorbestellungen bitte beim Lindenbaum Verlag per E-Brief: lindenbaum-verlag@web.de)
Warum wir eine rechte Sportpolitik und Körperkultur brauchen.
Sport statt „Body Positivity“
Die Amerikanisierung der Deutschen ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten stetig vorangeschritten. Ein Indikator dafür ist bereits das Bild, das sich einem in der Öffentlichkeit bietet: Die Anzahl an übergewichtigen Menschen, gerade auch übergewichtigen Kindern und Jugendlichen, ist deutlich angestiegen. Übergewicht ist dabei oftmals ein Phänomen nicht von Wohlstand, wie es früher einmal der Fall war und wie es in Entwicklungsländern assoziiert wird, sondern eines gerade auch der unteren sozialen Schichten: In Industriestaaten wie Deutschland, wo absolute Armut à la Afrika so gut wie nicht existent ist und wo man es, nach dem sogenannten Fahrstuhleffekt ab Mitte des 20. Jahrhunderts, eher mit relativer Armut zu tun hat, zeugt starkes Übergewicht oft eher von einem ungesunden, weil unreflektierten und teils undisziplinierten Lebens- und Ernährungsstil. Viel Fast Food, wenig sportliche Betätigung – beide Elemente sind in bestimmten Milieus nicht selten vorzufinden.
Die Ursache dieser Mischung liegt oftmals in fehlender Selbstdisziplin. Diese fällt jedoch nicht vom Himmel, sondern ist – wie so ziemlich jede Charaktereigenschaft, die nicht genetisch oder in sonstiger Weise biologisch determiniert ist – durch Sozialisation begründet. Familiäre Sozialisation, die fehlende Selbstdisziplin herausbildet, kann etwa aus Vernachlässigung oder einem zu permissiven Erziehungsstil resultieren. Wenn von elterlicher Seite aus die Vorbildwirkung fehlt und Regeln nicht mit ausreichender Konsequenz durchgesetzt oder vorgelebt werden, so öffnet dies Tür und Tor für Biografien, in denen es in ganz verschiedenen Bereichen an Motivation und Ambition fehlt – abseits der Körperlichkeit oft auch im beruflichen Feld, wo sich Jugendliche zuweilen in realitätsferne Berufswünsche der Unterhaltungsindustrie flüchten, weil für realistischere Karrieren die Ambitionen fehlen.
Individualisierung und Instagram-Narzissmus
Doch nicht nur die familiäre Sozialisation spielt bei dieser Problematik eine Rolle: Die Familie ist zwar die „primäre Sozialisationsinstanz“, aber nicht die einzige. Neben der Mikro- und der Meso-Ebene gibt es immer auch noch die Makro-Ebene – will heißen: Die Gesellschaft. Auch die Gesellschaft als Ganzes sozialisiert, und zwar im Zuge von Normen, Werten und Institutionen, die eine Gesellschaft dominieren und prägen. Eine der wesentlichsten Säulen der sogenannten westlichen Gesellschaften – und zu einer solchen wurde auch die deutsche nach 1945 transformiert – ist der seit Jahrzehnten stetig angewachsene Individualismus. Der Wert der Individualität wird in der moralistisch-linksliberalen Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts hochgehalten wie zuvor nie: Das Individuum genießt absolute Narrenfreiheit. Was „individuell“ ist, ist zunächst einmal positiv – egal wie absurd, wie schädlich, wie unfreiwillig komisch oder sogar wie krank es manchmal sein mag.
Einer der wesentlichsten Faktoren, die diese ganz ohne jede Polemik als dekadent zu beschreibende Entwicklung forcieren, ist der der sozialen Netzwerke – und hierbei speziell die derzeit „angesagten“. Während vor wenigen Jahren noch Facebook die Welt der sozialen Netzwerke dominierte, sind es heute YouTube und vor allem Instagram. Mit anderen Worten: Jene sozialen Netzwerke, in denen es weniger um inhaltliche, textliche Selbstdarstellung geht, sondern eher um optische – mit Fotos oder Videos. Neoliberal-materialistische Konsumgesellschaften tendieren in zunehmender Form zur Oberflächlichkeit.
Da derlei Gesellschaften aber auch vom Marktprinzip geprägt werden, müssen die Entwicklungen der Masse in ihren Werten Berücksichtigung finden: Wo Übergewicht und Essstörungen zunehmend zur Normalität werden, sind gesunde Körperbilder zunehmend „out“ bzw. verkörpern an sich schon wieder latente Mikroaggressionen gegenüber all jenen, die „anders“ sind. Also muss, aus dieser Logik heraus, das „individuelle“ Anderssein zur allgemeinen Normalität transformiert werden.
Der Wert der Individualität wird in der moralistisch-linksliberalen Bundesrepublik des 21. Jahrhunderts hochgehalten wie zuvor nie: Das Individuum genießt absolute Narrenfreiheit. Was „individuell“ ist, ist zunächst einmal positiv – egal wie absurd, wie schädlich, wie unfreiwillig komisch oder sogar wie krank es manchmal sein mag.
Das Schlagwort von der #Bodypositivity
Derlei Sozialingenieur-Projekte werden, wie wir wissen, inzwischen am besten über Framing bestimmter Begriffe in Angriff genommen, was insbesondere auf sozialen Netzwerken über das Instrument des Hashtags funktioniert: Indem unter thematisch passenden Posts entsprechende Hashtags gesetzt und stetig wiederholt werden, prägen sie sich beim Rezipienten ein und werden dadurch zu Mottos, zu Slogans, zu Schlagworten, zu Kerninhalten teils ganzer globaler Internet-Bewegungen (man denke etwa an #metoo oder #blacklivesmatter). In diesem Fall wäre etwa das Schlagwort der #BodyPositivity so ein Begriff aus der Giftküche des Radikalindividualismus. Dessen Botschaft lautet: „Ich bin zufrieden mit meinem Körper, habe eine positive Einstellung zu ihm, so wie er ist, egal was irgendwer anders darüber denkt.“
Das bringt überall dort, wo jemand in einem ungesunden körperlichen Zustand lebt, der aber grundsätzlich, mit entsprechendem Willen, hin zu einer gesünderen Form veränderbar wäre, teils massive Folgeprobleme mit sich. Denn wo dem Teenager mit starkem Übergewicht über Instagram eine „Body Positivity“ eingeredet wird, wo Menschen zunehmend den Individualismus als praktisches Wertegerüst zur Legitimierung der eigenen Bequemlichkeit aufgreifen, da schwindet auch der letzte Wille, sich mental und körperlich weiterzuentwickeln und, darauf basierend, gesund zu leben. Die Folgen schließlich belasten – spätestens langfristig – nicht nur die Betroffenen selbst, sondern irgendwann auch die Krankenkassen und damit auch andere Beitragszahler. Allein diese Entwicklung macht deren politische Problematisierung mittlerweile legitim und notwendig.
Es muß Aufgabe gerade konservativer Akteure sein, diesen postmodernen Auswüchsen dekadenter Spaßgesellschaftsstrukturen entgegenzutreten und aktiv ein anderes Körperbild dagegen zu setzen – und zwar das Ideal eines (im Rahmen des Möglichen) gesunden Körpers. Im Gegensatz zum erwartbaren linken Gegenargument, daß derlei zur Ausgrenzung aller führe, die nicht gesund sind, wäre dies eine völlig legitime politische Akzentsetzung. Denn: Gesundheit als Ideal zu setzen bedeutet nicht, Kranke auszugrenzen, sondern nur, eigentlich Selbstverständliches zu postulieren. Krank sein will schließlich niemand – auch Kranke nicht. Im Gegenteil ist es gerade aus Sicht vieler, die an chronischen Krankheiten oder Behinderungen leiden, geboten, ungesund lebenden Menschen den Wert eines gesunden Körpers wieder näher zu bringen: Wer beispielsweise auf einen Rollstuhl angewiesen ist, hält es tendenziell für unverzeihlich, wenn „eigentlich“ gesunde, übergewichtige Fußgänger für ein Stockwerk den Fahrstuhl benutzen, anstatt in Wertschätzung der eigenen Gesundheit die Treppe zu benutzen.
Ein Weg dahin besteht darin, dem Sport wieder zu einer edukativen Funktion für unsere Gesellschaft zu verhelfen. Immer mehr wurde er in den letzten Jahren und Jahrzehnten selbst in eine Ecke abgeschoben, in der es primär um Massenunterhaltung und Konsum und – in zunehmender Form – auch um subtile politische Diversitätsbotschaften geht. Er spiegelt dabei in sehr verschiedenen Hinsichten nahezu in Gänze den Zustand unserer Gesellschaft wieder.
Globalisitsche Politisierung des Fußballspiels: nur kein Repräsentieren unserer kollektiven Identität
Multikulturelle Universalisierung des Sports
Im Fußball etwa ist nicht erst über die Entfernung des Zusatzes „National“ aus der „Mannschaft“ die globalistische Politisierung eingeleitet worden: Lange vorher schon waren Fußballspiele eher multikulturelle Zusammenkünfte von Multimillionären, die heute hier, morgen da vertraglich verpflichtet sind – die schwarz-rot-goldenen Fähnchen bei Meisterschaften spielen vornehmlich die Rolle eines Label-Logos, nicht aber mehr die einer Nationalflagge, die eine politische Entität und damit eine kollektive Identität repräsentiert. Nicht viel anders sieht es anderen medial übertragenen, massenkompatiblen Profisportarten aus. Hier gilt es von politischer Seite ein neues Identitätsbewußtsein entgegenzusetzen und einzufordern.
Ähnliches gilt auch für die eigentlich ur-europäischen, für unsere kontinentale Identität ehemals unverzichtbaren Olympischen Spiele, zu denen der verstorbene nationalrevolutionäre Vordenker und Professor für Sportsoziologie Henning Eichberg 1978 im Rahmen des Bandes „Nationale Identität“ einen wichtigen Aufsatz mit dem Titel „Kritik des Olympischen Universalismus“ veröffentlicht hat. Kernthese des Beitrages ist, daß die – modernen – Olympischen Spiele mit (globalistischem) Universalismus ausgestattet und dadurch ihrer eigentlichen kulturellen Identität – also der europäischen – beraubt wurden. Am Beispiel der Olympiade zeigt Eichberg, wie Universalismus stets mit Imperialismus in Zusammenhang steht – der Niedergang der antiken (eigentlich rein griechischen) Olympiade war erreicht, als der Imperialismus der Römer die Olympischen Spiele übernahm.
Eichberg verbindet diese Lektion mit der berechtigten Werbung für eine Rückkehr zu einer spezifisch europäischen Olympiade, die sich dadurch nicht mehr anmaßt, mehr zu sein, als sie ist, und sich durch gerade diese Selbstbeschränkung selbst wiederfindet, anknüpfend „an die Traditionen europäischen Wettkampfgeistes, an die Hochschätzung körperlicher Leistung, an die Wertschätzung des Siegers als einer durch Leistung ausgezeichneten Person. Olympia bedeutete und bedeutet eine spezifisch europäische Einstellung zur Welt, einen Ausdruck europäischen Heidentums“ (S. 96). Ein sich seiner selbst bewußtes, neuheidnisches Europa könne und solle laut Eichberg dorthin zurückfinden. Eine Erkenntnis, die es wert ist, heute wieder von rechter Seite Beachtung zu finden – was gleichwohl nicht bedeutet, daß man sich als Deutschland nun sofort jeglicher Teilnahme an den universalistisch-globalistischen Olympischen Spielen entziehen sollte.
Die Rolle von Sportvereinen und Sportunterricht
In lokalen Sportvereinen zeigen sich allzu häufig auch die weniger glamourösen Seiten der multikulturellen Gesellschaft: Migrantisch geprägte Jugendgruppen dominieren viele Vereine; es kommt zuweilen zu Gewaltausbrüchen. Die oft gepriesene integrative Funktion von Sportvereinen ist in allzu vielen Fällen nicht mehr zu spüren. Ein Feld, in dem insbesondere konservative Kommunalpolitiker gefragt sind – und auch durchaus über Gestaltungsmöglichkeiten und politische Druckmittel verfügen. Vereine sind schließlich auf kommunale Strukturen angewiesen, was der Kommune wiederum einen Gestaltungsspielraum ermöglicht bei der Frage, wie mit derlei Erscheinungen der multikulturellen Stadtgesellschaften umgegangen wird.
Auch der Sportunterricht ist weitläufig optimierbar. Abseits der Tatsache, daß Schwimmunterricht für Kinder heute alles andere als selbstverständlich ist – entweder, weil keine Bäder zur Verfügung stehen, oder gar wegen eigentlich untragbarer religiöser Ausnahmeregelungen für muslimische Schülerinnen –, ist der Sportunterricht schon seit langem auf eine Weise ausgestaltet, die den Schülern eher den Spaß am Sport austreibt als ihn zu wecken und weiter zu stärken. Hier verpaßt Deutschland Chancen und auch Notwendigkeiten, was man bemerkt, wenn man einmal über den Tellerrand schaut: Man denke hier beispielsweise im Vergleich an das Verhältnis asiatischer Kinder und Jugendlicher zum Kampfsport, das in fernöstlichen Breitengraden ein selbstverständliches ist. Damit werden gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Es wird körperliche Fitness gewährleistet, die über reinen, oft eher der Ästhetik dienenden Kraftsport hinausgeht und z. B. auch Dehnungsübungen und langfristige Gesundheitstrainings einbezieht. Kinder und Jugendliche – Jungen und Mädchen – lernen zugleich Selbstverteidigung, was in einer immer kriminelleren, immer konfliktreicheren, zunehmend amerikanisierten Gesellschaft von immensem Wert ist. Zugleich erfolgt all das auf ganzheitliche Art und Weise: Bei asiatischen Kampfkünsten ist der mentale, kognitive und psychische Aspekt stets mit im Fokus, was eine stabile und im Übrigen auch disziplinierte Persönlichkeitsentwicklung fördert und vorantreibt.
Turnen war für schon für Turnvater Jahn Teil der patriotischen Erziehung zur Vorbereitung auf den Krieg gegen die napoleonische Fremdherrschaft.
Gegen die körperliche Selbstentfremdung
Dies wäre aus vielerlei Gründen angebracht, denn die im Kollektiven, im Ethnischen und im Nationalen, also auf der Makro-Ebene beobachtbare Entfremdung der Deutschen von sich selbst setzt sich auf der Mikro-Ebene fort: Die zahlreichen postmodernen Formen der Körpermodifikation stehen nicht nur für den individualismustypischen Narzissmus der Generationen Y und Z, sondern fügen sich – vor allem auch mit ihren drastischsten Ausprägungen hin zur Identitätsflucht und dem Eindruck, man sei „im falschen Körper geboren“ – auch ein in einen generellen Problemkomplex der Entfremdung von sich selbst und vom eigenen Körper, welche dann über anschlußfähige und das Anderssein legitimierende Insta-Hashtags kaschiert wird, anstatt durch einen Weg hin zur mentalen und körperlichen Gesundheit bekämpft zu werden, wie es geboten wäre. Wir brauchen eine neue Kultur der Selbstbefreundung – nicht nur als Volk und Nation, sondern auch als Einzelpersonen mit einer Psyche und einem Körper. Einer der wesentlichsten Träger einer solchen Sozialisationsaufgabe ist der Sport.
Florian Sander
Florian Sander, M. A., hatte zunächst einen nebenamtlichen Lehrauftrag (2013 – 2015), danach eine hauptamtliche Dozentur (2016 – 2019) an einer Fachhochschule inne, lehrte dort Sozialpsychologie, Soziologie und Politikwissenschaft und arbeitete auch als Verhaltenstrainer. Er ist aktuell Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS), Universität Bielefeld. Von 2009 bis 2014 war er Mitglied des Rates der Stadt Bielefeld. Seit 2018 betätigt er sich als Mitglied der Landesprogrammkommission und des Landesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik der AfD NRW sowie als Leiter des Arbeitskreises Kommunalpolitik der AfD Bielefeld, deren stellvertretender Kreissprecher er seit 2019 ist. Er war Autor für den Blog Le Bohémien (2010 – 2017), für das Online-Magazin Rubikon (2017 – 2018) und für die Linke Zeitung (2017 – 2018) und schreibt seit 2018 für das Kultur- und Lifestyle-Magazin Arcadi sowie seit 2019 auch für den Blog des Jungeuropa-Verlags, für die rechtsintellektuelle, vom Institut für Staatspolitik (IfS) herausgegebene Zeitschrift Sezession und für das Zentralorgan des Bundes Deutscher Unitarier e. V., Glauben und Wirken.
Meine Dissertation und Promotion liegen eine Weile zurück. Weshalb habe ich Siegfried Bublies, Chef des Lindenbaum-Verlags, dennoch davon überzeugen können, dass eine erstmalige Buchveröffentlichung der zuvor nur als Manuskript zu beziehende Schrift Käufer interessieren könnte? Ganz einfach: Die heutige Rechte leidet unter Ideenarmut. Wer sich vor dem Hintergrund seines Wissens um die „Konservative Revolution“ und ganz allgemein um die Rechte der Weimarer Republik die Rechte der Gegenwart anschaut, erblickt neben völlig verwirrten Rechtsradikalen und einer „Neuen Rechten“, die sich zum Teil mit beachtlichen Durchbrüchen um eine „Metapolitik“ bemüht, eine AfD, die in ihrer Mehrheit einen warmen Platz im Parteiengefüge der BRD einnehmen möchte, was die terroristische „Antifa“ und der „Verfassungsschutz“ so gar nicht leiden wollen. Diese Bemerkung ist vielleicht ungerecht; tatsächlich gibt es in dieser Partei Menschen, die weiterdenken und die wissen, dass Prozentzahlen allein nichts aussagen. Aber es fehlt der große Wurf, ein neudeutsches „Narrativ“, die große Zukunftsvision, die Anhänger und Wähler begeistern könnten. Ernst Niekisch hat so ein „Narrativ“ erdacht, und er hat vor allem Jugendliche zu begeisterten Anhängern gemacht, wenn auch nicht nachhaltig, da der Nationalsozialismus mit seinem billiger zu habenden „Narrativ“ vor der Tür stand. Der Nationalsozialismus ist vorderhand erledigt, und auch Ernst Niekischs Gegenentwurf ist für uns heute nicht mehr nachvollziehbar. Aber seine scharfsinnigen Analysen der überlebten bürgerlichen Gesellschaft, seine vielfältigen Begründungen für einen deutschen Nationalismus und seine Visionen könnten tiefschürfende heutige Rechte zu Überlegungen veranlassen, die Niekischs Ideen zu völlig neuen Bildern einer erstrebenswerten Zukunft des deutschen Volkes führen könnten.
Ernst Niekisch (1889 – 1967) wurde in Armin Mohlers Standardwerk der „Konservativen Revolution“ zugeordnet, was die DDR-Historiographie und die Linken in der BRD stets empörten. War er nicht einer der Ihren? Schließlich hatte er noch kurz vor seinem Tode mit dem SDS in Westberlin gekungelt. Es stimmt: Niekisch hatte sich nach 1945 den Kommunisten bzw. der SED angedient. Allerdings war er da ein körperliches Wrack, wurde von den Russen aus dem Zuchthaus nahezu erblindet befreit, in dem er nach dem Willen des NS-Volksgerichtshofs lebenslang bleiben sollte. Danach versuchte er, wieder politisch wirksam zu werden, aber das war nur möglich, indem er seine Herausgeberschaft und seine Artikel in seiner Zeitschrift „Widerstand“ (1926 – 1934) verharmloste. Einer hat das nicht mitgemacht: Armin Mohler. Er verwies schon früh auf Niekischs grandiose Wirkmächtigkeit während der Zeit der Weimarer Republik.
Armin Mohler hatte schon in seiner Jugend in der Schweiz Niekisch-Texte gelesen. Er war fasziniert von diesem Mann, der kein Nationalsozialist, kein Konservativer, kein Reaktionär und offenbar auch kein Linker war. Niekischs Aufsätze waren in einer Sprache verfasst, die noch nie zuvor und danach gelesen wurde. Manchen erinnerte sie an Heinrich von Kleist. Eben wegen jener Sprache hatte seine Zeitschrift „Widerstand“ in der Weimarer Republik einen Einfluss, der weit über den Kreis seiner engeren Anhängerschaft hinausging.
Ernst Niekisch (1889 – 1967)
Ernst Niekisch war der Anti-Hitler. Aber nicht als Menschenfreund, sondern weil er Hitlers Vision, die sich zumindest vorläufig mit der Herrschaft in Kontinentaleuropa unter Duldung durch die anglo-amerikanischen Mächte begnügte, weit in den Schatten stellte. Für ihn war Hitler das Mundstück eines Deutschland fesselnden Westens. Deutschland hätte all seine Kräfte gegen den Westen, gegen den Liberalismus anspannen und selbst mit Ausnützung des Bolschewismus den nicht nur geistigen Krieg gegen den verderblichen Westen führen sollen, um nicht nur das Versailler Diktat zu sprengen, sondern um ein eurasisches Reich preußischer Prägung zu begründen. Insofern erschien ihm der westorientierte Hitler als „Deutsches Verhängnis“. Die gleichnamige Sonderbroschüre seiner Zeitschrift „Widerstand“ hat er von A. Paul Weber illustrieren lassen, der auch der Zeitschrift selbst über Jahre das Gesicht gab. Dessen in heutigen Schulbüchern wiedergegebene Zeichnung zeigt einen Menschenstrom unter Hakenkreuzfahnen, der in ein riesiges Grab marschiert. Das Grab, das war (und dies wird in den Schulbüchern aus gutem Grund verschwiegen) ein Deutschland unter dem Befehl des Westens. Niekisch hat den Nationalsozialismus verkannt. Der entwickelte sich schließlich zu einer speziellen Art des „Nationalbolschewismus“, aber da saß Niekisch längst im Zuchthaus.
Deutsches Verhängnis 1931/1932 (A.Paul Weber)
Ernst Niekisch wird noch heute als „Nationalbolschewist“ bezeichnet. Das ist unzutreffend, wie ich in meinem Buch zeige. Er war zu der Zeit, als sein „Widerstand“ erschien, der radikalste deutsche Nationalist, der Deutschland in ein Heerlager gegen die westliche Welt verwandeln wollte. Dies mit Hilfe des bolschewistischen Russland, aber eben nur mit dessen Hilfe. Das Gebiet „von Wladiwostok bis Vlissingen” sollte von den „Ideen von 1789” gesäubert und dem „Gesetz von Potsdam” unterworfen werden. Das klingt heute verrückt, aber damals wurde durchaus darüber diskutiert. Das lag auch daran, dass Niekisch nicht etwa als sektiererischer Eiferer empfunden wurde. Seine Sprache war so faszinierend, dass die Ausgaben seiner Zeitschrift „Widerstand“ nicht nur im Kreis von Niekischs Anhängern diskutiert wurden. Intellektuelle aus allen Lagern wurden von Niekischs Stil gefangen. Selbst Joseph Goebbels, den als Anhänger Hitlers Welten von Niekisch trennten, der aber trotzdem vor 1933 versucht hatte, Niekisch für die NSDAP zu gewinnen und auf ihn, wie seine Tagebücher und Ernst Jüngers Aufzeichnungen zeigen, wegen dessen Weigerung wütend war, stand vermutlich so unter dem Eindruck der Sprachgewalt Niekischs oder wollte jedenfalls auf die nachwirkende Niekisch-Begeisterung hochrangiger Parteigenossen wie Werner Best Rücksicht nehmen, so dass er ein eigentlich naheliegendes Verbot des „Widerstand“ 1933 verhinderte, wie ich nach Einsicht in die Gestapo-Akten zeigen kann.
Titelseite der Zeitschrift Widerstand (Mai 1931)
Was sagt uns Niekisch heute? Selbst in einem kleiner gewordenen Deutschland hätte er wohl nicht zur Kapitulation geraten, denn er schöpfte Mut aus allen noch so fern liegenden Entwicklungen, die seinem Deutschland bei der Wiedererhebung hilfreich werden konnten. Seine Hoffnung, die bolschewistische und weltrevolutionäre Sowjetunion, ist zwar Vergangenheit, nicht aber Russland. Aber das heutige Russland hat keine weltrevolutionäre Idee mehr, die mit Deutschland zusammen den Westen aufrollen könnte. Auch wenn russische Intellektuelle wie Alexander Dugin immer wieder von „Eurasien“ schwärmen und sich dabei auch auf Niekisch berufen – dieses Konzept hat wegen der russischen wirtschaftlichen und administrativen Schwäche auf unabsehbare Zeit keine Chancen. Ein wirtschaftliches starkes und machtbewusstes Deutschland hätte zur Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion vermutlich die Möglichkeit gehabt, zusammen mit dem militärisch immerhin noch starken Russland Geschichte zu schreiben, aber diese Chance wurde vertan, weil die deutsche Regierung eben nicht machtbewusst im Sinne Niekischs war. Heute ist Russland, von der Militärtechnik abgesehen, der Juniorpartner Chinas, aber sich das weit entfernte und nur nominell kommunistische China als Teil einer revolutionären Schicksalsgemeinschaft mit der kleinen BRD zu denken, das wäre wohl nicht einmal Niekisch eingefallen. Womöglich hätte Niekisch heute auf den Islam gesetzt, der einzigen verbliebenen Ideologie, die dem Westen unversöhnlich gegenübersteht, und die sich mittlerweile im gealterten Deutschland nicht nur durch junge Migranten eine Machtstellung geschaffen hat. Das ist Spekulation, aber es ist nicht unwahrscheinlich. Damals hat Niekisch auf den antiwestlichen Bolschewismus gesetzt. Er wollte ihn zu einem „Preußischen Bolschewismus“ umformen. Dies nicht, weil er Anhänger Lenins oder Stalins gewesen wäre, sondern weil er im Bolschewismus die einzige Ideologie sah, die den Deutschland unterdrückenden Westen radikal verneinte. Das ist heute der Islam, der sich zu Niekischs Zeit noch nicht zur weltgeschichtlichen, zumindest aber westeuropäischen Sprengkraft entwickelt hatte. Wie auch immer: Ernst Niekisch war ein „unbedingter Nationalist“. Er wäre sogar ein Bündnis mit dem Teufel eingegangen, wenn es seinem Land genützt hätte. Wie heute zu verfahren ist, müssen diejenigen entscheiden, die seine Schriften gelesen haben und es verstehen, Historisches von dem zu unterscheiden, was Ernst Niekisch noch heute bedeutsam machen könnte.
Mein Buch kann einen gedachten Niekisch in der Gegenwart nicht zeichnen. Das ist auch deshalb nicht möglich, weil Niekischs „Widerstand“ heute in der BRD mit einiger Sicherheit verboten würde. Aber es zeigt sich, dass in der ungleich liberaleren Umgebung der Weimarer Republik eine kleine Zeitschrift mit einem wortmächtigen Herausgeber zwar nicht Welten bewegen konnte, aber doch im Lager der Rechten zum Teil für ein radikales Umdenken gesorgt hat. Der „Widerstand“, eine Zeitschrift mit geringer Auflage (es werden 3000 bis 6000 Exemplare pro Monat geschätzt), hat, wie ich am Beispiel von Parteien, Wehrverbänden und Bünden zeige, erheblichen Einfluss ausgeübt. Mein Buch ist wegen dieser Forschungen auch ein Blick auf die nationalrevolutionäre Variante der Konservativen Revolution. Natürlich gibt es einen großen Unterschied zwischen der Weimarer Republik zu Zeiten Niekischs und der BRD der Gegenwart. Selbst der liberale und heute gefeierte Stresemann wollte die erzwungenen Ostgrenzen um keinen Preis anerkennen. Heute schmerzt es fast niemanden mehr, dass ein Viertel Deutschlands verloren ist, und seine Bewohner in den Westen vertrieben wurden. Und der nationalistische Taumel um die Einheit 1990 ist längst vorbei. Die Regierung der BRD möchte in der Europäischen Union aufgehen und verschließt die Augen vor den Eigeninteressen der Nachbarländer, ganz zu schweigen von den deutschen Interessen. Der Niedergang der USA und der Aufstieg Chinas stellen die Europäer allesamt vor neue Herausforderungen. Ein reiches Feld also, das ein Niekisch der Gegenwart wortmächtig kommentieren könnte. Aber nicht nur kommentiert hat er; er versuchte damals, für die Zukunft und für Deutschland Lösungen zu finden. Verrückte vielleicht, aber immerhin hat er es versucht. Solche strategischen Denker gibt es auf der Rechten heute nicht mehr. Deshalb ist Niekisch, obwohl von der Geschichte überholt, eine Herausforderung für jeden, der oder die über die Gegenwart oder die nahe Zukunft hinausschaut und sich eine Zukunft vorstellt, in der das deutsche Volk noch eine Rolle spielt. Die von Niekisch beeinflussten Nationalrevolutionäre sind zum Teil Widerstandskämpfer gegen das Regime Hitlers geworden, darunter auch ein Autor des „Widerstand“, der hingerichtet wurde. Niekisch selbst wurde 1937 verhaftet und 1939 zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt. Natürlich stimmt es, dass er Antifaschist war, wenn auch als Nationalist, denn er sah im Faschismus eine westlich-romanische Ideologie, eine Versuchung der Deutschen, ein „Deutsches Verhängnis“. Der Russlandfeldzug, seine mordgierige, „Untermenschen“ versklavende Form und sein Ausgang konnten ihn bestätigen und ihn in die Arme der SED treiben, die ihn zum Professor machte. Nach dem Erlebnis des 17.Juni 1953 und dem Ungarnaufstand 1956 hielt er es aber in dieser Partei nicht mehr aus. In einem Interview mit Wolfgang Venohr sagte er: „Ich habe die Politik geliebt, aber sie hat meine Liebe nicht erwidert.“ Er ist gescheitert, aber die Lektüre seiner Schriften von 1926 bis 1934,als er den Deutschen noch eine weltgeschichtliche Rolle zutraute, kann auch heute und trotz einer vordergründig völlig andersartigen Mentalität der Deutschen befruchtend auf Geister sein, die das Zeitbedingte von großen Linien zu unterscheiden wissen.
Uwe Sauermann
Uwe Sauermann studierte in München und Augsburg Politische Wissenschaften, Neueste Geschichte und Völkerrecht. Seine Dissertation ist das hier vorgestellte Werk. Obwohl es danach mehrere Veröffentlichungen zu Niekisch gab, ist Sauermanns Werk bis heute die materialreichste und gelungenste Analyse von Ernst Niekischs Zeitschrift „Widerstand“. Uwe Sauermann war später für das öffentlich-rechtliche Fernsehen tätig, war schon vor dem Ende der DDR Korrespondent in Ost-Berlin und Leipzig, produzierte zeitgeschichtliche Filme und berichtete danach für die ARD u.a. aus Indien, Irak und Afghanistan. Er lebt heute in Berlin.
Folkelighed, Volkstum und das Völkische – ein Übersetzungsproblem?
Folk – über einen Grundbegriff in Demokratie und Kultur
Jan Myrdal hat in den 80er Jahren zu recht auf die doppelte Traditionslinie der nordeuropäischen Linksintellektuellen in Gestalt des urban-kosmopolitischen (dabei übrigens durchaus dänisch-nationalen) Geistes von Georg Brandes und der des Grundtvigianismus verwiesen. Ihm selbst sei in der Zusammenarbeit mit der dortigen Linken erst in West-Berlin die eigene Prägung durch Grundtvig bewusst geworden, als einer seiner Artikel übersetzt werden sollte. „Allmählich wurde aus ,folk’ … ‚die Volksmassen’, ,folklig’ verschwand in Umschreibungen und aus ,folkets kultur’ wurde etwas, was mit den Kulturbestrebungen der Volksmassen zu tun hatte“ (Myrdal 1988, S. 53 f.).
Die eigentliche Schwierigkeit, folkelighed in andere Sprachen, namentlich ins Deutsche zu übertragen, ist nicht sprachlicher Art. „Volkstum“ bzw. „Volkstümlichkeit“, im Sinne Friedrich Ludwig Jahns, „Volkheit“ im Sinne Goethes und der Romantiker oder auch die Umschreibung „aus dem Volk, für das Volk“, könnte die Sache durchaus treffen, wenn diese Begriffe entsprechend konnotiert wären. Statt dessen gilt: Wer heute in Deutschland vom „Volkstum“ – oder unüblicherweise, von der „Volkheit“ – spricht, begibt sich in ein semantisches Feld, das fast automatisch dem Rechtsradikalismus zugerechnet wird.
(„Volkstümlichkeit“ geht entweder in die gleiche Richtung oder bedeutet Popularität im Sinne von Trivialität.) Sogar das „Volk“ schlechthin als politisch-sozialer Terminus ist mehr und mehr verpönt. Die ungenierte und in der Regel positive Verwendung des folk-Begriffs in Nordeuropa – politisch gerade links der Mitte – stößt in Deutschland auf eine nicht erst 1933 einsetzende Traditionslinie des „Völkischen“. Um verständlich zu machen, was gemeint ist, müsste man folkelighed als Summe der Normen und des Verhaltens einer muttersprachlich-kulturellen, jedoch nicht exklusiven Einheit in allen Sphären des gesellschaftlichen Lebens kennzeichnen.
Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783-1872)
Grundtvig und der Grundtvigianismus
Der Nationalsozialist Christoph Steding kam in seinem voluminösen geschichtsphilosophischen Werk „Das Reich und die Krankheit Europas“ wiederholt auf Dänemark und den Grundtvigianismus zu sprechen (4. Auflage 1942, folgende Zitate S. 43 f., 553 f., 586, 651 f.). Der „große Entdecker der dänischen Volksseele“ habe – so der Kern der Kritik – seinen Appell an das Volk als einen „unpolitischen“, nicht machtstaatlich orientierten erlassen. So habe sich diese Art der Volkstumspflege als „nur eine Form der Neutralisierung, eine Flucht aus der Zeit, aus der Geschichte ins Idyll“ erwiesen, nicht Widerpart, sondern Ergänzung und Bestätigung des in Kopenhagen regierenden und den „Prozess der Verjudung“ bestimmenden Geistes von Georg Brandes. Gerade die geringe Zahl von jüdischen Bewohnern mache Nordeuropa besonders empfänglich für, weil widerstandsunfähig gegen die Krankheiten Europas, den Liberalismus und den Marxismus, insbesondere den vom „tatarisierten Moskau“ gesteuerten Bolschewismus.
Die skandinavische Staatenwelt sei „zunehmend nur noch ein Konglomerat von Volkstümern, keine eigentliche Staatenwelt mehr“, zersetzt im Innern, zerspalten in zahlreiche Interessengegensätze. Wie der Grundtvigianismus gezeigt habe, könne die Pflege des Volkstümlichen gerade im Dienste derjenigen Mächte stehen, die es zerstören wollten. Er „erreichte, dass … das Volk ,erweckt’, also rationalisiert und so seiner Kräfte, die im Unterbewusstsein schlummern, beraubt wurde“. Die Grundtvigschen Volkshochschulen hätten das dänische Bauerntum völlig liberalisiert und so auch die „Herrschaft der Sozialdemokratie“ ermöglicht.
Christoph Steding: Grundtvigs Auffassung vom Staat sei vom Hass auf den Staat bestimmt
Vor allem das Sanfte, Unaggressive in Grundtvigs Wirken stört den Nationalsozialisten Steding. Nicht zufällig habe sich das Interesse für Volkskunde und Vorgeschichte in Dänemark zu der Zeit entwickelt, da das dänische Staatswesen in volle Auflösung geraten sei. Die von Grundtvig vorzüglich verkörperte Auffassung von Volk und Volkstum sei von der Distanz zum Staat, ja vom Hass auf den Staat bestimmt und müsse „konsequent durchgehalten und ihrer innersten Tendenz nach zur Inzucht und zum Narzismus und damit schließlich zur Lähmung des ganzen Lebens“ führen. „Im Dritten Reich und dem von ihm aus existierenden Mitteleuropa kann nur ein Begriff vom Volk und vom Volkstum der wahre sein: derjenige nämlich, der als vornehmste und höchste Möglichkeit des Volkstums seine Begabung zum Staate, besser: zum Reich als Selbstverständlichkeit enthält.“
Man gewinnt bei der Lektüre von Steding nicht den Eindruck, dass ihn das Anliegen Grundtvigs ernsthaft interessiert hätte. So erfolgt nicht einmal ansatzweise eine Rekonstruktion von dessen Gedanken. Mehr noch als zwei Ideologien stießen hier zwei intellektuelle Stile unversöhnlich aufeinander. Ohne seine theologischen Positionen sind Grundtvigs Auffassungen von Volk und folkelighed letztlich nicht zu verstehen: Das schöpferische Gotteswort, das Volk und folkelighed umfasst, hat in der Inkarnation menschliche und volkliche Gestalt angenommen, um das Schöpfungswerk nach dem Willen Gottes zu vollenden. Deshalb setzt das wahre Menschsein, zu dem die Möglichkeit gehört, zum christlichen Glauben zu gelangen, das Leben im Volk und in der folkelighed voraus. Nur als geschichtliche Gestalten der vom Schöpfungsgedanken bestimmten Auffassung vom Menschen erhalten Volk und folkelighed eine selbständige Bedeutung. Nur in der Muttersprache eines Volkes kann das Schöpfungshandeln Gottes als ein Tun der Liebe verstanden werden. Dabei wird das „Wort“ – mit dem Akzent auf dem mobilen mündlichen Wort – für Grundtvig immer mehr zum zentralen Ausdruck seiner Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch.
Wie jeder halbwegs gebildete Däne weiß, sah Grundtvig Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Sanftheit, Zärtlichkeit, Verschämtheit und Treue als geschichtlich manifestierte, echt dänische Eigenschaften. Die Grundlage der spezifischen folkelighed der Dänen und ihre menschheitliche Sendung bildete indessen, so meinte er, die „Herzlichkeit“, also das Mitgefühl. Diese Wertsetzung war kombiniert mit der Orientierung am aktiven Leben und an der Wirklichkeit nach englischem Vorbild, mit der Betonung von Geistesfreiheit, Gemeinschaftlichkeit und menschheitlichem Gleichheitsgebot. Grundtvig war „bekehrt“ und national begeistert worden durch das Erlebnis der Beschießung Kopenhagens seitens der englischen Flotte 1807 und der Not der folgenden Kriegsjahre, eine einschneidende generationenspezifische Erfahrung.
Der britische Beschuss setzte Kopenhagen 1807 in Brand. Gemälde von Christoffer Wilhelm Eckersberg (1783-1853)
Angeregt und vorangetrieben durch Grundtvig, kam es seit den 1840er Jahren zum Aufbau eines Netzes von Volkshochschulen auf dem Lande, die durchweg als Internate betrieben wurden. Bis zur vorletzten Jahrhundertwende wuchs die Zahl der jährlichen Absolventen auf rund 5000 an, meist junge Männer (und zunehmend Mädchen und junge Frauen) bis Mitte Zwanzig, ganz überwiegend aus der Landbevölkerung, auch der ärmeren. Unterrichtet wurde von Lehrern, die nur zur Hälfte überhaupt ein Volksschullehrerexamen hatten, jeweils einige Monate, hauptsächlich in den Fächern dänische Sprache einschließlich Literatur und Mythologie sowie Geschichte. Es ging um Persönlichkeitsbildung, um die Weckung vaterländischen bzw. volklichen Bewusstseins und um die staatsbürgerliche Erziehung der jungen Menschen. Im Hinblick auf das politische Klima waren die Volkshochschulen offenbar nicht unwesentlich daran beteiligt, die Niederlage von 1864 mit dem gravierend empfundenen Verlust ganz Schleswigs psychologisch zu verarbeiten und jene aggressive Verengung des nationalen Gedankens zu verhindern, wie sie für Deutschland nach dem Versailler Frieden (1919) prägend werden sollte, jedenfalls für das bürgerliche Spektrum.
Erstürmung der Düppeler Schanzen durch preußische Truppen am 18. April 1864 gilt als entscheidendes Gefecht im deutsch-dänischen Krieg. Psychologische Verarbeitung des Verlustes Schleswigs über die Volkshochschulen und die Weckung des volklichen Bewußtseins.
Die emanzipatorische Bildungsbewegung der grundtvigianischen Volkshochschulen Dänemarks passte sich in eine Gesellschaftsentwicklung ein, die durch die spezifische Lösung der agrarwirtschaftlichen Strukturkrise der 1870er und 80er Jahre über die ökonomische Sphäre hinaus den Gutsbesitz schwächte und die selbständige Bauernschaft stärkte. Indem das landesweit organisierte Genossenschaftswesen die Investitionen für die Modernisierung der Betriebe und namentlich für den Übergang zur Veredelungswirtschaft möglich machte, wurde dem Selbstbewusstsein breiter bäuerlicher Schichten eine solide materielle Basis bereit gestellt – und zwar mit eindeutig demokratischer Tendenz. In aggressiver Weise erfolgte die dänische Lösung der Agrarkrise gegenläufig zu dem zeitlich parallelen deutschen Umgang damit. In Deutschland waren die ostelbischen Großagrarier im Bündnis mit der Schwerindustrie und gestützt auf den Staatsapparat imstande, über Schutzzölle ihre ökonomisch und gesellschaftlich privilegierte Position politisch längerfristig zu sichern. In Verbindung mit dem Repressionsgesetz gegen die aufstrebende Sozialdemokratie (1878) und einer parteipolitischen Umgruppierung spricht man von der „zweiten“, konservativen Reichsgründung.
Etwas Ähnliches wie für die liberal-demokratischen Bauern Dänemarks, wo das genossenschaftliche Problemlösungsmodell das kollektive Selbstvertrauen stärkte, gilt auch für die sozialdemokratischen Arbeiter. Die Gewerkschaften erreichten früh einen hohen Organisationsgrad und drängten die Kapitalseite bei den Tarifauseinandersetzungen zunehmend in die Defensive. Ungefähr parallel zum Durchbruch der parlamentarischen Demokratie um 1900 einschließlich der faktischen Einbeziehung der (reformistischen) Sozialdemokratie wurden die Gewerkschaften vom Arbeitgeberverband durch den Abschluss eines Manteltarifvertrags offiziell anerkannt, und es wurde ein rechtlich verbindliches Schiedsgerichtsverfahren etabliert. Alles das kam in Deutschland erst im Gefolge der Kriegsniederlage und des revolutionären Sturzes der Monarchie im November 1918 zum Durchbruch – unter Bedingungen, die einen Großteil der alten aristokratisch-großbürgerlichen Eliten, aber auch der städtischen und ländlichen Mittelschichten gegen die parlamentarische Republik in Stellung brachten und zugleich zur tiefgreifenden Spaltung der Arbeiterbewegung führten.
Von Russland abgesehen, wurde Deutschland der Hauptkampfplatz jenes blutigen Europäischen Bürgerkriegs, der im Ersten Weltkrieg begann und in den 1950er Jahren mit der Konsolidierung der Ost-West-Teilung des Kontinents einen waffenstillstandsähnlichen Abschluss fand.
Wege zur skandinavischen Wohlfahrt
Die schwedische Sozialdemokratie übernahm von der dänischen Schwesterpartei 1936 die Wahlparole „Sverige for folket!“ Ganz bewusst popularisierte Per Albin Hansson seit den frühen 1920er Jahren den (der Arbeiterbewegung ja nicht unbekannten) Volksterminus, gipfelnd in der programmatischen Metapher eines Heims des ganzen Volks (Folkhemmet). Dabei wurden auch sozialliberale und sozialkonservative Bedeutungsvarianten integriert sowie nicht zuletzt Vorstellungen einer bäuerlichen Volkskultur, eines von der Natur geprägten, einfachen Volkscharakters, die als solche keineswegs „links“, aber für die sozialdemokratische Linke anschlussfähig waren. Die Rede „von einer Befreiung des Volkes von der kapitalistischen Diktatur“ sei leicht verständlich und die eigentliche sozialistische Position, meinte Hansson (zitiert nach Götz 2001, S. 195). So wurde der sozialdemokratische Begriff des Volksheims untrennbar verbunden mit dem Ziel politischer, sozialer und ökonomischer Demokratie und gleichzeitig mit moralisch-altruistischen Verhaltenstugenden: „Gleichheit, Umsicht, Zusammenarbeit, Hilfsbereitschaft.“
Per Albin Hansson (1937): „Sverige for folket!“ – Befreiung des Volkes von der kapitalistischen Diktatur.
Es geht mir hier nicht um eine Apologie des Wohlfahrtsstaats schwedischen Typs mit seinen patriarchalischen Elementen oder der spezifisch nordeuropäischen Sozialdemokratie, sondern um die sozusagen linke Kontinuität eines popularen und egalitären Volksbegriffs über die Epochen der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hinweg. Verständlich wird die durchgehend demokratische, sogar mit moderner Sozialkritik angereicherte Bedeutung des skandinavischen „Volkes“ nur vor dem Hintergrund einiger grundlegender historischer Besonderheiten. Dazu gehört nicht zuletzt eine lange und fest verankerte Rechtsstaatstradition, daneben eine ebenso alte, spezifische Variante des westlichen theologischen, philosophischen Denkens, die auf die historische Entwicklung und die Empirie („das Leben“) abhebt und unter Zurückweisung idealistischer Spekulationen einer naturrechtlich orientierten Gesellschaftsbegründung anhängt.
Der Adel blieb in unterschiedlichem Grad (in Norwegen existierte er in der Neuzeit kaum noch) zahlenmäßig und sozial schwach, das frühneuzeitliche Königtum hingegen begründete bereits den Glauben an den guten, freundlichen Staat, der die Bauern vor der Kirche und den privaten Grundherren, aber auch vor bürokratischer Unterdrückung schütze. Eine homogene Herrschaftsstruktur mit einer guten innerstaatlichen Organisation der jeweiligen Reiche, eine frühe Alphabetisierung und ein später, aber in seinen Reformen radikaler aufgeklärter Absolutismus unterstützten die Entwicklung einer – gemessen am europäischen Durchschnitt – relativ egalitären Gesellschaft, die schon früh Gleichheit und Gleichberechtigung als charakteristische Werte der politischen Kultur befestigte.
Den sozialen und politisch-demokratischen Bewegungen, die – wie am Beispiel Dänemarks schon erwähnt – eine wichtige Rolle bei der Herausbildung und Befestigung der Demokratie spielten, indem sie ihre Mitglieder praktisch dafür schulten, gingen in allen drei skandinavischen Ländern breite religiöse Erweckungsbewegungen voraus, die eine in einzelnen unterschiedliche, aber durchweg wichtige Rolle bei der Mobilisierung und beginnenden Demokratisierung der Gesellschaft spielten. In Dänemark war diese religiöse kirchenkritische Bewegung über die Person Grundtvigs direkt mit den volklich-nationalen Bestrebungen verbunden.
Diese hier nur angedeuteten Bedingungen machten es, zusammen mit der geographischen Randlage der Region, möglich, dass die gegenüber Kontinentaleuropa nicht weniger weitgehenden politischen Systemwechsel vom Absolutismus über die konstitutionelle Monarchie und den liberal-bürgerlichen Parlamentarismus bis zum sozialdemokratisch dominierten, korporativen Wohlfahrtsstaat praktisch unblutig und weitgehend friedlich verlief. Ein hohes Maß an Kooperation und Konsens wurde zu einem typischen Merkmal der skandinavischen politischen Kultur.
Die deutsche Nationalbewegung und ihr Volk
In einer internationalen Typologie des Nationalismus gehören der volkliche Ansatz N. F. S. Grundtvigs mit dem der frühen deutschen Volkstümler in dichte Nachbarschaft gerückt. Ungeachtet dessen verlief die historische Entwicklung der jeweiligen Länder, bei aller Gleichartigkeit oder Ähnlichkeit der bestimmenden Grundprozesse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, in vielerlei Hinsicht offenkundig geradezu konträr.
Auch im deutschsprachigen Mitteleuropa nahm das frühe volksnationale Denken – zu recht werden immer wieder die Namen Fichte, Arndt und Jahn hervorgehoben – mit den katastrophischen Umwälzungen der napoleonischen Kriege politische Konturen an, fast von Anbeginn verbunden mit Ansätzen einer organisierten Nationalbewegung wie beim Turnen.
Ein Turnplatz mitten in Berlin. Auf der Hasenheide startete Jahn die Bewegung – befreiungsnationalistischer Widerstand gegen die französische Kontinentalhegemonie.
Im deutschen Fall bildete der Widerstand gegen die französische Kontinentalhegemonie den Hintergrund und die Triebkraft des entstehenden Nationalismus, für den der Begriff des „Volkes“ eine zentrale Bedeutung hatte. Die Vertreter des antinapoleonischen Befreiungsnationalismus gelangten zu einer Auffassung von Volk und Staat, die in das Postulat der Einheit beider mündete. Die naturgegebene Differenzierung der Menschheit in Völker – mit den Deutschen als einem zur Verwirklichung der weiterhin gültigen Menschheitsideale besonders veranlagten „Urvolk“, „Weltvolk“ oder „Hauptvolk“ – habe durch die Geschichte, besonders durch die Entwicklung von Sprache und Kultur, Gestalt angenommen. Anstelle der Freiheit vom Staat, die es nicht gebe, müsse der Einzelne die Freiheit durch den Staat und im Staat erringen, wie auch das Volk und das Vaterland den Boden abgäben, auf dem allein das Individuum für menschheitliche Ziele arbeiten könne. So würde der „Volksstaat“ (= Nationalstaat) zum Mittler zwischen Individuum und menschheitlichem Kollektiv. Die Nationen seien geschichtlich geprägt und nicht nach einem einheitlichen, aus der Vernunft gewonnenen Schema sozial und politisch einzurichten. In der Aneignung des historischen Erbes gewinne der Einzelne seine nationale Identität und die Gemeinschaft des „Volkes“ den Bezugspunkt ihres Handelns.
Der „volkstümliche“ Nationalismus musste sich im Interesse der inneren Einheit der Nation gegen Absolutismus, Kleinstaaterei und Feudalismus, insbesondere gegen die persönliche Unfreiheit der Bauern, wenden. Die meisten Nationalpatrioten dachten sich das neue Deutschland als konstitutionelle Monarchie und bürgerlichen Rechtsstaat. Volksbewaffnung würde das stehende Heer zumindest ergänzen, wenn nicht ersetzen. Am politischen Leben sollten alle oder zumindest alle ökonomisch selbständigen männlichen Bürger teilnehmen, indem sie über die öffentliche Meinung (Pressefreiheit) und repräsentative Körperschaften Gesetzgebung und Regierung mitgestalteten. Die staatliche Vereinigung des deutschen „Gesamtvaterlandes“ spielte naturgemäß eine wesentliche programmatische Rolle.
1832: Der frühe deutsche Volksnationalismus gehört zu den grundsätzlich emanzipatorischen politisch-sozialen Kräften Deutschlands am Beginn der Moderne.
Insofern wäre es nicht richtig, den frühen deutschen Volksnationalismus ausschließlich aus der Abgrenzung gegen Frankreich, seinen Freiheitsbegriff ausschließlich als Verneinung der Fremdherrschaft zu verstehen. Er gehört zweifellos zu den grundsätzlich emanzipatorischen politisch-sozialen Kräften Deutschlands am Beginn der Moderne. Sicher aber war die erwähnte Frontstellung nach außen prägend, auch bezüglich des Tons, in dem die Äußerungen gehalten waren.
Grundtvig, der wie die dänische Nationalbewegung insgesamt wegen des Konflikts um Schleswig in einen Gegensatz zur deutschen Nationalbewegung im besonderen und zu Deutschland im allgemeinen geriet – er ist in Dänemark bis heute nicht zuletzt als prominenter „Deutschenhasser“ bekannt –, stellte in seiner Abgrenzung gegen die Südgermanen und ihr deutsches Wesen neben dem übertriebenen Nationalstolz speziell die Denkweise und Denktradition der idealistischen Philosophie kritisch heraus. Weil die Deutschen „viel ernster und gründlicher“ seien als die Franzosen, würden sie als Großmacht auch „viel strengere Herren“ sein. Den Unterschied zwischen der dänischen und der deutschen Sprache verglich er mit dem zwischen „einem Königinnen-Herz, das den Kopf steuern will, und einem Schulmeister-Kopf, der offenbar das Herz misshandelt“ (Grundtvig 1927, Bd. 2, S. 371; sowie zitiert nach Grell 1988, s. 212).
Der völkische Nationalismus der deutschen Rechten
Noch für das Deutsche Kaiserreich von 1871 bis 1918, vor allem für dessen erste Hälfte, galt überwiegend, dass, wer sich politisch auf „das Volk“ berief, eher in demokratischer Opposition zu den bestehenden Verhältnissen stand, ablesbar unter anderem an der Benennung etlicher sozialdemokratischer Regionalzeitungen als zum Volk gehörig und für das Volk bestimmt („Volkszeitung“, „Volksstimme“, „Volksfreund“). Dabei ging es um die popularen, plebejischen und tendenziell revolutionären Anklänge des Volksbegriffs, an die später auch die Kommunisten appellierten, namentlich mit der bündnisstrategisch motivierten Parole der „Volksfront“.
Anders als häufig unterstellt, stand dieser popular-demokratische, nach 1918 staatsbürgerlich erweiterte Volksbegriff nicht im Gegensatz zu einem volksnationalen Denken im ethnischen Sinn, das während der Weimarer Republik in Deutschland generell bestimmend wurde. Die ethnische Zugehörigkeit war für die Republikaner indessen durch die muttersprachlich-kulturelle Eigendefinition der Betroffenen gegeben, die durch politische Selbstbestimmung zum Ausdruck kommen sollte. Elemente eines solchen mehrdimensionalen Verständnisses vom Volk wirkten bis weit in die letzte Nachkriegszeit weiter. Das, was sich in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg im Sinne kultureller Hegemonie durchsetzte, lässt sich also nicht hinreichend als Orientierung am Leitbegriff des „Volkes“ beschreiben. Es war vielmehr eine bestimmte Variante, für die sich das quellensprachliche Adjektiv „völkisch“ anbietet, auch, wenn die sich selbst als „völkisch“ bezeichnenden Gruppierungen nur einen Teil des betreffenden Spektrums ausmachten. Bereits seit den 1880er Jahren hatte sich eine neu formierende Rechte, teilweise bis in die nationalliberale Mitte hinein, aggressiv-imperialistischen, antisemitischen und zunehmend rassenbiologischen Ideen geöffnet. Nach 1918 trat der offene und bewusste Imperialismus (der dadurch teilweise allerdings auch verschleiert wurde) einige Zeit hinter das lagerübergreifende Bestreben zurück, den als unzumutbar empfundenen Versailler Friedensvertrag zu revidieren und die bedrängten deutschen Minderheiten im östlichen Europa zu unterstützen.
Unvereinbar mit den Prinzipien der Demokratie, obwohl schwer realisierbar, war nicht der „großdeutsche“ Gedanke, Österreich und eventuell weitere deutsch besiedelte Territorien mit dem deutschen Staat zu vereinigen (die gewählten Abgeordneten Deutsch-Österreichs und der Sudetengebiete hatten 1918/19 einhellig so votiert), grundsätzlich antidemokratisch war die Exklusivität des Volksbegriffs der radikalen Rechten nach innen. Indem die „Abstammung“ zum entscheidenden Kriterium der Volkszugehörigkeit erklärt wurde, fielen die Juden als einzige zahlenmäßig relevante Gruppe von – somit – „nicht-deutschen“ Einwohnern aus dem deutschen Volk hinaus, und sie aus dem gesellschaftlichen und politischen Leben auszuschliessen, wurde zu einem zentralen „völkischen“ Ziel. Dieses Ziel wurde in hohem Maß auch von solchen Anhängern des rechten Ethno-Nationalismus geteilt, die dem im engeren Sinn rassistischen „Blutsmaterialismus“ distanziert gegenüberstanden. Der „jüdische Geist“ wurde für die rechtsorientierte Mehrheit der deutschen Intelligenz, insbesondere für die Jüngeren darunter, zum Chiffre, für die Ablehnung der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer individualistisch-liberalen Ausprägung und – mehr noch – der als deren Auswuchs empfundenen Arbeiterbewegung.
Wenn die Vertreter des intellektuellen Rechtsradikalismus wie Arthur Moeller van den Bruck, Max Hildebert Boehm, Wilhelm Stapel und Edgar Jung in den Völkern die Subjekte der Geschichte sahen, dann beinhaltete das, einer Auffassung vom gesellschaftlichen Leben zu widersprechen, die sozialen Gegensätze innerhalb der nationalen Einheiten eine wesentliche Bedeutung zuerkannte. Völker unterschieden sich von Staaten, so meinten die rechten Volksnationalisten, dadurch, dass sie anders als diese keine Zweckverbände seien, sondern organische Wesen, deren natürlicher Rhythmus das Leben der verschiedenen individuellen Volkszugehörigen bestimme und diesen deshalb auch als Richtlinie dienen müsse. Somit wurde das Volk wie eine einzige große Familie angesehen, vor allem anderen definiert durch die gemeinsame Abstammung und die Weiterexistenz in einer potentiell unendlichen Kette der Geschlechter.
Der Volkswille ließ sich für die Vertreter der „völkisch-organischen Weltanschauung“ nicht durch Mehrheitsentscheidungen („eine zufällige Summe von Einzelnen“, so Stapel 1922, S. 80-89) ermitteln. Weil es – wie in der Wirtschaftsordnung, beim Recht und in anderen Sphären – darauf ankomme, eine Verfassung zu finden, die der volklichen Eigenart, eben dem Volkstum, am besten entspräche, bestehe die Aufgabe darin, „geniale Führerpersönlichkeiten“ an die Spitze treten zu lassen, nicht aber Repräsentanten empirisch vorfindbarer Meinungen oder bloßer Interessen. Zumindest eine Tendenz zur Diktatur war also diesem Denken inhärent, Jahre bevor die NSDAP eine bedeutende Größe wurde (und teilweise sogar in Absetzung von dieser). Im Unterschied, ja im Gegensatz zur folkelighed war das Völkische eindeutig antidemokratisch und autoritär konnotiert, auch dort, wo man sich von den militaristischen und etatistischen Ausdrucksformen der wilhelminischen Periode absetzen wollte wie bei Teilen der bürgerlichen Jugendbewegung, die kulturkritische Vorkriegsautoren wie Paul de Lagarde und Julius Langbehn als ihre Herolde verehrte.
Paul de Lagarde (1827–1891): Im Unterschied, ja im Gegensatz zur folkelighed war das Völkische in Deutschland eindeutig antidemokratisch und autoritär konnotiert.
Auch wenn es – selbstverständlich – gedankliche, organisatorische und habituelle Anknüpfungspunkte gab, lässt sich der seit etwa 1880 entstehende deutsche Ethno-Nationalismus der Rechten nicht einfach als Fortsetzung oder zweite, radikale Stufe der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts begreifen. Indem der neue, zunehmend völkische Nationalismus alle universellen, menschenrechtlichen Prinzipien zurückwies, die auch die kultur- und volksnationalen Strömungen bislang akzeptiert hatten, begründete er ein qualitativ neues Nationsverständnis. Wie die klassische Nationalbewegung nahm der neue Nationalismus politische Opposition gegen die Obrigkeit, soziale Sehnsüchte und sozialen Protest (vor allem aus kleinbürgerlich-kleinbäuerlichen Schichten) auf, suchte sie aber in einer Weise zu artikulieren, die statt des herrschenden Machtblocks mit seinem gesellschaftlichen Schwergewicht im Großgrundbesitz, der Schwerindustrie und in der Armee die liberalen Tendenzen der Moderne und die demokratischen Veränderungsbestrebungen zu Hauptgegnern machte.
„Indem der neue, zunehmend völkische Nationalismus alle universellen, menschenrechtlichen Prinzipien zurückwies, die auch die kultur- und volksnationalen Strömungen bislang akzeptiert hatten, begründete er ein qualitativ neues Nationsverständnis.“
Ein neues und neuartiges Geflecht „nationaler“ Vereine entstand, unter denen der „Alldeutsche Verband“ eine herausragende politische Rolle beanspruchte. Sein Ziel, „die nationale Zusammenfassung des gesamten deutschen Volkstums in Mitteleuropa“ (zitiert nach Dann 1993, S. 192), wurde unzweideutig in eine hegemoniale reichs-, wirtschafts- und kulturimperialistische Perspektive gerückt. Mitgliederstärker waren rechtsnationalistische Interessenverbände wie der Bund der Landwirte und die verbreiteten Kriegervereine. In der Weimarer Republik dehnte sich das rechte, völkisch-nationalistisch ausgerichtete Vereinswesen weiter aus und beeinflusste auch solche Gruppierungen, die Republikaner mit organisierten wie den Verein für das Deutschtum im Ausland mit bis zu 2 Millionen Mitgliedern. Wesentlich war dabei, die Militarisierung der inneren politischen Auseinandersetzungen nach 1918 vor dem Hintergrund militärisch-hierarchischer Prägung des Verhaltensstils im Kaiserreich, namentlich seitens der bürgerlichen Intelligenz, wo die Einrichtungen des Reserveoffizierswesens und der schlagenden Studentenverbindungen eine entsprechende Sozialisation beförderten.
Der Wechsel „vom linken zum rechten Nationalismus“ (H. A. Winkler) war nicht auf Deutschland beschränkt. Doch speziell hier, wo der Weltkrieg und die Kriegsniederlage katalysatorisch wirkten, konnten konkurrierendes nationales bzw. volkliches Denken und Verhalten in hohem Maß unterdrückt, neutralisiert oder auch in den rechten Sinnzusammenhang integriert werden. Der Aufstieg des radikal-faschistischen Nationalsozialismus in den frühen 1930er Jahren hat nicht zuletzt auch mit dieser ideologischen Integrationsleistung zu tun.
Der Nationalsozialismus nahm die Anbindung des „Volkstums“ an die Rassenideologie wie an das Leitbild der Ursprünglichkeit und bäuerlichen Bodenständigkeit des Volkes auf, als er „Volk“ und „Volksgemeinschaft“ in den Mittelpunkt seiner Lehren stellte. Das „Blut“ als Metapher für die biologische Herkunft diente als bestimmendes Kriterium für Eigenart und Wert des Volkes wie auch der volklichen Zugehörigkeit der Einzelmenschen. Die „Reinerhaltung“ des Blutes bzw. seine Verbesserung nach den historisch bedingten Beimischungen und Schädigungen wurde zu einem zentralen Staatszweck und die fabrikmäßige Vernichtung der Juden, Zigeuner und Geisteskranken im Zweiten Weltkrieg insofern zumindest denkbar gemacht. Diese drei Gruppen zeichneten sich in nationalsozialistischer Sicht dadurch aus, dass sie in ihrem kollektiven Wesen parasitär seien, also nicht einfach minderwertig wie die meisten Bewohner Osteuropas, die ihren Platz als Tribut-, Hilfs- oder Sklavenvölker finden sollten.
Obwohl Hitler in der geschlossenen, als hierarchische „Gefolgschaft“ aufgefassten „Volksgemeinschaft“ das „Primäre“ sah, war im Rassenbegriff eine biologische Binnengliederung des Volkes angelegt, die letztlich den Volksbegriff auch in seinem ethnisch-kulturellen Verständnis in Frage stellte. Hitler sorgte sich um den Kern „unvermischt gebliebener Bestände an nordisch-germanischen Menschen“, die im „allgemeinen Rassenbrei des Einheitsvolkes“ unterzugehen drohten (Hitler 1934, S. 437 f.). In diesem Sinne zielte das vor allem von der SS-Elite verfochtene Programm der rassischen „Neuordnung Europas“ auf die Wiederherstellung der angenommenen Reinheit des deutschen Volkes durch Rückführung des im Lauf der Geschichte an andere Völker abgegebenen, wertvollen „nordischen“ Blutes durch „Umvolkung“ und gleichzeitige „Aufnordung“ des in Deutschland empirisch gegebenen Bevölkerungsbestandes mit Hilfe systematischer bio-politischer Maßnahmen.
Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft beruhte auf der bedingungslosen Unterordnung der Einzelnen unter den im obersten Führer verkörperten einheitlichen politischen Willen. „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ Dieser vielfach propagierte Leitsatz enthielt in nuce die Ethik des Nationalsozialismus, die verbunden war mit einem sozialdarwinistisch untermauerten, beinahe obszönen Kult der Stärke: Im Daseinskampf der Rassen und Völker, einem ständigen Niederringen des Schwachen, stand das Recht auf Leben nur demjenigen zu, der sich dabei als der Stärkere erwies.
Das deutsche Volk im Zustand der Teilung und im Prozess der Neuvereinigung
Anders als häufig angenommen, ist das Volk aus der politisch-sozialen Sprache nach 1945 keineswegs verschwunden. Vielmehr operierten beide Teilgesellschaften und Separatstaaten, die sich sukzessive herausbildeten und verfestigten, konkurrierend mit dem Volksbegriff.
Bis die 1969 gebildete sozialliberale Koalition in Bonn die nun auch kommunikationstheoretisch untermauerte „Nation“ als begriffliche Klammer der jetzt anerkannten Zweistaatlichkeit wiederentdeckte, dominierte im Westen Deutschlands die Formel vom „deutschen Volk“ als der juristisch wie ethnisch-kulturell entscheidenden gesamtdeutschen Größe, eine Position, die 1974 noch einmal im Urteil des Bundesverfassungsgerichts über den Grundlagenvertrag BRD-DDR bekräftigt wurde.
Die eher unreflektierte Benutzung des Volks-Terminus in der Publizistik und bis in das Alltagsleben hinein – vom Volkswagen über die Volksaktie (und damit den Volkskapitalismus) bis zur Volkspartei – war allerdings seit den 60er Jahren auf dem Rückzug. Das Volkslied und den Volkstanz gab es immer weniger; hier machte sich die nivellierende Kraft der kulturellen Amerikanisierung noch stärker als in vergleichbaren Ländern geltend, zweifellos begünstigt durch die Diskreditierung alles „Volkstümlichen“ im Nationalsozialismus. (Das, was heute „Volksmusik“ genannt wird und im Fernsehen hohe Einschaltquoten erzielt, hat mit dem traditionellen oder einem erneuerten Volksliedgut in der Regel wenig zu tun.)
In der Sowjetischen Besatzungszone, dann der DDR, rangierte der Begriff des Volkes weit oben. In ihrem ersten programmatischen Aufruf wandte sich die KPD am 11. Juni 1945 an das „schaffende Volk in Stadt und Land“ (Dokumente der KPD 1965, S. 3). Über die „Volkskongress“-Bewegung und den „Deutschen Volksrat“ führte der Weg zur „Volkskammer“ als dem Nationalparlament der DDR. Gemeint war also entweder das werktätige Volk oder die Ethnie der Deutschen bzw. die Gruppe der deutschen Staatsbürger, stets aber für alle vier Besatzungszonen. Die Verfassung der DDR von 1949 proklamierte Deutschland als „unteilbare demokratische Republik“ mit einer einzigen Staatsangehörigkeit; laut Präambel war es das „deutsche Volk“, das sich diese Verfassung gegeben hatte. Soziologisch verstand man unter dem Volk alle objektiv am gesellschaftlichen Fortschritt interessierten Klassen und Schichten, so dass als „Kategorie der Volksfeinde“ nur die kleine Gruppe der Monopolbourgeoisie im Westen übrig blieb (Philosophisches Wörterbuch 2, 12. Auflage, 1976, S. 1269 f.). Das „Volk der DDR“ in Abgrenzung zum „Volk der BRD“ trat erst sehr viel später an die Stelle des gesamtdeutschen (werktätigen) Volkes, als es galt, die sich wandelnde Bonner Ostpolitik abzuwehren, die sich seit 1969 in gewisser Weise auf die frühere DDR-Position (zwei Staaten in einer Nation) berief.
Im Herbst 1989 – angesichts einer tiefen gesellschaftlichen Krise, die sich dann als Zusammenbruchskrise erwies – forderte das Staatsvolk der DDR seine Souveränität ein. Das beinhaltete logischerweise die Inanspruchnahme des formalen Volkseigentums durch faktische Demokratisierung, auch wenn das eigenständige Agieren der Menschen als Produzenten, im Unterschied zu früheren Erhebungen im sowjetischen Machtbereich, 1989/90 in der DDR wie im übrigen Ostblock keine zentrale Rolle spielte. Unter der Parole „Wir sind das Volk“ setzte die zur revolutionären Massenverweigerung angeschwollene Bürgerrechtsbewegung schrittweise die Entmachtung der alten Herrschaftsträger, der Nomenklatura, durch, unterstützt vom – allzu späten, aber keinesfalls irrelevanten – Aufbegehren der SED-Parteibasis gegen ihre Oberen. Gerade in Kreisen der Arbeiterschaft gab man der sozialistischen Erneuerung unter den gegebenen Umständen keine Chance mehr, und so veränderten die Demonstrationen mit der Parole „Wir sind ein Volk“ seit Dezember rapide ihre Stoßrichtung, wobei sich gesamtdeutsche Reminiszenzen und Empfindungen, naive außengerichtete Erlösungshoffnungen und die (wohl realistische) Einschätzung der Ausweglosigkeit einer DDR-internen Lösung der Krise vermengten.
Montagsdemonstration Leipzig, 11.12.1989 Quelle: ABL / H. Krause
Es ist zwar zu vermuten, dass die ostdeutsche „Wende“ in jedem Fall die gesamtdeutsche Frage aktualisiert hätte, aber nicht unbedingt im Sinn des schlichten Beitritts zur Bundesrepublik. Nun kam es dahin, dass die Orientierung an „Deutschland als Ganzem“, an dem einem Volk der Deutschen mit dem Volk der Demokratie partiell in Widerspruch geriet, das sich angesichts der schnellen Selbstaufgabe und Angliederung der DDR nach Artikel 23 des Bonner Grundgesetzes kaum entfalten konnte. Das unter diesen Voraussetzungen am ehesten demokratisch akzeptable Vorgehen, die Wahl einer uneingeschränkt souveränen, verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung, wurde indessen wegen ihrer Unkalkulierbarkeit von einer mächtigen in- und ausländischen, von teilweise gegensätzlichen Motiven getragenen Koalition vereitelt. Allerdings fanden Forderungen nach der Beratung über eine neue Verfassung auch kaum Resonanz. Falls die formale Sicherung der Volkssouveränität überhaupt als Problem wahrgenommen wurde, galt sie als nachrangig, seit über den gesellschaftspolitischen Inhalt und die Asymmetrie des Einigungsprozesses Klarheit herrschte, und das war sehr bald der Fall.
Somit existierte als Handlungseinheit ab Frühjahr/Sommer 1990 – selbst ansatzweise – weder das revolutionäre Volk der DDR noch das neuvereinigte deutsche Volk. Denjenigen, die das einheitliche, völkerrechtlich souveräne, neue Deutschland nicht als ein Groß-Westdeutschland wollten, darunter etliche, die der Apologie des vorherigen europäischen Status quo und der überwundenen deutschen Zweistaatlichkeit stets widersprochen hatten, fehlte eine lebendige Tradition, an die sie massenwirksam hätten anknüpfen können, wie sie im Begriff der folkelighed in vielleicht einmaliger vieldimensionaler Weise enthalten ist.
Keine Demokratie ohne Volk!
Eine solche Tradition lässt sich nicht voluntaristisch durchsetzen, eingefahrene Assoziationen können nicht durch einen politischen Willensakt einfach ausgeschaltet werden. Aber es gibt doch, großenteils verschüttete, demokratische (populare) Traditionselemente auch in Deutschland, die geeignet sind, den Volksbegriff zu rehabilitieren. Die schwarz-rot-goldenen Fahnen, die im Herbst und Winter 1989 in Ostdeutschland mehr und mehr öffentlich geschwenkt wurden, trugen die Erinnerung an 1848, 1918 und 1953 in sich; gelegentlich wurde das auch explizit thematisiert. „Wir sind das Volk!“ Diese Parole wird vielleicht einmal symbolisch den Übergang von den popular-demokratischen und proletarisch-sozialistischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu den Protest- und Massenbewegungen des 21. Jahrhunderts bezeichnen.
Die schwarz-rot-goldenen Fahnen: Erinnerung an 1848, 1918 und 1953
Es heißt, die moderne Gesellschaft sei dermaßen komplex und differenziert, dass so etwas wie die Zugehörigkeit zu einem Volk nicht mehr als eine wesentliche identitätsstiftende Bindung angesehen werden könne. Dieses Argument richtet sich jedoch in seiner Logik nicht nur gegen das Volk als Ethnos, sondern ebenso gegen das Volk als Demos. Eine grenzenlose, globale Zivilgesellschaft vermeintlich autonomer Individuen mag mit dem Modell einer marktgesteuerten, durchkapitalisierten Weltökonomie vereinbar sein, nicht aber mit der Idee der Demokratie, die ein Mindestmaß an Gemeinschaftlichkeit, auch im Hinblick auf kulturelle Bezugsgrößen, an Solidarität und an sozialer Homogenität voraussetzt. Auch das vereinte Europa, das sich vor unseren Augen herausbildet, kann als demokratische Formation nur ein Bund der Völker sein (was nicht heißt, der souveränen Nationalstaaten).
Eine grenzenlose, globale Zivilgesellschaft vermeintlich autonomer Individuen mag mit dem Modell einer marktgesteuerten, durchkapitalisierten Weltökonomie vereinbar sein, nicht aber mit der Idee der Demokratie, die ein Mindestmaß an Gemeinschaftlichkeit, auch im Hinblick auf kulturelle Bezugsgrößen, an Solidarität und an sozialer Homogenität voraussetzt. Auch das vereinte Europa, das sich vor unseren Augen herausbildet, kann als demokratische Formation nur ein Bund der Völker sein (was nicht heißt, der souveränen Nationalstaaten).
Es ist kein Zufall, dass der Widerstand gegen die marktkapitalistische Globalisierung, der mit der Entzauberung neoliberaler Heilslehren weltweit wächst, neben antiimperalistisch, klassisch gewerkschaftlich, ökologisch und menschenrechtlich orientierten Gruppen auch von Kräften kultureller Selbstbehauptung der Kontinente, Nationen und Regionen (bei gleichzeitiger Forcierung des Internationalismus auf neuem Niveau) getragen wird. Alle diese Dimensionen sind seit jeher im Begriff des Volkes aufgehoben, wie ihn die Demokraten der Linken seit dem 18. Jahrhundert etabliert und ausgefächert haben.
Der „konfrontative Habitus“, den Henning Eichberg wiederholt als charakteristisch für das politische Denken in Deutschland – wie, etwas anders, auch in Frankreich – herausgestellt hat (Eichberg 1998, S. 42), macht es schwer, das Diffuse des dänischen Verständnisses von folk und folkelighed als Ausdruck der Unklarheit des Phänomens „Volk“ in der sozialen Wirklichkeit selbst zu akzeptieren. Begriffe wie „Volk“ und „Nation“ können soziologische bzw. sozialökonomische Stratifikationsmodelle und daraus abgeleitete gesellschaftspolitische Kategorien (wie „Klasse“) nicht ersetzen; sie sind auf einer anderen Ebene der Realität angesiedelt.
Das Projekt „Ideologie-Theorie“ der Zeitschrift „Das Argument“ war schon um 1980 dahin gekommen – auch unter dem Einfluss des diskurstheoretischen Ansatzes von Ernesto Laclau (1981) –, den Kampf um die „kulturelle Hegemonie“ im Sinne Gramscis als mehr oder weniger erfolgreiche Artikulation verschiedener, stark verbreiteter, aber nicht von vornherein ideologisch fest verorteter Bewusstseinselemente zu verstehen. Es war damals dieser Kreis um das „Argument“, der in das zeitweise recht erfolgreiche Unternehmen einer linken, nichtakademischen Pfingsthochschule in Berlin sehr bewusst die Bezeichnung „Volksuniversität“ einbrachte. Wir waren also auch in diesem Punkt schon einmal weiter…
Literatur
Blumenwitz, Dieter (Hg.): Das deutsche Volk und seine staatliche Gestalt. Köln 1988.
Boehm, Max Hildebert: Das eigenständige Volk. Volkstheoretische Grundlagen der Ethnopolitik und Geisteswissenschaften. Göttingen 1932.
Brandt, Peter: „Volk.“ In: Joachim Ritter u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1 1, Basel 2001, Sp. 10801090.
Brandt, Peter: Schwieriges Vaterland. Deutsche Einheit – Nationales Selbstverständnis – Soziale Emanzipation. Texte von 1980 bis heute. Berlin 2001.
Dann, Otto: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990. München 1993.
Dokumente der Kommunistischen Partei Deutschlands 1945-56. Berlin 1965.
Eichberg, Henning: Abkoppelung. Nachdenken über die neue deutsche Frage. Koblenz 1987.
Eichberg, Henning: „Volk, folk und Feind. Grenzüberschreitungen und eine umstrittene politische Biographie“. In: Wir selbst, 1/1998, s. 24-53.
Eichberg, Henning: „Volk – wer wo was oder warum nicht? Arbeitsthesen zu einer humanwissenschaftlichen Volkstheorie“ (Internet: http:// http://www.ifo-forsk.dk/ qHE2001_2.htm).
Elias, Norbert: Studien über die Deutschen. Frankfurt am Main 1990. Feldbæk, Ole (Hg.): Dansk Identitetshistorie. 4 Bde., Kopenhagen 1991/92.
Götz, Norbert: Ungleiche Geschwister. Die Konstruktion von nationalsozialistischer Volksgemeinschaft und schwedischem Volksheim. Baden-Baden 2001.
Grell, Helge: Skaberånd og folkeånd. En undersøgelse af Grundtvigs tanker om folk og folkelighed og deres forhold til hans kristendomssyn. o.O. 1988.
Grundtvig, N. F. S.: Schriften zur Volkserziehung und Volkheit, ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Johannes Fiedje. 2 Bde., Jena 1927.
Grundtvig, N. F. S.: Værker i udvalg, hg. v. Georg Christensen & Hal Koch. 10 Bde., Kopenhagen 1940-1949.
Hardtwig, Wolfgang: Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500 – 1914. Göttingen 1994.
Henningsen, Bernd: Die Politik des Einzelnen. Studien zur Genese der skandinavischen Ziviltheorie. Ludwig Holberg: Søren Kierkegaard, N. F. S. Grundtvig. Göttingen 1977
Henze, Valeska: Das schwedische Volksheim. Zur Struktur und Funktion eines politischen Ordnungsmodells. Florenz und Berlin 1999.
Hitler, Adolf: Mein Kampf. 97-101. Auflage, München 1934.
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Janka, Franz: Die braune Gesellschaft. Ein Volk wird formatiert. Stuttgart 1997.
Jahn, Friedrich Ludwig: Deutsches Volkstum. Frankfurt am Main 1910 (zuerst 1810).
Klaus, Georg & Manfred Buhr (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. 12. Aufl., Berlin (West) 1976.
König, Helmut: Zur Geschichte der bürgerlichen Nationalerziehung in Deutschland zwischen 1807 und 1815. 2 Teile, Berlin 1972/73.
Koselleck, Reinhard u.a.: „Volk, Nation, Nationalismus, Masse.“ In: Otto Brunner u.a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 141-431.
Laclau, Ernesto: Politik und Ideologie im Marxismus. Kapitalismus. Faschismus. Populismus. Berlin 1981.
Misselwitz, Hans-Jürgen (Hg.): Mandat für Deutsche Einheit – die 10. Volkskammer zwischen DDR-Verfassung und Grundgesetz. Opladen 2000.
Mosse, George L.: Ein Volk, ein Reich, ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus. Königstein/ Ts. 1979.
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Myrdal, Jan: „Den problematiska folkligare radikalismen.“ In: ders.: En annan ordning: Litterärt og personligt. Stockholm 1988, s. 52-55.
Schüddekopf, Charles (Hg.): Wir sind das Volk. Flugschriften, Aufrufe, Texte einer deutschen Revolution. Reinbek bei Hamburg 1990.
Skrubbeltrang, Fridlev: Die Volkshochschule. Kopenhagen 1950 ( = Handbücher der Dänischen Gesellschaft).
Steding, Christoph: Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur. 4. Aufl., Hamburg 1942.
Wehler, Hans-Ulrich: Nationalismus. Geschichte. Formen. Folgen. München 2001.
Dieser Aufsatz erschien zuerst auf dänisch im Sammelband: Folk – om et grundbegreb i demokrati og kultur (Folk – über einen Grundbegriff in Demokratie und Kultur). Hrsg. Jørn Moller. Århus: Verlag Klim 2004. Erschienen als Band 6 der Buchreihe Bevægelsesstudier (Bewegungsstudien), herausgegeben vom „Forschungsinstitut Sport, Kultur und Zivilgesellschaft“.
Die Veröffentlichung dieses Artikels erfolgt mit freundlicher Genehmigung Prof. Dr. Brandts auf der Internetseite der Zeitschrift wir selbst.
Prof. Dr. Peter Brandt
Prof. Dr. Peter Brandt, einer der letzten großen linken Patrioten in der Tradition der 1848er-Revolution, von Lassalle und Bebel über Schumacher, Bahr und Dutschke und anderen, ist Historiker und Publizist und hat sich 1973 an der Freien Universität Berlin mit einer Dissertation über die Rekonstruktion der deutschen Arbeiterbewegung 1945/46 am Beispiel Bremens promoviert und sich 1988 an der Technischen Universität Berlin mit einem Werk über die Vor- und Frühgeschichte der Burschenschaft im Rahmen der Entstehung der deutschen Nationalbewegung im frühen 19. Jahrhundert habilitiert.
Er ist Ehrendirektor des Instituts für europäische Verfassungswissenschaften an der Universität Hagen (seit 2017), Peter Brandt ist u.a. Mitglied des Vorstands der Friedrich-Ebert-Stiftung, des Kuratoriums der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, des Beirats des Willy-Brandt-Archivs im Archiv der sozialen Demokratie und Mitglied der Historischen Kommission beim SPD-Parteivorstand. Außerdem ist er Gründungsmitglied des Kondylis–Instituts für Kulturanalyse und Alterationsforschung sowie Herausgeber des Online-Magazins Globkult.
Vor 30 Jahren kam Kevin Costners Regiedebut in die Kinos
Es gibt eine Anzahl Filme, die sich jeder Filmfreund im Laufe seines Lebens mindestens einmal angesehen haben sollte. Diese Liste wird natürlich von jedem Cineasten nach subjektiven Gesichtspunkten zusammengestellt, als da wären Genres, Schauspieler, Schnitt oder Kameraführung. Wovor jedoch niemand seine Augen verschließen kann, dass in weitreichenden Abständen Filme auf die Leinwand kommen, die in Sachen Bildsprache, Geschichtenerzählung und Musik neue Maßstäbe setzen. In ganz bestimmten Fällen sogar in Kombination all dieser Elemente. So geschehen vor 30 Jahren in Kevin Costners Regiedebut „Der mit dem Wolf tanzt“. Als Costner Ende der 80 Jahre, damals fast noch ein Nobody in der Branche, ankündigt, einen Western mit Empathie für die Indianer drehen zu wollen, in dem er zugleich die Hauptrolle spielt, schüttelte man in der Filmwelt nur die Köpfe. Western galten zu dieser Zeit als mausetot, als ein fiskalisches und künstlerisches Himmelfahrtskommando. Am Ende erhielt „Der mit dem Wolf tanzt“ sieben Oscars, darunter für den „Besten Film“ und „Die beste Regie“.
Das ließ den damals erst 35-jährigen Costner zu einem der jüngsten Filmemacher aufsteigen, der jemals mit dem wichtigsten Kinopreis ausgezeichnet wurde. Als dann 1992 Clint Eastwood mit dem Western „Erbarmungslos“ ebenfalls in den wichtigen Oscar-Kategorien abräumte, erlebte das Genre seine Renaissance, man denke nur an den fulminanten Erfolg von Quentin Tarantinos „Django Unchained“ aus dem Jahre 2012.
Vor Drehbeginn seines Regiedebuts war Costner, ich erwähnte es oben schon, kein Superstar. Mit „The Untouchables“ (Die Unberührbaren), einer rasanten Mafiakomödie im Chicago der Prohibition, hatte er erst einen einzigen Kassenhit im Rücken. Und am Set von seinem neuen Projekt war neben ihm selber kein anderer A-Schauspieler beteiligt. Das bekannteste „Crewmitglied“ war der 2011 verstorbene Filmkomponist John Barry, der Berühmtheit erlangte durch seine Musik für etliche Bondfilme oder dem Score für „Jenseits von Afrika“. John Barry bekam übrigens für seine schwelgerische und mitreißende Musik zum „Wolf“ zurecht seinen vierten Oscar. Und Graham Greene, der neben Costner die zweite Hauptrolle als weiser „Kicking Bird“ sehr überzeugend mimte und von den Oneida-Irokesen abstammt, stand erst kurz vor seinem schauspielerischen Durchbruch.
Die Dreharbeiten fanden hauptsächlich in der grandiosen Ödnis, den Great Plains, im US-Bundesstaat South Dakota statt, der geographisch genau in der Mitte der Staaten liegt, und landschaftlich genau die Präriebilder ermöglicht, die man für einen ordentlichen Indianerfilm benötigt. Ein Stab von 130 Mitarbeitern kümmerte sich um 48 Schauspieler, 500 Statisten, 300 Pferde und 3500 Büffel. Kevin Costner bestand als Regisseur darauf, dass in einem großen Teil seines Films die Sprache der Lakota, eines Stammes der Sioux, gesprochen wurde, die der Zuschauer unsynchronisiert nur mit Untertiteln übersetzt bekam. Für die Authentizität und den identitären Gehalt der erzählten Geschichte war dieser dramaturgische Kniff allerdings ungemein förderlich! Da selbst die Indianer unter den Darstellern die alte Sprache der Lakota nicht beherrschten, mussten sie vor Drehbeginn einen Monat lang Sprachunterricht nehmen.
Der Film basiert auf dem 1988 erschienen Roman „Dances with wolves“ von Michael Blake und beginnt in den Wirren des amerikanischen Bürgerkrieges. Hier fällt bereits zu Beginn positiv auf, das Costner weder Partei für die Nord- noch für die Südstaaten nimmt, obwohl sein Protagonist, den er ja selber spielt, Offizier der Nordstaaten ist. Allerdings, und dies findet man in keiner Filmchronik, gibt es für die zentrale Gestalt des „Wolf“, den Offizier John Dunbar, ein historisches Vorbild aus Deutschland. Christian Gottlieb Priber hieß der 1697 im sächsischen Zittau geborene Mann. Er wanderte 1730 nach London aus, um dort eine siebenköpfige Delegation von Cherokee-Häuptlingen kennen zu lernen. Priber schiffte sich daraufhin nach Amerika ein und auf verschlungenen Wegen, man spricht von 800 Kilometern, fand er dort im heutigen Tennessee zu den Cherokees und wurde von denen nach einiger Zeit adoptiert. Er assimilierte sich schnell und stieg dort sogar zu einem Würdenträger des Stammes auf. Von Anfang an warnte Priber seine neuen Blutsbrüder vor dem Expansionsdrang der Engländer, er strebte Bündnisse mit anderen Indianerstämmen als auch mit den Franzosen an, um so eine strategische günstigere Position für sein neues Wirtsvolk zu erringen. 1743 wurde er allerdings von den Engländern gefangen genommen, die ihn auf einer Insel vor der Ostküste einkerkerten, wo er bald darauf starb.
Christian Gottlieb Priber 1697-1744
Ähnlich wie bei Costners Filmheld, dem verletzten Nordstaaten – Offizier John Dunbar, fand man auch bei Christian Gottlieb Priber ein dickes Bündel ethnographischer Aufzeichnungen sowie Studien zur Sprache der Cherokee – Indianer. Sie gelten mittlerweile ebenfalls als verschollen, beim „Wolf“ visualisiert man diesen Verlust, indem zum Schluß seiner Odyssee die Kladde mit Dunbars Aufzeichnungen in den Wellen eines Flusses verschwindet. Von daher nehme ich an, dass der Autor des Romans oder sogar Kevin Costner selber die Geschichte des Zittauer Auswanderers und kulturellen und ethnologischen Grenzgängers kannten. Aber dies ist nur eine Hypothese von mir, Belege dazu gibt es nicht. Recherchen dazu im Netz ergaben nichts, die Eintragungen zu Priber sind mehr als dürftig. Meine Informationsquelle war ein Artikel aus der FAZ vom 9.1.2002 unter der Überschrift „Das Königreich des Paradieses“.
Plakataktion: Freiheit für Leonard Peltier („American Indian Movement“)
Obwohl Costners Welterfolg eindeutige Sympathien für die verfolgten Indianer zeigte und den Genozid an den Ureinwohnern Amerikas thematisierte, hat sich bis heute nichts an der rechtlosen Lage der meisten Indianer geändert. Leonard Peltier, 75-jähriger “American Indian Movement“ – Aktivist der ersten Stunde – sitzt nun seit über 40 Jahren im Gefängnis, obwohl Robert Redford einen preisgekrönten Film über ihn drehte und sogar der Dalai Lama oder Miachail Gorbatschow seine Freilassung forderte. Sein in der Gefangenschaft geschriebenes Buch ordnet sich mit einem erstaunlichen Optimismus in den großen geschichtlichen Kontext der indigenen Völker Amerikas ein, die seit Jahrhunderten dafür kämpfen, dass ihre Rechte von den US-Instanzen respektiert und nicht den Profiten von Bodenspekulanten und Bergwerksgesellschaften geopfert werden, die „ihre Mutter Erde“ auf der Jagd nach Uran, Erz und Fracking-Lizenzen zerstören. Oder wie Peltier es ausdrückt: „Ich bin ein Indianer. Mein einziger Wunsch ist es, wie einer zu leben.“
Kevin Costner gehört bis heute der Dank, mit seinem Epos den von der Weltöffentlichkeit vergessenen Indianern, die im Gegensatz zu den schwarzen „Afro-Amerikanern“ keine nennenswerte weltweite (Gutmenschen-) Lobby besitzen, ein ehrenhaftes und überzeugendes Denkmal gesetzt zu haben.
Für jeden Ethnopluralisten und Sympathisanten unterdrückter Völker und Nationen ist dieser Film in Zeiten des großen Austausches und forcierter Umvolkung sowohl Trost als auch ein cineastischer Hochgenuß.
Gerald Haertel
Gerald Haertel ist 62 Jahre alt, gelernter Verlagsbuchhändler, war 33 Jahre in der Musikbranche tätig, u.a. bei Firmen Ariola und Virgin-Records. Lebt in Süddeutschland.
Hier wird antimodernes Landleben verherrlicht! Dithmarscher Jungs singen gegen den Melting Pot? Propagieren das Bauerntum, wollen zurück zur Scholle, ziehen Identität statt Großstadtanonymität vor! Finden Drogen scheiße! Klingt für Euch doch schon nach Verdachtsfall, nach völkischem Rückzugsraum. Oder? Wehret den Anfängen! Alerta!
Schade, daß der olle Fallada das nicht nochmal erleben darf! …
„Freshtorge“, eigentlich Torge Oelrich, ist YouTuber, Comedian und Schauspieler und kommt aus der kleinen Stadt Wesselburen in Dithmarschen, Schleswig-Holstein.
Gerald Haertel
Gerald Haertel ist 62 Jahre alt, gelernter Verlagsbuchhändler, war 33 Jahre in der Musikbranche tätig, u.a. bei Firmen Ariola und Virgin-Records. Lebt in Süddeutschland.