Es gibt keinen Islamismus

von Dr. Winfried Knörzer

Es gibt keinen Islamismus

Wer diese Überschrift liest, wird sich wundern, wird sich vielleicht fragen: wovon redet der Mann da? Ist der irre oder gar von der gegnerischen Seite? Zur Beruhigung der Gemüter möchte ich an den Ausspruch Margaret Thatchers erinnern: „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht“. Mit solchen Paradoxen soll dem Einrasten von zu Worthülsen verkommenen Begriffen Einhalt geboten werden, die das Denken in vorgefertigte Bahnen lenken und damit verhindern.

Die Rede vom Islamismus kam auf, als der Traum von der multikulturellen Gesellschaft im nationalen Maßstab und von der Einen Welt im planetarischen Maßstab ausgeträumt war. Was hatte man von einer multikulturellen Gesellschaft eigentlich erwartet? Man hatte sich diese als ein ins Unendliche verlängertes Stadtteilfest oder eher noch als ein Semesterabschlußfest vorgestellt, da die Propagandisten der multikulturellen Gesellschaft von ihrer studentischen Herkunft geprägt waren: ein Fest mit Kebab, Bongotrommelei, exotischen Gewändern und Sirtakitanz, usw. Ich will nicht abstreiten, daß so eine bunte und harmonische Feier tatsächlich funktioniert, obwohl ich mich zu erinnern glaube, daß solche Veranstaltungen eher öde Angelegenheiten waren, bei denen die ethnischen Grüppchen unter sich blieben und die angepriesenen kulinarischen Köstlichkeiten sich als dilettantisch zubereiteter Stampf entpuppten. Aus solchen einigermaßen positiven Erfahrungen aber aufs große Ganze zu schließen ist aus zwei Gründen falsch. Zum einen ist das Fest eine Ausnahme, dazu bestimmt, rituell die Regeln des Alltags aufzuheben. Es verbietet sich also, von einer Ausnahme eine Regel abzuleiten. Zum anderen repräsentieren ausländische Studenten nicht den Durchschnittsmenschen ihrer Herkunftsländer. Um an einer westlichen Universität zu reüssieren oder zumindest ein halbwegs nutzbringendes Studium zu absolvieren, müssen diese Studenten ein Maß an Disziplin, Intelligenz, Gesittung und Identifikation mit westlichen Denkweisen besitzen, die von dem genannten Durchschnittsmenschen nicht vorausgesetzt werden kann.

Der Menschentyp dagegen, wie er in den Ausländerghettos europäischer Großstädte anzutreffen ist, ist ein ganz anderer, einer, der eher unter dem Niveau des genannten Durchschnittsmenschen einzuordnen wäre. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob dieser Menschentyp primär ist, d.h. ob er sich aus aggressiven Glücksrittern, die in der Fremde das schnelle Geld machen wollen, und aus den in der Heimat Gescheiterten zusammensetzt, oder ob er sich sekundär gebildet hat, als Folge von Enttäuschung, Perspektivlosigkeit und Wohlstandsverwahrlosung. Jedenfalls hat sich eine soziale Formation herausgebildet, die sich durch allerlei unerwünschte Eigenschaften auszeichnet: massives Bildungsdefizit und dadurch auch berufliche Chancenlosigkeit, Kriminalität, aggressives Machotum, Unterdrückung der Frau, Haß auf Schwule, eine rigide und archaische Stammesmoral innerhalb der Familie und Anomie nach außen. Zwar versucht man nach wie vor, diese Problematik im traditionellen Rahmen der Sozialtechnokratie zu deuten und zu beheben. Doch jeder Progressive, der sich aus seinem angestammten Wohnviertel, das sich durch massiven Ausländerzuzug merklich verändert hatte, spätestens dann verabschiedete, als die schulischen Leistungen der Kinder nachließen, er in der U-Bahn belästigt oder dessen Tochter rüde angemacht wurde, mußte sich irgendwann der Einsicht stellen, daß das alles nicht so läuft, wie gedacht. Es mußte also ein neues Deutungsschema entwickelt werden.

Auch in den moslemischen Gemeinschaften hatten sich die ursprünglichen Wunschvorstellungen nicht erfüllt. Die neue Heimat war nicht das Paradies, wo einem die Tauben anstrengungslos in den Mund fallen. Von Sozialfürsorge oder Hiwi-jobs zu leben, mag zwar bequem sein, kann aber auf Dauer nicht befriedigen. Worauf sollten sich Selbstwertgefühl und Selbstachtung gründen? Mehr und mehr übernahm die Religion diese Rolle der Identifikationsstiftung. Mochte man materiell den Westlern unterlegen sein, so garantierte doch die Zugehörigkeit zum Islam eine spirituelle Überlegenheit gegenüber dem religiös ausgezehrten, dekadenten Westen. Sobald der moslemische Ausländer nicht länger als passives Objekt der Sozialfürsorge in Erscheinung tritt, sondern sich als selbstbewußtes Subjekt artikuliert, geschieht dies in religiösem Rahmen. Um einen politischen Anspruch zu formulieren, bedarf es eines Diskurssystems, welches die Welt erklärt und die eigenen Forderungen allgemeinverständlich transportiert. So beriefen sich die Bauern im Bauernkrieg auf das alte germanische Recht und ebenfalls die Religion, die französischen Bürger im 18. Jahrhundert auf die Aufklärungsphilosophie, 100 Jahre später die Arbeiter auf den Marxismus. Man hat sich daran gewöhnt, diese politische Funktionalisierung der Religion als Islamismus zu bezeichnen.

Also gibt es nun doch einen Islamismus, wird sich der verdutzte Leser fragen. Gemach! Man muß einen Begriff dahingehend untersuchen, wie es um den Sachverhalt steht, den er zu bezeichnen behauptet. Zunächst einmal – und das erscheint mir ziemlich wichtig – ist der Islamismus eine Fremdbezeichnung, eine von westlichen Diskursheroen geprägte Formel. Radikale moslemische Aktivisten bezeichnen sich selbst nicht auf diese Weise: sie sind Salafisten, Wahabiten, Taliban oder Al Qaida-Leute, etc. Sie zeigen auch keine Neigung, diesen gegnerischen Begriff zur Selbstcharakterisierung zu übernehmen, wie dies beispielsweise die Geusen (holländische Rebellen) einst getan hatten. Der Islamismus ist mithin nichts anderes als eine Konstruktion, um ein neuartiges und beunruhigendes Phänomen geistig handhabbar zu machen. Da aber alles irgendwie konstruiert ist, nämlich einer symbolischen Überformung unterliegt, darf eine Konstruktion nicht mit etwas Erkünsteltem oder Fiktivem verwechselt werden. Um Plausibilität und Wirkungsmächtigkeit zu entfalten, muß eine Konstruktion einen realen Kern besitzen. Dieser reale Kern des Begriffs des Islamismus ist genau diese durch bestimmte Gruppierungen vorgenommene politische Funktionalisierung des Islam. Aber der reale Kern ist nicht alles. Von einem Aspekt aufs Ganze zu schließen, also vom Islamismus auf die Beziehung moslemischer Einwanderer zu den westlichen Gesellschaften, wäre genau so unsinnig, als wollte man das gesellschaftliche System der BRD vom Feminismus oder vom Straßenverkehr aus ableiten.

Die Diskussion um den Islamismus läuft darum in die Irre, weil man dessen Charakter als Konstruktion verkennt. Man untersucht, wie viele Moslems für die radikalen Botschaften der Haßprediger empfänglich sind, man fragt, ob die politische Radikalisierung nicht im Wesen des Islam begründet liegt, da dieser nicht die abendländische Trennung von politischer und religiöser Sphäre kennt, sondern einen die gesamte Lebenswelt überspannenden Zusammenhang bildet. Da der Islamismus ein von westlichen Meinungsführern geprägter Begriff ist, muß man vielmehr fragen, welche Funktion diese diskursive Konstruktion für das westliche Weltbild beinhaltet.

Nehmen wir einmal an, es gäbe keine Einwanderer aus moslemischen Ländern, sondern nur einen gewissen Prozentsatz von Deutschen, die aus religiöser Überzeugung zum Islam konvertiert wären. Würden diese ihren religiösen Pflichten wie tägliche Gebetsrituale, Ramadanfasten, Speisetabus, Mekkafahrt, Almosenverteilung usw. ordnungsgemäß nachkommen, so würden diese Verrichtungen zwar gelegentliches Kopfschütteln bewirken, aber keineswegs mehr verstören als den „Wachturm“ anpreisende Zeugen Jehovas. Sieht man von diesen partiellen Einsprengseln einer für Europäer fremden Welt ab, würden die sonstigen Sozialbeziehungen sich genau so gestalten wie zu anderen Deutschen auch. Man könnte diese moslemischen Deutschen wie sonstige Bekannte auch zu Grillparties einladen, wobei man ihnen eben Rindswürste und Apfelsaftschorle anbietet, ansonsten aber ganz unbefangen über Fußball, Beruf und das Fernsehprogramm sprechen kann. Man teilt also, mit Ausnahme der direkt religiös durchtränkten Bezirke, die selbe Lebenswelt. Exakt diese Vorstellung haben sich die Multikulturalisten von der Beziehung der Einwanderer zur Mehrheitsgesellschaft gemacht.

Diese Vorstellung ist natürlich falsch. Der Unterschied zwischen Deutschen und moslemischen Einwanderern beschränkt sich nämlich nicht auf den religiösen Bereich, sondern er ist total: anderes Aussehen, andere Musik, andere Nahrung, andere Sprache, andere Werte, andere Verhaltensweisen. Im moslemischen Ausländer begegnet dem Deutschen nicht ein Mensch mit anderen religiösen Auffassungen, sondern eine völlig andere Art des Seins.

Der Unterschied zwischen Deutschen und moslemischen Einwanderern beschränkt sich nämlich nicht auf den religiösen Bereich, sondern er ist total: anderes Aussehen, andere Musik, andere Nahrung, andere Sprache, andere Werte, andere Verhaltensweisen. Im moslemischen Ausländer begegnet dem Deutschen nicht ein Mensch mit anderen religiösen Auffassungen, sondern eine völlig andere Art des Seins.

Die Rede vom Islamismus versucht diesen fundamentalen Unterschied auf ein politisch-religiöses Problem einzuengen und dadurch zu minimieren – ungefähr nach dem Motto: wenn es diese wenigen Fanatiker nicht gäbe, wäre alles bestens. Die Beziehung zwischen Ausländern und Autochthonen wird so auf ein von der eigentlichen Problematik weit entferntes Nebengleis verschoben. Wie eingangs erwähnt, ist das Scheitern der multi­kulturalistischen Utopie auch an den Meinungsführern nicht spurlos vorübergegangen. Durch das Konstrukt des Islamismus, dem die Rolle des unvorhergesehenen Störenfriedes zugewiesen wird, soll die Substanz des multikulturalistischen Projektes wieder eingefangen werden.

Im westlichen Islamismusdiskurs wird die Besonderheit des moslemischen Ausländers auf die Religion reduziert. Er wird im Grunde als eine Art Deutscher nur mit einer andersartigen religiösen Ausrichtung betrachtet. Darum werden auch im offiziellen Politikbetrieb Islamkonferenzen initiiert, zu denen ausschließlich Vertreter religiöser Gemeinschaften eingeladen werden, wobei ironischerweise genau diejenigen Personenkreise außen vor bleiben, wie etwa arabische Frauenrechtlerinnen oder türkische Atheisten, die für echte Integrationsbemühungen am ehesten ansprechbar wären, weil sie selbst schon westlichen Denkweisen anhängen. Es ist schlichtweg grotesk, daß ausgerechnet jene, die vor der religiös motivierten Repression in ihren Heimatländern in den vermeintlichen Hort moderner Liberalität geflüchtet sind, von den Agenten genau dieses repressiven Systems vertreten werden sollen. Das wäre ungefähr so, als müßte sich 1950 ein ehemaliger KZ-Häftling bei einem Entschädigungsprozeß von einem NS-Juristen vertreten lassen. Bezeichnend ist auch, daß man den Kreis der Eingeladenen nach religiöser Orientierung und nicht nach ethnischer Herkunft (also nach Türken, Arabern, Bosniern usw.) strukturiert.

Das Konstrukt des Islamismus beruht auf zwei Säulen: religiöse Orientierung und politischer Extremismus. Beides sind von der Warte der herrschenden Ideologie aus betrachtet, unerwünschte Verhaltensweisen. Religion wird nur insofern akzeptiert, als sie der individuellen Sinnstiftung und als vager verhaltensorientierender Moralkodex dient, mithin also im Rahmen privater Lebensausgestaltung verbleibt. Sobald sie aber mit konkreten und rigiden Forderungen in gesellschaftliche Zusammenhänge eingreift, wie etwa die katholische Sexualmoral, wird sie angefeindet. Daß ein die persönliche Sicherheit gefährdender politischer Extremismus nicht toleriert werden kann, steht immerhin noch außer Frage. Der islamistische Extremismus kann wie jeder andere politische Extremismus auch mit polizeilichen Mitteln unter Kontrolle gebracht werden. Indem das Ausländerproblem auf das Islamismusproblem reduziert wird, kann das daran Verstörende außer Kraft gesetzt werden: die Terroristen werden von der Polizei bekämpft, und die fanatischen Prediger werden in das Schema aufklärerischer Religionskritik gepreßt und als archaische Relikte wegerklärt. Das Islamismuskonstrukt bildet also den Interpretationsrahmen, um ideologiekonform einerseits die unmittelbar drängendsten Aspekte der Ausländerproblematik politisch-praktisch zu bewältigen und mental kompatibel zu machen und andererseits diese Problematik weiterhin verdrängen zu können. Des weiteren kann einer zunehmend skeptischer werdenden Öffentlichkeit suggeriert werden, daß man ihre Sorgen ernst nimmt und etwas unternimmt.

Wenden wir uns nun der anderen Seite zu, der breiten Masse des deutschen Volkes. Unter der Fuchtel der political correctness und des Volksverhetzungsparagraphen stehend, haben die „normalen“ Deutschen kaum eine Möglichkeit, ihre Ängste und Nöte zu artikulieren. Die Verdrängung aus angestammten Wohnvierteln, die permanente Konfrontation mit einer fremden Lebenswelt, alltägliche Erfahrungen von Belästigung (von lauter Musik über Knoblauchschwaden im Mietshaus und Beleidigungen bis hin zu manifester Kriminalität), die durch das Überangebot an Arbeitskräften verschärfte Konkurrenz um Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich – all das kann nicht direkt zur Sprache gebracht werden. Allein die Islamismusformel erlaubt es, zumindest einen Ausschnitt der bedrückenden Wirklichkeit systemkonform zum Ausdruck zu bringen, weshalb auch der Durchschnittsdeutsche mangels Besserem diese bedient.

Das eigentliche Problem ist nicht der Islam, denn am Faktum der Orientalisierung Deutschlands würde sich nichts ändern, wenn die Einwanderer noch an ihre Götter der vormohammedanischen Zeit glauben würden. Das eigentliche Problem ist auch nicht der islamische Terrorismus, denn dieser wird hinreichend erfolgreich von den Sicherheitsorganen bekämpft. Das Problem ist vielmehr die Umwandlung Deutschlands in einen Vielvölkerstaat, in dem über kurz oder lang die autochthonen Deutschen zu einer Minderheit unter vielen werden. Der Islamismusdiskurs ist das Ventil, um den Leidensdruck durch Eröffnung einer Artikulationsmöglichkeit zu reduzieren. Er kanalisiert die Problematik, indem er sie ins Fahrwasser eines rein religiösen Problems umleitet und verengt, dabei aber die Aspekte des Sozialen, Politischen und Ethnischen ausblendet. Indem er einen Teil für das Ganze ausgibt, entwirft er ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit. Wenn man aber erst einmal ins falsche Fahrwasser hineingeraten ist, fällt es schwer, wieder zum richtigen Kurs zurückzufinden.

Dr. Winfried Knörzer

Dr. Winfried Knörzer, geboren 1958 in Leipzig, studierte in Tübingen Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaften, Japanologie und promovierte über ein Thema aus der Geschichte der Psychoanalyse. Berufliche Tätigkeiten: Verlagslektor, EDV-Fachmann. Seit Anfang der 90er Jahre ist er mit Unterbrechungen publizistisch aktiv.

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