Paradies als Heimat, Heimat als Paradies

Der Sonntagsspaziergang, Öl auf Holz
Karl Spitzweg, 1841

von Günther Nenning

Paradies als Heimat, Heimat als Paradies

I. Das Paradies gibt es

Das Paradies gibt es nicht. Doch, das Paradies gibt es. Es gibt die „Heimat, wo wir noch nie waren“ (Ernst Bloch). Es gibt den „Schatten an der Mauer, von Ästen bewegt im Mittagswind, Teilnahme am Himmelsspiel“ (Gottfried Benn). Es gibt „ein seltenes Ankunftsgefühl, verbunden mit dem frischen Rotbraun des gerade umgegrabenen Gartens“ (Peter Handke). Es gibt „beinahe eine Art Festung, in der man sich wohlig geborgen fühlt“ (Friedrich Torberg).

„Du mein Ort, du kein Ort, über Wolken, unter Nacht, über Tag. Ich deine Welle, du meine Erdung“

Ingeborg Bachmann

Oh Gott, was für ein Chor. Bloch, Benn, Handke, Torberg, Bachmann, immer so abwechselnd, immer so weiter, einmal links, einmal rechts, das hab ich absichtlich so ausgewählt. Man muß die Linken ärgern, indem man Rechte zitiert, man muß die Rechten ärgern, indem man Linke zitiert. Die Wahrheit ist nicht links oder rechts, sondern Stücke Wahrheit sind links und rechts und unten und oben.

Heimat ist ein Stück Wahrheit, ein Vordergrund und Hinterhalt, und keiner kommt unbeschädigt dran vorbei. Heimat ist ein Rufzeichen und ein Fragezeichen.

Der letzte erhaltene handschriftliche Satz von Martin Heidegger vor seinem Tod (1975) lautet: „Denn es bedarf der Besinnung, und wie im Zeitalter der technisierten, gleichförmigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann.“
Ob und wie? Und ob und wie!

II. Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft

„Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!“ – Macht man ernst mit diesem historisch ehrwürdigen Schlag- und Stichwort, muß man auch die postmoderne Gleichung ernstnehmen: Faschismus ist Nationalismus ist Faschismus. Und man muß Faschismus/Nationalismus verfolgen bis in sein neuestes, unverdächtiges Versteck, seine kuschelige Euro-Datscha, am Eingang der Sinnspruch in mehreren Sprachen: „Kam’raden, werdet nicht nervös / Wir legen das alte Gesäß / In neue regionale Falten / Und bleiben doch die Alten.“

Andre Fontaine hat in „Le Monde“, unter dem treffenden Motto „Das Märchen vom absterbenden Nationalismus“ eine Liste von 14 regionalen Konfliktzonen präsentiert, weltweit. Er hält Regionalismus eher für ein Heilmittel gegen Nationalismus, und ich will ihn für meine genau gegenteilige Interpretation nicht einspannen. Mir scheint seine kühn subsu­mierende Liste hilfreich, wenn man Regionalismus einmal nicht verharmlosen, sondern dramatisieren will.

Die Liste, in Fontaines bunter Reihenfolge, lautet (die Schlußfolgerungen sind meine):

  • England, das sich in eine sezessionistische Außenregion der EU verwandelt.
  • Auflösung der Sowjetunion in eine bunte Landkarte von Regionalismen, in Wahrheit Nationalismen mit politischen, kulturellen und ökonomischen Ehrgeizen; das zentrale Rest-Reich versucht sie zu beschwören durch Eingliederung als Regionen. Das ist die gleiche Beschwörung, die die EU versucht.
  • Auflösung Jugoslawiens, wo der in Rußland unternommene Versuch, Nationalismen zusammenzufügen zu Regionalismen unter zentralem Dach, offenkundig und blutig gescheitert ist.
  • Kanada, mit fast gelungener Abspaltung der leidenschaftlich französischen Region Quebec.
  • Spanien, wo eine schwache rechtskonservative Regierung überleben will durch Konzessionen an den eingewurzelten Regionalismus der Katalanen. Der noch stärkere Regionalismus der Basken setzt sich fort mit intermittierendem Terror.
  • Nochmals Rußland, im blutigen Konflikt mit dem tschetschenischen Nationalismus, dessen Zähmung zu Regionalismus bereits mißlungen ist.
  • China, dessen ökonomisch, kulturell und sprachlich sehr diversen Küstenregionen zur Abspaltung neigen, sobald die Zentralregierung nicht stark genug ist.
  • Zerfall der Tschechoslowakei; in der nun selbständigen Slowakei heftiger Regionalismus/ Nationalismus der Ungarn.
  • Rumänien; gleichfalls starker ungarischer Regionalismus/Nationalismus.
  • Frankreich; eingewurzelter Regionalismus/Nationalismus auf Korsika, komplett mit blutigem Bombenterror.
  • Nochmals Britannien; der endlose und endlos blutige irische Regionalismus/ Nationalismus.
  • Belgien; Flamen und Wallonen, Regionalismus/Nationalismus schon bis zur faktischen Zweiteilung des Landes und seiner Hauptstadt; welche ironischerweise die Hauptstadt des vereinten Europa ist.
  • Italien; der lombardisch-venetische Regionalismus/Nationalismus; mit grotesken Zügen, aber politisch und ökonomisch vielleicht ernstzunehmen.

Fontaines Liste ist nicht komplett, aber wahrhaft ausreichend für die Frage: Ist Regionalismus so harmlos wie er im EU-Quacksprech aufscheint? Ist Regionalismus nicht vielmehr die neue Verkleidung des alten Nationalismus?

Nationalismus pflanzt sich fort durch Zellteilung.
Im Schoße der alten Nationalstaaten, deren feste
Fügung nun aufgeweicht wird durch die europäische
Integration, entstehen neue Nationalismen, die von
harmlosen Gemütern als Regionalismen dekretiert
werden, und sogar als Alternativen zum Nationalismus.

In Wahrheit handelt es sich um Nationalismus zum Quadrat: der ökonomisch motivierte Euro-Nationalismus der EU wird gesprengt durch neue Nationalismen in den alten Nationalstaaten; die alten Nationalstaaten werden gesprengt durch den neuesten Nationalismus namens Regionalismus.

Ja, ja, Regionalismus ist EU-konform. Übersetzt aus dem Euro-Quacksprech in der Euro-Realität heißt das: Regionalismus ist Fortsetzung des Nationalismus mit anderen Mitteln, die die gleichen sind, nur EU-gefördert.

III. „Regio“, königliches Land

„Regio“ war zu gewissen Zeiten ein dem „rex“ gehöriges Gebiet, „Königsland’’.
Im frühen Mittelalter bezeichnete dies die Hervorhebung von wesentlichen Besonderheiten eines Landes unter königlicher und insofern zentraler Verwaltung. Aber „königlich“ war nicht nur der administrative Ausdruck von Oberhoheit und Einheitlichkeit; „königlich“ bezeichnet metaphorisch auch die hochrangige Eigenheit der betreffenden Region.

„Königlich“ als höchstes erhältliches Adjektiv bezog sich sowohl auf Rang und Besonderheit der Region wie auf deren Unterworfenheit unter den König. Sie waren gleichwertig, Besonderheit und Einheitlichkeit. Buntheit, Vielfalt und Vielzahl der Regionen waren unerläßlich für Glanz, Wert und Würde einer darüber gebreiteten Einheit des Reiches. Heute ist das umgekehrt. Die Verschiedenheit der Regionen ist störend und ärgerlich für die notwendige Einheitlichkeit des Marktes. Statt Regionaltrachten „United Colors of Benetton“.

Zu Wert und Würde EU-Europas trägt regionale Vielfalt nicht nur nichts bei, sondern sie ist ein Hindernis für die Wertschöpfung. Wenn in jeder Region anders gegessen, anders getrunken, anderes Zeug konsumiert werden will – so muß Regionalismus abgeschafft werden, möglichst rasch und möglichst radikal. Verschiedenheit ist altmodischer Blödsinn.

Freiheit der Wirtschaft heißt: Sie ist frei alles zu beseitigen, was ihrer Freiheit entgegensteht, uns allen immer mehr vom immer Gleichen zu verkaufen. Unser Lohn ist Billigkeit in jeglichem Sinn.

Die Hoheit der Region, die in ihrer Etymologie sich als eine „königliche“ enthüllt, ist in der Demokratie des National- wie des Kontinentalstaates nicht herstellbar. Und zwar genau bis zu dem Zeitpunkt nicht, wo ihre Wiederherstellung nötig wird: nämlich bei Scheitern der zentralisierenden und konzentrierenden Wirtschaftsweise und damit verknüpfter emotionaler Wiederkehr von Halt und Wurzel in einer Heimat.

Das ist Zukunftsmusik. Derzeit ist ernsthafte Autonomie der Regionen zwar wesentlicher Bestandteil wahrer Demokratie, aber nicht realisierbar in der realen Demokratie, mit zentraler Regierung, zentralem Parlament und deren Übermacht über alle denkbaren regionalen Konzessionen.

Wahre Autonomie der Regionen widerspricht den ureigenen Interessen der Zentralinstanzen, vor allem den Interessen der von diesen Zentralinstanzen geförderten zentralisierenden Ökonomie.

Die historische Hauptaufgabe politischer Zentralinstanzen ist die Förderung einer einheitlichen Ökonomie. Dieser ökonomische Zweck war der historische Hauptzweck der Nationalstaaten und ist der aktuelle Hauptzweck des Kontinentalstaates, als welcher sich die Brüsseler Bürokratie etablieren möchte. Die Regionen spielen da nur eine Rolle als verschleierndes Blabla in unzähligen EU-Papieren.

„Integrierte Regionalentwicklung“ heißt: Stört die Integration nicht, ihr kriegt zur Belohnung schöne Worte und vielleicht ein bißchen Geld.

IV. Region, ein Schwindel

„Region“ ist ein Schwindel, ein Kunst- und Heuchelwort. „Region“ ist die Ausrede für alle, die sich nicht getrauen, „Heimat“ zu sagen. Und erst recht für alle, die Heimat redlich hassen. Und zwar sind sie desto gehässiger, je tiefer ihre innerste Sehnsucht ist nach Heimat und Halt.

Mir sind die redlichen Heimathasser lieber als die Vorsichtigen, die „Heimat“ schon sagen möchten, aber „Region“ sagen, um sich keine politischen Verdächte einzuwirtschaften.

Es ist ein Teufelskreis. Weil jene vielen, die „Heimat“ sagen möchten, sich fürchten, „Heimat“ zu sagen, werden jene wenigen, die „Heimat“ trotzdem sagen, desto gehässiger heruntergemacht von den Heimathassern.

Hoch lebe die Region! Sie ist das Zauberwort für Verschweiger und Verharmloser.
Freilich ändert sich das allmählich zum schlimmbesseren. Im Zuge des schleichenden Rechtsrucks wird Heimat ein Modewort im fremdenverkehrsfördemden Talmi-Kulturbetrieb. Wer alles heute wieder von „Heimat“ redet und mit ihr in Wahrheit nichts am Hut hat – das ist arg.

Kein noch so ehrenwerter Veranstalter entgeht gänzlich dem Verdacht Kundiger wie Unkundiger, daß er neben die politisch korrekte „Region“ die unkorrekte „Heimat“ deswegen setzt, weil ma halt scho wieder derf und weil’s vielleicht gut ist für die „integrierte Regionalentwicklung“, wie das im EU-Slang genannt wird. Heimat wird wieder, was auf anglodeutsch „trendy“ heißt.

„Region“ und „Heimat“ stehen in einem Zusammenhang, in welchem kompliziertes Herumreden die bessere Lösung ist, verglichen mit der Wahrheit. In Wahrheit bleibt „Region“ ein Kunstwort zur Behübschung der Integration EU-Europas, sprich: Vereinheitlichung, Konzentration und Zentralisation.

Was immer man hinzufügt zu „Region“, es bleibt ein Krampf. „Integrierte Regionalentwicklung“ ist Gipfel der Heuchelei. Integration ist die Einschmelzung aller Heimaten in eine große Nicht-Heimat; die daraus resultierende Halt- und Rat-, Hilf- und Heillosigkeit, Depression und Desperation der Seelen wird verschlimmbessert durch Konsum, Konkurrenz, Jobangst, Jobverlust, Wachstum, Weltmarkt und andere Borniertheiten.

Gerade darum wird „Region“ immer schwindelhafter, „Heimat“ immer aktueller. Zwecks Gegenwehr kommt es zur Mobilisierung einer ganzen Euro-Brigade von „Regionalwissenschaftem“ zur Unterfütterung der dürftigen Regionalideologie gemäß Maastricht-Vertrag. Auf Wissenschaftsdeutsch heißt Heimatgefühl „kognitive und emotionale Regionalidentitäts­akzeptanz“. Oh Heimat, ich krieg Regionsweh nach dir.
Dürftiges Ergebnis der neuen „Regionalwissenschaft“:

„Regionalidentifikationsakzeptanz“ (Heimatgefühl) läuft über Ästhetik und Geschichte. „So schön wie bei uns ist’s nirgends“.

Und, Zitat vom feinsten: „Ich will nur dort sein, wo schon etwas gewesen ist“ (Ingeborg Bachmann).

Geschichte ist die große Feindin aller Modernität. Vergangenheit ist unausrottbar. Vergleiche mit der Vergangenheit können schiefgehen zuungunsten der Gegenwart und erst recht der Zukunft. Dieses Risiko will Modernität nicht eingehen. Alle Geschichte ist verdächtig; alle Schönheit ist verdächtig. Wer Geschichte schön findet, ist reaktionär. Wer reaktionär ist, findet Schönheit schön. Mehr noch als Geschichte ist Schönheit die Feindin von Gegenwart und erst recht Zukunft. Training auf Häßlichkeit ist Überlebenstraining. Wir müssen das Hexeneinmaleins lernen: Häßlich ist schön, und schön ist häßlich.

Schöne häßliche Zukunft: Unter dem Kommando des sich konzentrierenden Kapitals werden die Regionen eingeebnet. Ihre schönen Idiosynkrasien sind ebenso viele häßliche Hemmnisse für die Einheit des Marktes. Die Vernichtung der Regionen geschieht unter ständigem Absingen von Hymnen auf den Regionalismus.
Natürlich ist die EU, zusammengsetzt aus demokratischen Staaten und selber so ungefähr vierteldemokratisch – nicht zu vergleichen mit totalitären Staaten. Insofern aber schon, als auch in ihr das Regionale eine Art Folklorismus darstellt, zur Tarnung eines in allen wesentlichen Punkten zentralistischen und bürokratischen Gebildes. Unterm kommunistischen Zen­tralismus ist ja gleichfalls das regionale Trachtenwesen, das Volkstänzen und Volkssingen lebhaft gefördert und subventioniert worden bis zum Tode.

Der Schein-Regionalismus ändert nichts am ökonomischen Prozeß, der sich machtvoll in der EU vollzieht. Die EU ist der gewaltigste ökonomische Konzentrationsprozeß in der Geschichte Europas. Die Regionen sind nur Feigenblätter. In Wahrheit ist der EU-Kaiser nackt.

V. Ökonomie statt Heimat

Politik ist Phantasie, Kraft und Kunst zugunsten des Polis. Als solche scheint sie, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr vorfindbar, nicht in den einzelnen EU-Nationalstaaten, nicht in der EU-Zentrale.

Politik hat abgedankt zugunsten Ökonomie. Politik macht nur noch Begleitmusik zur Ökonomie. Und Ökonomie verfehlt immer deutlicher ihre altmodische, wortwörtliche Zieldefinition: OIKONOMIA als Kunst, wie man gut wirtschaftet zugunsten der Menschen im Haushalt wie im Staat.

Adam Smith war, was immer man sonst von ihm halten mag, Professor der Moralphilosophie. Bill Gates ist seine Karikatur, ein Buberl, übersät mit den eitrigen Pusteln des Profits.

In Österreich haben wir einen absterbenden Nachklang der wahren Ökonomie als Akkord von Leben, Arbeit und Nahrung, alle drei sowohl schwierig wie gesund: Der Bundespräsident verleiht an verdiente Landwirte den Titel „Ökonomierat“. Aber immer seltener, denn Landwirtschaft ist ihrem Urgrund gemäß keine Profitwirtschaft.
Derzeitige Ökonomie ist das Gegenteil von gesundem Leben, gesunder Arbeit, gesunder Nahrung. Ökonomie verkommt zum dummdreisten Ersatz von arbeitenden Menschen durch zweckmäßige Maschinen. Ökonomie degeneriert zum reinen Unsinn: Wenn „alle“ keine Arbeit mehr haben, kann „keiner“ mehr was kaufen. Finis mundi capitalistici. Kladderadatsch.

Bis dahin gilt: Ökonomie ist allmächtig. Ob Region oder Heimat, beide verkommen zur zynischen oder nostalgischen Redensart. Beide sind nur noch gut zum Schindluder treiben.

Nur in einem einzigen Punkt kehrt sich das Machtverhältnis um. Weder die Ökonomie noch gar ihre Hure, die Politik, vermögen unserem Leben Sinn zu geben, anderen Sinn als Blödsinn. Heimat kann genau dies. Und zwar unbeschadet jeglichen Schindluders, das mit ihr getrieben wird.

Heimat ist stärker als ihr Mißbrauch. Sie kann Sinn bieten. Halt, Wurzel, Geborgenheit, überhaupt Gefühl – all das, was derzeit weder Politik noch Ökonomie bieten.

Die Gefühlspotenzen von Politik und Ökonomie sind näherungsweise null. Altbewährte Mythen und Verführer wie Konsum, Wohlstand, Leistung landen auf der Mülldeponie der Weltgeschichte, Arbeitslosigkeit wird zur einzig verallgemeinerungsfähigen Zukunft.
Auch die gefürchtete mythologische und ästhetische Potenz faschistischer Politik ist nur noch eine Karikatur der Hitler- und Mussolinizeit.

Je geringer die Gefühlspotenzen von Politik und Wirtschaft zu veranschlagen sind, desto höher steigt der Mythos Heimat. Zumal auch Kultur und Kunst, modern gefaßt oder postmodern, derzeit, von wichtigen Ausnahmen abgesehen, meist keine Gefühlsmacht haben über die sogenannte „breite Masse“. Ebendrum ist dies die Stunde der „Volksmusik“, der schlech­ten wie der guten.

Wir befinden uns in einer Stunde Null, abzulesen am verläßlichen Barometer Literatur. Die neue Gefühlspotenz der Heimat hat sich kaum noch in die Aktualität von neuer Heimatliteratur umgesetzt, gemeint als Literatur, die strengen und strengsten Kriterien standhalten müßte.

Umgekehrt ist auch die Antiheimatliteratur solchen Kriterien nicht gewachsen. Gerade im konservativen Österreich hat die Antiheimatliteratur Karriere gemacht. Sie brachte es zu angeblich oder wirklich internationaler oder wenigstens deutscher Beachtung. Aber das war ein typisch österreichisches Umkehrphänomen: Die Österreicher kommen immer dann in den Rang einer Avantgarde, wenn sie ihr eingeboren Konservatives bedenkenlos auf den Kopf stellen.

Wo Heimat auf reaktionäre Weise geliebt wird, kann sich Heimathaß als fortschrittlich etablieren. Österreichliebe und Österreichhaß sind zwei Seiten der gleichen Heimweh-Medaille.

VI. Geistige Wühlarbeit

Auf die EU schimpfen ist leicht und schön. Aber was soll geschehen?
Die ökonomische Entwicklung zu Größe und Einheit und die zugehörige psychische Entwicklung und vergebliche Feier von Größenwahn und Einheitswahn – läuft allen wesentlichen Interessen der Regionen/Heimaten stracks zuwider. Der EU-Kapitalismus ist eine Entwicklungsphase von großer historischer Dynamik. Man kann sie nicht überspringen oder weg­ dekretieren, vielleicht abkürzen oder mildern.

Nur diesen Trost kann sich aus der Geschichte jeder ihrer Liebhaber holen: Noch so unwiderstehliche Haupttendenzen einer Epoche erzeugen stets Gegentendenzen. Die Haupttendenz arbeitet durch Verallgemeinerung, Ausdehnung und Überdehnung schließlich an ihrem eigenen Untergang. Ebendrum kann und muß man Gegentendenzen fördern, ohne pedantische Beachtung ihrer realen Nullchancen im gegebenen historischen Augenblick.

Untergangsarbeit ist immer zuerst Ideenarbeit. Geistige Wühlarbeit. Die frontal und derzeit unbesiegbare Haupttendenz wird von seitwärts und ins künftig angegriffen, unter- und schließlich begraben. Mit jener mysteriösen Eleganz, die auf Begräbnissen der Weltgeschichte derigueur ist.

Die gegenwärtige Haupttendenz der Ökonomie,
in Richtung auf Übergröße und Übertechnisierung,
zerstört den Arbeitsmarkt und damit zugleich den
Konsumentenmarkt. Sie ist so konsequent blind und
blöd wie ökonomische Tendenzen immer.

Genau dies öffnet das weite Feld der Ideenarbeit. Während die realen Arbeitsplätze schwinden, kriegen die Ideenarbeiter, unbeschadet dessen, daß sie gleichfalls joblos werden, zu tun. Im klassisch-kritischen Aufweis der Dummheit der Ökonomie, und viel wichtiger und munterer: Im Aufbau von gegenständigen Geisterreichen.
Zu den subversiven Geisterreichen gehören: Heimat, ganz allgemein und hervorragend; Österreich, mit all seinen lächerlichen Eigenheiten und Dauerhaftigkeiten; Mitteleuropa, als ein konservatives Gegenreich zum fortschreitenden Westen. Und sonst noch allerhand.

So wenig wir uns die Haupttendenz der gegenwärtigen Geschichtsepoche aussuchen können nach unserer ideologischen Geschmacksrichtung, so wenig können wir dies mit den Gegentendenzen.

Am besten sind wir noch dran mit der ökologischen Gegentendenz zur ökonomischen Haupttendenz. Bei flüchtigem Hinblick kann uns das „Grüne“ als schlechthin fortschrittlich erscheinen. Wir können es entdecken im Zug zum Kleinen und Eigenständigen, das zum Wesen des Regionalen wie Heimatlichen gehört. Und ins „grüne“ Fach können wir auch ein­schlichten das angeblich ökologische Musterland Österreich.

Und Österreich wie Mitteleuropa sind beide natürlich auch „grün“ als Widerstandszentren gegen Giga-Europa und dessen ökonomische und technologische Monstrosität..

Theoretisch bringt das alles nicht viel, aber praktisch wärmt es das Herz. Und Widerstandsarbeit ist nur möglich und lustig als Herzensarbeit.

VII. Heimat wörtlich

Bezeichnenderweise hat das deutsche Wort „Heimat“ keine genaue etymologische Entsprechung in anderen europäischen Sprachen. Auch bedeutungsgeschichtlich steht „Heimat“ isoliert da als typisch deutsche Gefühlsduselei. „Heimat“ und unübersetzbar. Als Fremd- und Spottwort geistert es durch andere Sprachen, wenn Deutsches, Allzudeutsches denunziert werden soll und muß.

Das gilt nur für das emotional und ideologisch aufgeladene Abstraktum „Heimat“. Das schlichte Konkretum „Heim“ hingegen hat sehr wohl seine Entsprechungen in allerlei europäischen Sprachen bis hinauf zum alten Griechischen.

„Heim“ hat als indo-europäische Wurzel KOIM, die sich im Griechischen findet in:
KOME, „Dorf’, eigentlich „Heimstätte“. Es ist das Wort für unkriegerisches, friedliches Siedeln. Im Gegensatz zu POLIS, der befestigten Stadt mit krönender Burg (AKROPOLIS), wo die Organe des Staates ihren heiligen Sitz haben und die ewig kriegführenden Ritter und Militärs. Als Fremdwort gehören hierher: „Polizei“ und „Politik“. POLIS, die Stadt ist politisch; KOME, das Dorf, unpolitisch.

KOMOS, „Festzug, Gelage, Tanz, Gesang“, ursprünglich: „Umzug ausgelassener, angetrunkener Dorfjugend“. Als Fremdwörter gehören hierher: „Komik“ und „Komödie“.
KOMA, „Liegen, tiefer Schlaf, Todesschlaf’. KOIMEMA, „Liegen, Schlafen“, ebenso „Beiwohnen, Beischlaf’. KOIMETERION, „Schlafzimmer“, ebenso „Grabstätte“.
KOIMESIS, „Liegen, Schlaf’, ebenso „Todesschlaf, Heimgang“. In ostchristlicher Theologie und Ikonenmalerei ist dies das Wort für die „Entschlafung Mariens“ und ihre anschließende Himmelfahrt am 15. August. Sie stirbt und steht wieder auf; genaugenommen stirbt sie gar nicht, schläft nur und kommt gleich in den Himmel. Seltsam genug hat Maria den Vorzug vor Jesus, daß sie aufersteht ohne gestorben zu sein.

In dieser sehr reichen Verzweigung läßt sich die Wortsippe „Heim“ trümmerhaft auch in anderen europäischen Sprachen aufspüren.

Übrigens gehört zur Wortfamilie von „Heimat“ und „Heim“ natürlich auch das „Heimchen“, die Grille, die in ihrem Käfig am häuslichen Herde gemütlich ihr Liedchen zirpt, während die gute Suppe brodelt.

Heimat ist, wo es zirpt.
Heimat ist, wo man liegt, sich befindet,
ißt und trinkt, musiziert, tanzt, besoffen ist.
Feste feiert, mit komischem Beigeschmack.
Heimat ist, wo man stirbt, tot da liegt, begraben ist.
Und wieder aufersteht, nach und trotz Todesschlaf.
Heimat ist Dorf, wo man Frieden hat,
während es in der Stadt zugeht.
Heimat ist unpolitisch, steht gegen Stadt und Staat.

Wem dieser Befund nicht reicht, ist hoffnunglos. Es gibt viele Hoffnungslose. Wer hoffnungslos ist, hat keine Heimat. Aber verkappte Sehnsucht. Heimat ist, wo er noch nie war. Und auch angeblich nie hinwill.

Mitleidend stimmen wir mit ihm überein: für einen auch nur einigermaßen fortschrittlichen, liberalen und multinational gesinnten modernen Menschen ist und bleibt Heimat das Letzte. Wort und Begriff, Gefühl und Realität von Heimat liegen ihm stagelgrün auf. Und so tief sitzt der Brechreiz, daß der besorgte Analytiker eben fragen könnte, mit dem notwenigen Quentchen Bosheit: Sitzt nicht ebenso tief wie die Abneigung gegen Heimat die verleugnete Sehnsucht, das Heimweh?
Naja, fragen wird man ja noch dürfen?

VIII. Was ist Zeitgeschichte

Wenn man sich nicht mehr auskennt, soll man die Sprache befragen, seine eigene Sprache, die Sprachen der Welt. Sprache ist Orakel; Geheimnis und Lösung zugleich.
Wort und Begriff „Heimat“ sind verdorben worden in der Nazizeit. Ja. Aber das ganze reiche Wort- und Begriffsfeld „Heimat“, das sich über einen Gutteil von europäischen Sprachen erstreckt und hinabreicht in Jahrtausende – das preiszugeben ist Pseudo-Antifaschismus; Ängstlichkeit statt Mut zum Eigenen und Eigensten. Wer Heimat will, darf nicht zurückwei­chen vor faschistischer Verdrehung.

Aufklärung über Faschismus, auf daß er nie wiederkehre, ist die vornehmste praktische Aufgabe dessen, was „Zeitgeschichte“ genannt wird. Zeitgeschichte ist was typisch Deutsches. Als ob nur unsere Zeit Gegenstand von Geschichte wäre. Als ob nicht alle Geschichte Zeitgeschichte wäre. Zeitgeschichte ist die sehr deutsche Kunst, alle Geschichte verdächtig zu finden, die nicht Geschichte des Faschismus ist.

Gewiß kann man gar nicht genug tun gegen den Faschismus. Aber es gibt einen Antifaschismus, der das von ihm Bekämpfte durch ständige Beschwörung neu hervorzubringen versucht, um es neu bekämpfen zu können durch ständige Beschwörung. Da capo sino al fine.

Zeitgeschichte ist immer zu kurz gegriffen. Zeitgeschichte heißt: Allzutief in die Geschichte will ich mich nicht wagen. Ich bleibe in unserer Zeit, einschließlich kürzlicher Vergangenheit; und wenn ich dann, wegen zu kurzen Griffes, nicht begreife, desto schlimmer – nein, nicht für mich, sondern für die Zeit. Ich denunziere sie, bewältige sie, treibe Vergangenheitsbewältigung als Vergangenheitsvergewaltigung. Ich greife ihr an die Gurgel und rufe: Kusch, jetzt rede ich.

Ja. das ist ein etwas ungerechtes Porträit des Zeitgeschichtlers.

Abhilfe bietet am sichersten das Sich-Hinablassen in die Sprache. Vor Wörtern mit ihren uralten Wurzeln verblassen Phrasen.

Der Marxist und Mystiker Emst Bloch hat „Heimat“ nicht ideologisch abstrakt gefaßt, sondern konkret und architektonisch, als gebaute Heimstätte. Er ist, wie man im Grimmschen Wörterbuch nachlesen kann, im Einklang mit deutschen Mundarten, wo „Heimat“ einfach Haus und Hof, auch bebauter Ackerboden heißt.

Dichter haben das Architektonische von Heimat, das Steinerne, Umbaute, Umschlossene gerne aufgesprengt in alle Richtungen der Windrose. In jeder dieser Richtungen kann Heimat sein, und der ganze Kreis der Schöpfung wird einbezogen in den Begriff. Im Grimmschen Wörterbuch finden sich die folgenden zwei schönen Exempel:

„Und Vögel flogen nach diesen und jenen Richtungen wie nach verschiedenen Heimathen.“

Adalbert Stifter

„Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer, Wie Sprache der Heimat rauscht mir dein Wasser.“

Heinricht Heine

Ja, die deutschen Ideologen hatten den engsten Begriff von Heimat. Aber die deutschen Philosophen und Dichter den ideologiefreiesten, weitesten. Bei Herder reicht der Bogen von Heimat als einige Fußbreit Heimaterde – bis Heimat als die ganze Erde, planetarische Heimstätte für Weltbürger.

Hiermit entschuldige ich mich bei meinen Freunden, den Zeitgeschichtlern. Ich meine halt nur: Sie bedürfen der Ergänzung durch Literatur und überhaupt Sprache.

IX. Heimat, ein Skandal

Ungeheuerlich, daß der Marxist und Mystiker Ernst Bloch sein „Prinzip Hoffnung“ nach mehr als anderthalbtausend Seiten, zehn Jahren Schreibarbeit (1938-1947), beschließt mit einem letzten Wort, das lautet: „Heimat“. Meist wird der Schlußsatz zitiert als: „Heimat ist, wo wir noch nie waren.“ Wie so oft bei Zitaten, die wirklich weiterleben, ist das eine den exakten Wortlaut überflügelnde Vereinfachung, eine Deutlichkeit, deutlicher als der Autor. Der letzte Satz des „Prinzips Hoffnung“ lautet (Subjekt des Satzes ist: „der Mensch“):

„Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Oh, der große Hexenmeister. In seinem Alchemisten-Kolben kocht er Disparates, bis es zusammenschmilzt, krumm oder grad Bloch verkocht:

Aufklärerisches: Der Mensch „erfaßt sich selbst“. Münchhausen zieht sich selbst am Zopf aus dem dumpfen Weltsumpf, ans Licht.

Marxistisches Esperanto: „Entäußerung und Entfremdung“. Durch den Speichel vieler Ideologen-Münder ausgewaschen, in 150 Jahren schal geworden; auch bei Bloch wahrhaft nicht mundfrisch. Entehrt durch die Katastrophe des realen Sozialismus. Und doch. Und doch.

Westliche Demokratie: Bloch war ja verdächtig lang in den USA (1938 – 1949). Der Marxist verzichtet nicht darauf, die Demokratie ernstzunehmen. Er zieht dem Hauptwort ein adjektivisches Kondom über, um sich vor Infektion zu schützen. Nicht Demokratie, täuschende, enttäuschte, aber „reale Demokratie“. Das schon.

Kindheit: Nun der typisch Bloch’sche Salto aus der Fachphilosophie in die Dichtung. Nichts neu zu Bauende, kein Kartenhaus aus Begriffen, nein, etwas deutlich Dämmerndes, ein Konkretes, das wir einst schon fast hatten, „etwas, das allen in die Kindheit scheint“. Revolution ist nicht Vollzug einer unerhörten Zukunft, sondern Vollendung einer vertrauten Vergangenheit. Revolution ist wahrgewordener Kindertraum.

Bei Marx, dem jungen (1843, 25jährig, Brief an Rüge; es ist Blochs Lieblingszitat) träumt den Kindertraum von Revolution die ganze Welt:

„Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie selbst zu besitzen.“

Ja, was denn für eine „Sache“? Bloch flippt urplötzlich aus aller linken Orthodoxie und exhibiert sich als Romantiker. Die „Sache“ nennt er nicht Sozialismus, Kommunismus, klassenlose Gesellschaft, sondern schrecklich schlicht, zwei Silben, sechs Buchstaben Heimat.

Ja, Heimat, ein Skandal.

X.

Alle wichtigen politischen Begriffe haben in letzter Instanz religiöse Wurzeln. Wir müssen Heimat nur weit und kühn genug zurückverfolgen und wir landen im Paradies. Religion ist Sehnsucht aus dem Elend des Ist-Zustandes in einen besseren. Draus folgt: Heimat ist eine religiöse Kategorie – freundlich gesagt. Hart gesagt: Heimat ist eine pseudoreligiöse Kategorie. Für Nationen gilt beides erst recht: das Freundliche und das Bittere. Wer Religion für interessant hält (für das Interessanteste überhaupt), muß die unscharfe Welt der Ersatz-Religionen einbeziehen, und zwar, insofern die Religion daran Anteil hat, auf freudliche Weise.

Heimat ist sowohl das vergangene
Paradies wie das künftige.
Das längst Vergangene
und das längst noch nicht Kommende
finden zu einer rührenden, rührseligen,
authentisch seligen Einheit und Einfalt.

Im Paradies waren wir noch nie, und doch kennen wir es, an Hand des unverwüstlichen Modells „Heimat“. Es ist Himmelsgefühl (Benn), und doch waren wir noch nie im Himmel, Ankunftsgefühl (Handke), und wir sind doch noch nie dort angekommen. Es ist Mauer und Garten, Festung und Geborgenheit (Torberg) Erde und Wasser, Mein-Ort und Kein-Ort (Bachmann).

Das Paradies hat seine Grenzen, sonst wäre es überall und nicht nur in der Heimat. Natürlich ist die Heimat aller Völker aller Weltgegenden schön, vielleicht schöner als unsere eigene Heimat, jede fremde Heimat hat nur den einzigen Makel, daß sie nicht meine Heimat ist.

Wer sagt: „So ein Blödsinn, Heimat ist überall“ –
hat ganz recht.
Heimat ist überall, nur meine Heimat ist hier.

Das Paradies hat seinen Namen davon, daß es umgrenzt ist. Das Wort kommt aus dem alten Persischen (Awestischen). „pairi daeza“ ist das „Um-mauerte“. Der „hortus inchusus“, „der verschlossene Garten“ ist in der lauretanischen Litanei das Schmuckwort für die Jungfrau Maria, die im Paradiesgärtlein sitzt, umgeben von Tieren und Pflanzen, Kräutern und Bäumen, Wiesen und Gewässern.

Pison, Ghihon, Hidechel und Euphrat benennt die Bibel die vier Flüsse, die unterm Paradiesbaum entspringen. In den Paradiesen der anderen Weltregionen fließen andere Flüsse, aber das Prinzip ist das gleiche; in jeder Heimat fließen Flüsse. Auch sonstiges Paradies-Inventar und -Personal wechselt je nach Religion. Im buddhistischen Paradies, so auf dem Wandgemälde eines Tempels von Bangkok, wimmelt es von wunderbaren Elefanten, weißen, rosaroten, grasgrünen.

Daß alles Unmögliche möglich ist, gehört zu Erkennungsmerkmalen eines jeden Paradieses. Friedrich Heilr, in seiner ungeheuer detailreichen Studie „Erscheinungsformen der Religion“ nennt als die Hauptmerkmale aller Paradiese der Weltreligionen: Nahrungsfülle, Leidlosigkeit, Gottesnähe.

Damit kann kein irdisches Paradies konkurrieren, außer als Gegenstand der Sehnsucht und Zukunft. Aber das immerhin haben das himmlische Paradies wie die irdische Heimat gemeinsam, daß sie von der sehnsüchtigen Seele nach den gleichen architektonischen Prinzipien gebaut werden. Ernst Bloch, natürlich wieder er, fragt und antwortet:

„Wie kann menschliche Fülle in Klarheit wieder gebaut werden? So beginnt mit Extrovertiertheit zum Kosmos, doch in Zurückbiegung seiner zum Lineament einer Heimatarchitektur insgesamt ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat… das Umschließende gibt Heimat.“

Nun, „das Umschließende“ ist die etymologisch exakte Übersetzung von „Paradies“ (persisch) ins Deutsche. Daß der Linke Bloch sich einläßt auf Heimat, ist und bleibt ein Skandal, wiederum im etymologisch exakten Wortsinn:

Griechisch „skandalon“ ist das Wort für die Falle, die der Jäger stellt (wahrscheinlich ein uraltes Lehnwort aus dem vorderen Orient). „Skandalon“ ist speziell das Fallholz, jener entscheidende Bestandteil der Falle, an die das Tier mit der schnuppernden Schnauze anstößt, das Fallholz fällt, die Falle schnappt zu.

Heimat, süße Falle, die zuschnappt, Paradieses Vorausglanz.

Manuskript zum Vortrag von Günther Nenning am 15.2.1997 auf Burg Ludwigstein bei einer Veranstaltung der Unabhängigen Ökologen Deutschlands. Mit Genehmigung des Autors zuerst erschienen in der Druckausgabe der Zeitschrift wir selbst, Ausgabe 1/1998.

Wir werden auch in Zukunft einzelne Artikel aus älteren wir selbst-Ausgaben, sofern sie für unsere neue Internetplattform programmatischen Charakter haben, neu und wiederholt veröffentlichen.

Günther Nenning

Dr. Dr. Günther Nenning (1921-2006) war Journalist, Autor, Fernsehmoderator (Club 2) und Religionswissenschaftler. Er galt als „wendiger, intellektueller Vor- und Querdenker der Alpenrepublik“, als „Wahrheitssucher im Kostüm des Anarchisten“. Als Sozialist und Mentor der GRÜNEN während der Gründungsphase in Österreich engagierte er sich gegen das AKW Zwentendorf und wurde schließlich aus der SPÖ geworfen. Er bezeichnete sich selbst als „kulturdeutsch“ und „östereichischnational“. In „Grenzenlos deutsch“ und „Die Nation kommt wieder“ nahm Nenning zur nationalen Frage Stellung.

Die Macht des Symbolischen

Die Macht der Symbole:
Bildmedien haben das Druckmedium symbolisch zur Strecke gebracht (A.Paul Weber)

von Klaus Kunze

Die Macht des Symbolischen

Die Chancen rationaler Politik stehen schlecht. Die Massen-Medien-Demokratie belohnt es nicht, Interessen rational vorzutragen und zu vertreten. Ihre Spielregeln begünstigen Strömungen, die sich emotional geben und diese Gefühle in Form bestimmter Symbole gießen.

Symbolon nannten schon die antiken Griechen ein Wiedererkennungszeichen unter Freunden. Mit dem Verb symballein bezeichneten sie es, wenn ein zerbrochenes Stück wie ein Ring wieder aneinandergehalten wurde. Paßten die Teile zueinander, hatten sich die Richtigen gefunden. Symbole wurden zum festen Bestandteil menschlicher Kultur vom urchristlichen Fisch bis zum modernen Smiley. Sie symbolisieren zusammengehörende Menschen, aber auch ganze Wörter, Sätze, Gefühle oder Glaubensbekenntnisse bis hin zu komplexen Weltanschauungen.

In unserem Medienalltag haben sie das gesprochene Wort verdrängt und ersetzt. Das gilt überall da, wo eine Sendung produziert wird, um Menschen zu beeinflussen: bei der Produktreklame, in Nachrichtensendungen, in Vorabendserien. Bildsymbole erkennt jeder sofort als Symbol. Wer in der Sportschau das Symbol eines konkurrierenden Vereins sieht, schaltet innerlich schnell auf Abwehr.

Viel wirksamer, ja geradezu heimtückisch wirken nicht bildliche Symbole. Das EU-Parlament hat „symbolisch“ den „Klimanotstand“ ausgerufen, ein Minister legt „symbolisch“ einen Kranz nieder, man bildet eine Lichterkette, man ehrt am Volkstrauertag die Toten. Einen festen Ritus erkennen wir noch gut als Symbol.

Der politische Betrieb ist weitgehend ritualisiert und bedient sich feststehender Wortsymbole. Das sind so weitläufig formulierte Begriffe, daß sich eigentlich jeder etwas verschiedenes darunter vorstellen kann. Wenn die kommunistische SED früher die Parole ausgab: „Vorwärts zum Sozialismus!“, bildete dieser Begriff für sich allein bereits ein Symbol. Er stand für ein komplexes Gedankensystem, in dem die Führung des Volkes durch die SED einen zentralen Platz einnahm.

Einem diffus klingenden Wortsymbol einen eindeutigen Kern zu geben, ist ein Akt der Machtausübung. Die Macht hat, wer den Menschen immer dieselben Wortsymbole und Parolen einhämmert und über ihren konkreten Inhalt bestimmt. Dann wird nicht mehr darüber diskutiert, was „Sozialismus“ und all die anderen hübschen Wortsymbole alles bedeuten könnten. Es ist bereits reglementiert und wird vom Staats-Propaganda-Fernsehen täglich tausendfach eingeübt.

Wortsymbole sind wie Etiketten, die man anderen Menschen aufkleben kann, um sie damit zu kennzeichnen. Ein unsicheres Leben hatten im Mittelalter Prostituierte und Juden, oft symbolisch durch farbige Abzeichen beziehungsweise spitze Kopfbedeckungen gekennzeichnet. Auf Kleidung aufnähbare Symbole sind veraltet. Wer seinen Gegner heute stigmatisieren will, benutzt immer dieselben Wortsymbole und Stereotypen und heftet sie dem anderen an, der sie genausowenig mehr loswerden kann wie einen pickligen Ausschlag.

Zum Ketzer wurde ein gläubiger Christ im Mittelalter nicht schon durch ketzerische Ansichten, sondern, indem er zum Ketzer erklärt wurde. Die Acht konnte über jemanden verhängt werden, der angeblich völlig außerhalb des Gesetzes stand. Heute findet gesellschaftliche Ächtung durch Wortsymbole statt. Das derzeitige Universalsymbol für diese Art Ächtung ist das N-Wort. Wie ein Dietrich in jedes Schloß paßt, kann jeder dieses Wort beliebig jedem anheften. Es soll dem Publikum das Nachdenken ersparen, soll stigmatisieren, soll ausgrenzen.

Mit Wortsymbolen schmücken sich die Guten, mit Wortsymbolen stigmatisieren sie die Bösen. Der Welt der Stigmatisierer ist so schlicht wie ein Paintballspiel. Es genügt, den Gegner mit etwas Farbe symbolisch zu bekleckern. Etwas hängen bleibt immer.

Die Spielregeln des politischen Machtgewinns und Machterhalts begünstigen nicht mehr den, der gute Argumente hat und sie wirksam in Worte kleiden kann. Es hört ihm nämlich niemand mehr zu. Worten darf man „keine Bühne bieten“ und stellt sich lieber symbolisch vor das Veranstaltungslokal, um die Worte zu verhindern. Dabei darf man sicher sein, daß die Medien reflexhaft darauf anspringen. Im Fernsehen wird niemand hören, was der verhinderte Redner nicht sagen durfte. Er wird aber die sich entfaltende Symbolik der Bilder verinnerlichen: Blockierer mit entschlossenen Mienen, Transparente mit gutherzigen Parolen, den ganze Ritus einer symbolischen Aufführung.

Diese Bildsymbole haften in den Köpfen von Medienkonsumenten. Die ganze symbolische Schau wäre wirkungslos und in sich sinnlos, würde sie nicht medial transportiert. Die Medien ihrerseits sind meistens unfähig oder unwillig, gesprochene Argumentation zu transportieren und den Zuschauern nahezubringen. Diese klicken nämlich als Medienkonsumenten in kürzester Zeit auf einen anderen Sender, wenn ihnen geistig zu viel und zu lange etwas abverlangt wird. Vom Medienkonsumenten über den von Symbolbild zum Symbol-O-Ton getriebenen Reporter bis hin zu den Symbole schaffenden Akteuren auf der politischen Bühne unterliegen alle denselben Gesetzlichkeiten.

Eine Parole wie ein symbolisches „Wir schaffen das!“ ist eingängiger als eine prägnante Argumentation. Lesen ist anstrengender als Symbolbilder anzuschauen. Die Verweildauer des Auges auf einem Objekt wird kürzer. Die Aufmerksamkeitsdauer vieler Menschen sinkt. Sie können sich nicht mehr so lange auf einen Text konzentrieren. Merken Sie es auch schon?

So konnte das Zeitalter der Symbole anbrechen. Da wäscht ein Papst drei Landstreichern symbolisch die Füße. Die scheinbare Demut und Nächstenliebe versinnbildlicht seine Deutungshoheit darüber, was Demut ist und was Nächstenliebe erfordert. Ein neuer Minister ruft auf zum „Kampf gegen Rechts“ und erhebt damit symbolisch den Machtanpruch, behördlich verbindlich zu bestimmen, was rechts ist und welche Konsequenzen das im einzelnen haben soll. Der Bundestag debattiert darüber, symbolisch als „Kinderrechte“ ins Grundgesetz zu schreiben, was Kinder an Grund- und Menschenrechten sowieso schon haben. Die Koalition zankt sich darüber, wieviel Geld sie den Steuerzahlern aus der rechten Tasche ziehen soll, um sie als Sozialleistungen in die linke zu stecken. Jede Partei möchte sich dem Publikum nämlich symbolisch als diejenige darstellen, die „für Gerechtigkeit“ eintritt.

Politik funktioniert nicht mehr nach Regeln argumentativer, interessengeleiteter Rationalität, sondern danach, wer die passenden, emotional aufgeladenen Bild- und Wortsymbole allgemein durchsetzt und so vielleicht die nächste Wahl gewinnt. Darum spielt reales Handeln eine geringere Rolle als „Zeichen zu setzen“. Nehme ich allerdings bloß mal eben einen Teller und ein Abtrockentuch zur Hand, um symbolisch meinen guten Willen zu zeigen und ein Zeichen zu setzen, bin ich ein schlechter Küchenhelfer. Von den Zeichen setzenden Haltungspolitikern sieht man gewöhnlich nichts mehr, nachdem die Kameras ausgeschaltet sind.

Derweil sondern sich Bevölkerungskreise unter verschiedenen Symbolen voneinander ab, igeln sich ein in Echokammern und medialen Seifenblasen ihres guten Gewissens. Sie kuscheln sich gern zusammen in Internetforen Gleichgesinnter. Hier wollen sie nicht gestört werden durch Menschen mit anderen, abweichenden Ansichten. Die Verwendung emotionaler Paßwörter und ideologischer Schlüsselwörter symbolisiert die Zugehörigkeit zum jeweiligen „Wir“. Wenn man die anderen gar nicht mehr hört und sieht, weiß man natürlich: „Wir sind mehr!“

Der politische Kampf hat sich dahin verlagert, wo Wortsymbole geschmiedet und den Gegnern aufgezwungen werden und wo die des Gegners unterdrückt werden. Es geht schon lange nicht mehr um rationale Erfassung zum Beispiel der deutschen Interessenlage, wenn man mal eben über eine Million Fremder ins Land läßt. Die politische Auseinandersetzung wird geführt, indem Wortsymbole wie „Ausländer“, „illegaler Einwanderer“ und dergleichen vermieden und durch Wortsymbole wie „Flüchtling“ oder „Migrant“ ersetzt werden. Die Entscheidung über Masseneinwanderung mutiert von einer – denkmöglichen – interessengeleiteten, rationalen Entscheidung zu einem symbolischen Akt der eigenen Moralität. Schließlich ist auch das Selbstgefühl, moralisch zu sein, eine symbolische Eigenpositionierung: in einem Gedankenkosmos, der zwischen den strahlenden Höhen des Guten und den schwarzen Abgründen des Bösen keine Grautöne erkennt.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Klaus Kunzes Blog:

http://klauskunze.com/blog/2019/11/28/die-macht-des-symbolischen/

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

NEU:

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Klaus Kunze: Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen. Von der Vormundschaft zum Genderismus. Hier erhältlich!

Die russische Ethnos-Theorie

Ilja Jefimowitsch Repin – Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/79/Ilja_Jefimowitsch_Repin_-Reply_of_the_Zaporozhian_Cossacks-_Yorck.jpg

von Dr. Christian Böttger

Die russische Ethnos-Theorie

Kultur versus Ethnos

Seit dem 9. September 2014 hat das „Staatliche Museum für Völkerkunde“ in München einen neuen Namen. Jetzt heißt es „Museum Fünf Kontinente“. Besonders originell ist die Begründung für die Umbenennung, die an Realsatire grenzt: Der Begriff Völkerkunde sei nicht mehr zeitgemäß, weil die Besucher damit nichts anfangen könnten. Sie glaubten, es handle sich um eine Einrichtung von Fachgelehrten für Fachgelehrte. Eine dümmere Erklärung konnte man sich wohl nicht einfallen lassen, denn der Name ist jetzt erst recht verwirrend und verweist eher auf das Gebiet der Geographie als auf das der Ethnologie. Bereits 2001 war das traditionsreiche Frankfurter Museum für Völkerkunde in „Museum der Weltkulturen“ umbenannt worden und trägt seit 2010 auch den Namen „Weltkulturen Museum“. Nach den Umbenennungen der Volkskundeeinrichtungen in den letzten Jahrzehnten sind nun also die völkerkundlichen Museen dran.

Da drängt sich die Frage nach den Ursachen für diese Veränderung auf. Diese Erscheinung läßt sich nur erklären, wenn man sie vor dem Hintergrund der ökonomischen Globalisierung und der Umwandlung von Nationalstaaten in Einwanderungsgesellschaften im Rahmen einer angestrebten „Weltbürgergesellschaft“ betrachtet. Dazu müssen die Angehörigen der einzelnen Völker nicht nur ihrer staatlichen Souveränität und ihrer ökonomischen Selbständigkeit, sondern auch ihres ethnischen Selbstbewußtseins beraubt werden. Zur Unterstützung dieser Globalisierungstendenzen werden seit langem auch die Sozial- und Geisteswissenschaften herangezogen. Sie werden vor allem dahingehend beeinflußt, ein rein mechanistisches Gesellschaftsverständnis zu vermitteln, das eine individualistische Einstellung zu Volk und Staat garantiert.

Welche konkreten Möglichkeiten lassen sich nutzen, um diese destruktiven „Erziehungsziele“ zu realisieren? Zuerst einmal müssen die Verfechter der „Moderne“ alles daransetzten, den ethnischen Volksbegriff aus dem Sprachgebrauch der Medien und Schulen zu entfernen. Dabei greift man auf die Erkenntnisse der Sprachtheorie zurück, die behauptet, daß Begriffe nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern sie erst konstruieren. Folglich läßt sich die Wirklichkeit durch veränderte Begriffe ebenfalls verändern. Nach dieser Lesart kann man also durch die Beseitigung des Volksbegriffes auch das Volk als reale Erscheinung beseitigen. Die entstehende Lücke wird meist durch den Kulturbegriff ersetzt.

In den letzten Jahren ist es nämlich zu einer bewußt lancierten Unsitte geworden, von „Kulturen“ statt von konkreten Völkern zu sprechen. Der Kulturbegriff, der einen Ersatz dafür bieten soll, verfügt aber nicht nur über eine geringe Definitionsschärfe, er bietet mit seinem hohen Abstraktionsgrad auch eine Vielzahl von Möglichkeiten der ideologischen Manipulation. Im offiziellen Sprachgebrauch werden die Staaten Europas durch die Einwanderungspolitik nicht etwa in Vielvölkerstaaten verwandelt, was der Realität entsprechen würde, sonder nur kulturell bereichert, wie es so schön heißt. Auf diese Weise kann der wirkliche Prozeß der Umwandlung des Nationalstaates in einen Nationalitätenstaat verschleiert werden. Die Einteilung der Bevölkerung in „Migranten“ und „Einheimische“ dient ebenfalls dazu, von der Volkszugehörigkeit abzulenken. Das kann im Extremfall soweit gehen, daß Heimatvertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten – also nicht nur die Rußlanddeutschen – als „Migranten“ erfaßt werden.

Seit einiger Zeit ist man dazu übergegangen, die Existenz von Völkern ganz in Frage zu stellen. Diese Ethnos-Leugnung ist inzwischen Mainstream geworden und zur Lehrmeinung an den Universitäten aufgestiegen. Vom Institutsleiter des Berliner „Instituts für Europäische Ethnologie“, Prof. Kaschuba, wurde 1999 das Hochschullehrbuch „Einführung in die Europäische Ethnologie“ verfaßt. In ihm wird die Behauptung aufgestellt, zu Beginn des 19. Jahrhunderts sei es zu einer „Erfindung des ethnischen Paradigmas“ gekommen. Die Ethnien wären nicht naturgewachsen, sondern sie seien im intellektuellen Diskurs im Verlauf der Modernisierung hergestellt worden. An dieser ‚Erfindung‘ wären Volkskunde und Völkerkunde in jener Zeit maßgeblich beteiligt gewesen. Die Prozesse der Entdeckung und Erforschung des Ethnischen, die vielerorts mit dem Erwachen des ethnischen Selbstbewußtseins einhergingen, werden neuerdings also als „Erfindung“ ausgegeben. Besonderer Kritikpunkt – der Merkmalskatalog, an dem sich der Volksbegriff festmachen läßt und der damit Abgrenzung erst ermöglicht.

Sieht man einmal von der rein eurozentrischen Betrachtungsweise, dem Mangel an ethnologischem Wissen über außereuropäische Völker ab, so zeigen diese wenigen Ausführungen, worum es wirklich geht, nämlich um das Problem der Abgrenzung mittels eines Merkmalskataloges in einer sich scheinbar entgrenzenden Welt. Doch existiert kein Gegenstand ohne Merkmale. Wie will man denn einen Gegenstand beschreiben, wenn man ihm keine Merkmale zuordnen darf. Erst durch die Begrenzung ergibt sich bekanntlich die Gestalt, das kann man an jedem Körper erkennen. Wer die Begrenzung beseitigen will, zielt in Wahrheit auf die gesamte Gestalt. Aus dieser Position resultiert dann eine weitere Problematik. Wenn es nämlich keine realen Ethnien gibt, sondern nur „Ethnizität im Menschen“ wie diese Kulturwissenschaftler neuerdings behaupten, dann kann es auch keinen Ethnozid geben. Der Begriff des Ethnozids erübrigt sich, wird mit solchen Positionen zum Paradoxon. Logischerweise muß deshalb die Ethnos-Leugnung dem Ethnozid vorausgehen. Raffinert, aber durchschaubar, vielleicht nicht für alle Akteure. Hier verflechten sich ideologische Motive, Klassenauftrag und pseudo-wissenschaftliche Vorstellungen. Die vordergründige Absicht der Ethnos-Leugner ist klar: die panische Angst vor dem Scheitern des Konzeptes der sog. „multikulturellen“ Gesellschaft, die man in der BRD unter dem Gesichtspunkt der Antithese zum Nationalsozialismus zu errichten trachtet.

Diese Ethnos-Leugnung könnte aber durchaus auch eine rechtliche Dimension besitzen. Ethnozidale Bestrebungen sind eben kein Kavaliersdelikt. Dessen sollten sich die Verneiner des Ethnos immer bewußt sein. Auch führende Nationalsozialisten wollten kurzerhand aus den Sorben und Wenden der Lausitz „wendisch-sprechende Deutsche“ machen. Sie leugneten also die Existenz des sorbischen Ethnos. Heute würde das niemand mehr wagen. Im Gegenteil. Die „Stiftung für das sorbische Volk“ erhält immerhin eine jährliche Zuwendungssumme von mehreren Millionen Euro vom Bund und von zwei Bundesländern.

Lausitzer Musikgruppe, Fotograph: Józef Burszta (1914-1987)
Lausitzer Musikgruppe, Fotograph: Józef Burszta (1914-1987)
Festiwal Folkloru Łużyckiego, Budziszyn, Mai 1972
Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Grupa_w_strojach_%C5%82u%C5%BCyckich_%28kapela_i_dziewczyna%29_-Budziszyn-_000676s.jpg

Das zentrale Instrument zur wissenschaftlichen Demontage des Volksbegriffes bildet die sog. „amerikanische Kulturanthropologie“. In den vergangenen Jahrzehnten konnte man das allmähliche Einsickern ihrer Methoden und Grundmuster in den gesellschaftlichen Diskurs recht gut verfolgen. Dieses Einsickern erfolgte auf unterschiedlichen Wegen und unter ganz verschiedenen Namen, so daß die dahinterstehende Absicht nicht so leicht zu durchschauen war.

Die Anfänge für diese verhängnisvolle Entwicklung liegen weit zurück. Ausgangspunkt dieses tiefgreifenden Umbruchs in den ethnologischen Wissenschaften war u. a. der Volkskunde-Kongreß in Detmold 1969. Hier wurde von jungen Vertretern des Fachs im Zusammenhang mit der damaligen Studentenbewegung der „Abschied vom Volksleben“ verkündet und mit dem Hinweis auf die jüngere deutsche Geschichte der Name des Faches überhaupt in Frage gestellt. Philosophische Grundlage für diesen Neuansatz bildete der Neomarxismus der sog. „Frankfurter Schule“. Niederschlag fand diese geistige Strömung zuerst am Ludwig-Uhland-Institut in Tübingen, wo sich dann die Deutsche Volkskunde in Anlehnung an die amerikanische Kulturanthropologie als „empirische Kulturwissenschaft“ etablierte. Das soziale Leben von Kulturen und Teilkulturen mit ihren Konflikten zu beobachten, zu beschreiben und zu interpretieren stand von nun an im Mittelpunkt. Zu Beginn der 70er Jahre war also an die Stelle der deutschen Volkskunde eine Spielart der amerikanischen Kulturanthropologie getreten, die mit ihren Grundmustern und Termini wie geschaffen schien für westliche „Einwanderungsgesellschaften“.

An Anfang der amerikanischen Kulturanthropologie standen nämlich Forschungen zur Integration und kulturellen Assimilation von Einwanderern in die USA. Kern war zunächst das politische Dogma des Aufgehens ethnischer Minderheiten wie Indianer und Afro-Amerikaner sowie neu zugewanderter Europäer in der euro-amerikanischen Gesamtgesellschaft. Der „American Way of Life“ wurde einfach als moderne Gesellschaft ausgegeben und eine Anpassung an diese Lebensweise mit anschließender Assimilation als unausweichlich betrachtet. Erst in einer späteren Phase begann man die Frage der Assimilation differenzierter zu betrachten und durch „Akkulturationskonzepte“ zu ersetzen. Seit den 1960er Jahren wird sogar die Idee des Schmelztiegels ganz in Frage gestellt.

Gemeinsam ist allen kulturanthropologischen Konzepten, daß sie ihre Methodik an Einwanderungsgesellschaften herausgebildet haben. Einwanderungsgesellschaften zeichnen sich aber dadurch aus, daß die Entwicklung der Menschen durch einen Bruch gekennzeichnet ist, der mit der Einwanderung beginnt. Die kontinuierliche Entwicklung einer einheitlichen ethnischen Gemeinschaft ist unter diesen Bedingungen nicht mehr gegeben. Und siehe da, schon gerät man in ein ganz anderes Fahrwasser. Mit den Einwanderungsgesellschaften als Entwicklungsrahmen gelang es den Forschungsgegenstand „Volk“ durch das Forschungsfeld „Kultur“, im Sinne von „Alltagskultur“ und Werteordnung usw. zu ersetzen. Nicht mehr die Träger der Kultur als Kollektiv, sondern das Getragene und seine individuelle Widerspiegelung standen jetzt im Mittelpunkt. Das hat Folgen! Das Getragene ist veränderlich in seiner räumlichen und zeitlichen Dimension. Ein Veränderliches, vom Kollektiv, vom Volk abgekoppeltes, wird auf diese Weise zum Gegenstand der Betrachtung. Das soll nicht heißen, daß die kulturelle Seite eines Volkes als unveränderlich, als konstant zu betrachten ist. Was aber die Angehörigen eines Volkes verschiedener Zeitalter miteinander verbindet, ist die Tatsache, daß die Generationen mit ihrer Kultur aufeinander folgen, aufeinander wirken, daß die kulturellen Entwicklungen der früheren Zeitalter die der späteren Zeitalter mitbestimmen. Genau das Ausklammern dieser historischen Dimension nutzen heute die ideologischen Wegbereiter der Globalisierung, um jene fixen kollektiven Identitäten in Frage zu stellen, die sich in Völkern, Rassen und fest umrissenen Kulturkreisen manifestieren und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zulassen. Dieses auch Abgrenzung und Ausgrenzung beinhaltende Zusammengehörigkeitsgefühl gilt es nach Meinung der Globalisten zu eliminieren. Die Globalisierungsideologen mußten deshalb eine spezifisch gelagerte Kulturdefinition finden, die „Kulturen“ nicht mehr als fest umrissene, konstante Größen auffaßt. Erreicht wurde dieses Ziel durch die Wahl des sog. „weiten Kulturbegriffs“, der die gesamte Lebensweise als Kultur begreift. Indem man auf diese Art die gesamte, sich jeden Augenblick verändernde Lebensweise als Kultur betrachtet, läßt man sie ins Gestaltlose zerfließen, denn erst durch die Begrenzung ergibt sich bekanntlich die Gestalt. Mit diesem kulturanthropologischen Taschenspielertrick kann man problemlos alle kollektiven Identitäten von Völkern, Rassen und Kulturkreisen verschwinden lassen.

Ein solches Denksystem – Kultur als Lebensweise – bietet den Globalisten ungeahnte Möglichkeiten der Manipulation. Das Ziel dieser Sichtweise besteht also in der Auflösung jener fixen kollektiven Identitäten, die sich u. a. in Völkern manifestieren, denn diese könnten der „Weltbürgergesellschaft“ der „One World“ im Wege stehen. Erreicht wird dieses Ziel durch die Konstruktion eines abstrakten kulturellen Systems, dessen Inhalt keinen Gemeinschaftsbezug und keine Abgrenzung zuläßt. Abgrenzung und damit Vielfalt werden als etwas Verwerfliches verstanden. Dabei wird außerdem die Gesamtkultur nur als Summe von Teilkulturen und ihren Bestandteilen betrachtet. Wechselbeziehungen und Rückkopplungen von Kulturkomponenten bleiben außen vor, denn sie könnten schon wieder Umrisse sichtbar machen, neue Gestalten erzeugen.

Worin besteht aber nun der Grundirrtum der westlichen Kulturanthropologen? Nach ihrer Auffassung verfügt das konstruierte kulturelle System über bestimmte Teilbereiche wie z. B. religiöse, soziale und ethnische. So gesehen ist die ethnische Dimension nur eine von mehreren Dimensionen der „Kultur“ und zwar eine mit sinkender Bedeutung. Während sich der Volksbegriff auf eine konkrete Gemeinschaft von Menschen bezieht, also demographisch an eine ganz bestimmte Population gekoppelt ist, stellt der Kulturbegriff nur eine abstrakte Konstruktion dar, die den Volksbegriff nicht ersetzen kann. „Völker“ und „Kulturen“ sind nämlich nicht einfach Synonyme, die man beliebig austauschen kann. Um einmal ein Beispiel zu nennen: ein Sioux-Indianer, der heute in New York in einem Wolkenkratzer seine Heimstatt gefunden hat, über Kühlschrank, Fernsehgerät und Waschmaschine verfügt, also nicht mehr im Tipi wohnt, hat zwar seine Kultur, nicht aber seine Ethnizität verändert. Durch das Ersetzen des Volksbegriffs durch den Kulturbegriff – als ein erster Schritt – und der Gleichsetzung von „Kultur“ mit „Lebensweise“ – als ein zweiter Schritt – gelingt es die Bedeutung des Ethnischen bis hin zur Bedeutungslosigkeit herunterzuspielen und der Manipulation Tür und Tor zu öffnen. Darin besteht der Kern des Taschenspielertricks der Kulturanthropologen.

Weil das Ethnische nach westlicher Auffassung in modernen Gesellschaften nur eine Dimension, ein winziger Teilbereich des Kulturellen ist, wird der Ethnos-Begriff meist nur noch für kleine ethnische Einheiten verwendet. Die Berechtigung dazu leitet man aus den Modernisierungskonzepten ab. Danach verkörpern die ethnischen Besonderheiten der Völker das sogenannte Traditionale, das die Durchsetzung der Moderne erheblich behindert und deshalb beseitigt werden muß.

Doch spätestens seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts konnte man feststellen, daß die Bedeutung ethnischer, religiöser und sprachlicher Faktoren nicht nur im Anwachsen begriffen war, sondern zunehmend auch politische Relevanz erhielt. Entgegen allen Prognosen zeigten sich jetzt statt eines Verschwindens ethnischer Unterschiede Anzeichen für ein Wiederaufleben der ethnischen Eigenheiten. Das mußte sogar der BRD-Star-Philosoph Jürgen Habermas eingestehen.

Die amerikanische Kulturanthropologie ist heute ein fester Bestandteil des Globalismus. Sie bietet den Verfechtern der Weltbürgergesellschaft die Möglichkeit, moderne und rückschrittliche Lebensweisen einander gegenüberzustellen. Damit wird ein Endziel suggeriert, nämlich eine einheitliche Weltzivilisation, die nichts anderes ist, als der American Way of Life. Für Vielfalt ist da kein Platz mehr. Auf diese Weise ist die Kulturanthropologie zu einer destruktiven ideologischen Waffe gegen die Völkervielfalt geworden.

Demgegenüber präsentiere ich in meinem Buch mit der russischen Ethnos-Theorie eine Alternative dazu. Dieser wissenschaftliche Ansatz betrachtet das „Volk“ als ein dynamisches Ganzheitssystem – hier mit dem griechischen Wort „Ethnos“ bezeichnet. Im alten Griechenland hatte dieser Begriff etwa ein Dutzend Bedeutungen; darunter Volk, Stamm, Menschenmenge, Heiden, Herde, Rudel, Sippe usw. Die sprachwissenschaftliche Analyse des Wortes läßt erkennen, daß es sich bei diesem Begriff um eine Gesamtheit von Menschen handelt, die gemeinsame Merkmale aufweisen.

Diese Lehre vom Ethnos ist Ausdruck der typischen mittel- und osteuropäischen Auffassung vom Volk. Der Prozeß der Ethnogenese der Völker Europas verlief auf ehemaligem provinzialrömischem Gebiet anders als in den Gebieten nördlich und östlich des Limes. In Italien, Gallien oder Britannien – um nur drei Beispiele zu nennen – führte die „Invasion der Barbaren“ zu einer völligen Umgestaltung der ethnischen Verhältnisse auf der territorialen Grundlage zumeist der alten römischen Provinzen. In Mittel-, Nord- und Osteuropa entstanden die meisten Völker durch Verschmelzung mehrerer in Sprache und Kultur verwandter Stämme. Dieser ganz andere Typ der Ethnogenese hat das ethnische Selbstbewußtsein dieser Völker nachhaltig geprägt.

Der Begriff Ethnos taucht als Gegenstand der modernen ethnologischen Wissenschaft zuerst in Rußland auf und zwar schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Untrennbar verbunden ist er mit dem Namen Sergei M. Schirokogorow. Es ist kein Zufall, daß eine wissenschaftliche und handhabbare Auffassung von dem, was ein Ethnos, ein Volk, ist, in der ehemaligen Sowjetunion entstand. Aufgrund der Tatsache, daß dort über 100 Ethnien lebten, hatte die ethnische Problematik von je her einen hohen Stellenwert. Die Forschungen zum Ethnos-Begriff gewannen hier seit den 1960er Jahren zunehmend an Bedeutung. Ein Grund warum der Ethnosbegriff als Forschungsgegenstand festgelegt wurde, war die Mehrdeutigkeit des Volksbegriffes in der russischen Sprache. Neben seinem ethnischen Inhalt verfügt er auch über einen sozialen, etwa im Sinne von „werktätige Massen“. In der deutschen Sprache kennen wir diese Mehrdeutigkeit ebenfalls mit der Bedeutung „einfaches Volk“. Ein weiterer Grund lag in dem Bedürfnis der Wissenschaftler, ihren Forschungsgegenstand zu präzisieren und sich damit von den Nachbardisziplinen Kulturwissenschaft und Soziologie unterscheidbar zu machen. Außerdem wollte die Parteiführung die Wissenschaftler verpflichten, die allmähliche Herausbildung eines „Sowjetvolkes“ zu beweisen. Um solche ethnischen Prozesse der Annäherung von Ethnien zu beschreiben, mußte erst einmal ein einheitlicher Begriffsapparat vorhanden sein. Darüber hinaus erforderte die Entwicklung der Völker Asiens und Afrikas nach Beendigung der Kolonialherrschaft eine Beschäftigung mit den sog. ethnischen Prozessen, was ebenfalls diese neue Begrifflichkeit erforderlich machte. Die Zeit zwischen 1964 und 1973 war gekennzeichnet durch einen breiten wissenschaftlichen Meinungsstreit über die Definition und die Merkmale des Ethnos. An dieser Diskussion durften sich auch nicht-marxistische Wissenschaftler wie Lew Gumiljow beteiligen. Das Resultat dieses Meinungsstreites wurde 1977 von Julian Bromlej in dem auch in deutscher Sprache erschienenen Buch „Ethnos und Ethnographie“ zusammengefaßt. Es enthält Erkenntnisse verschiedener Fachkollegen und ist somit durchaus nicht nur „Bromlejs Theorie“, wie es oft kolportiert wird.

Julian Bromlej
Julian Bromlej

Bei der Entwicklung der theoretischen Grundlagen dieser neuen Lehre leitete man zunächst die Merkmale des „Ethnos“ von den Merkmalen der „Nation“ ab. Das war möglich, weil im Gegensatz zu den heutigen westlichen Ländern in Osteuropa die Nation als ein „ethno-sozialer Organismus“ betrachtet wurde und wird. Sie gilt neben Stamm und Völkerschaft als eine Erscheinungsform des Ethnos und zwar als die am höchsten entwickelte. Wenn aber die Nation nur eine spezifische Erscheinungsform des Ethnos ist, dann müssen zumindest einzelne Merkmale der Nation auch identisch mit den Merkmalen des Ethnos sein. Als Richtschnur zur Feststellung der Merkmale einer Nation mag damals die Nationsdefinition von Stalin eine gewisse Rolle gespielt haben. In einer Schrift von 1913 bezeichnete Stalin die Nation als eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamer Sprache, gemeinsamen Territorium, Wirtschaftsleben, und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden gemeinsamen psychischen Wesensart. Diese von Stalin herausgearbeiteten Merkmale bildeten für die sowjetische Forschung auch den Ausgangspunkt für die Diskussionen um die wissenschaftlich exakte Bestimmung des Ethnos-Begriffs.

In einem Aufsatz von 1978 definierte Bromlej den Inhalt des Begriffs „Ethnos“ so:

Unter Ethnos im engen Sinne oder Ethnicos verstehen wir eine historisch entstandene Gruppe von Menschen, die über eine nur für sie charakteristische Gesamtheit gemeinsamer beständiger Züge der Kultur (…), der Sprache und der Psyche sowie über ein Selbstbewußtsein, darunter auch das Bewußtsein ihres Unterschiedes von anderen ähnlichen Gebilden, und eine Selbstbezeichnung (Ethnonym) verfügen.

Julian Bromlej

Das Ethnos ist also ein Ganzheitssystem, das auch Informationen der Vergangenheit speichert und weiterverarbeitet. Bestimmte historisch gewachsene und kollektiv gebildete Eigenschaften und Produkte wie z. B. die Sprache, kulturelle Züge, ethnisches Selbstbewußtsein, psychische Wesensart usw. bilden somit die Systemkomponenten. Diese Systemkomponenten sind aber ausschließlich aus dem ganzen System heraus zu verstehen und dürfen keinesfalls nur als eine Summe aus den Eigenschaften und Produkten der einzelnen Individuen betrachtet werden.

Das ethnische Selbstbewußtsein wird von einigen russischen Ethnologen an den ersten Platz unter den Charakteristika des Ethnos gestellt, da es in erster Linie die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Ethnos bestimmt. Ausschlaggebend dafür ist größtenteils die Vorstellung von einer bestimmten Abstammung, nicht unbedingt die Abstammung selbst. Verändert sich über mehrere Generationen das ethnische Selbstbewußtsein, so hat sich auch die ethnische Zugehörigkeit verändert. Ein Beispiel hierfür bilden die assimilierten Hugenotten in Deutschland. Zu den Besonderheiten des ethnischen Selbstbewußtseins gehört, daß Kinder noch nicht über ein solches verfügen, sondern daß dieses sich erst im Reifungsprozeß des Jugendlichen herausbildet. Wenig ausgebildet ist es auch bei Personen, die wenig Kontakt zu Angehörigen anderer Ethnien haben. Das gilt besonders für die Bauern in der Feudalgesellschaft. Hier herrscht ein lokales oder religiöses bzw. konfessionelles Bewußtsein vor. Die zunehmende Bedeutung des ethnischen Selbstbewußtseins innerhalb des Systems ethnischer Merkmale ergibt sich in der Moderne auch aus dem Zurückgehen der ethnischen Besonderheiten auf dem Gebiet der materiellen Kultur.

Charakteristisch für die osteuropäischen Ethnologen ist der Gebrauch des Ethnos-Begriffs auch für große, viele Millionen zählende Gemeinschaften und die Nationen hochentwickelter Länder. Deshalb sahen sie sich veranlaßt, auch politische und ökonomische Faktoren bei der Herausbildung und dem Funktionieren des Ethnos zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Nation, der höchstentwickelten Erscheinungsform des Ethnos. Das Problem der Wechselwirkungen zwischen Ethnos und politisch-territorialer Gemeinschaft war lange Gegenstand des wissenschaftlichen Meinungsstreits. Zur Beilegung dieses Streites wurde der Begriff des „ethnosozialen Organismus“ geschaffen. Dieser ethnische Organismus ist dann nahezu identisch mit einer Gesellschaft. Er stellt ein ethnisches Gebilde dar, das auf einem kompakten Territorium zu finden ist und eine politische und ökonomische Einheit verkörpert. Die Berechtigung für die Verwendung des Organismusbegriffs in der sozialen Sphäre leitete man daraus ab, daß es sich bei einem Ethnos um die Vorstellung von einer sich selbst reproduzierenden Ganzheit handelt.

Soweit eine skizzenhafte Darstellung zur sowjetischen Ethnostheorie. Wie ist aber die Entwicklung der ethnologischen Forschung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion weiterverlaufen? Was wurde speziell aus der Lehre vom Ethnos?

Um den Stellenwert der Ethnos-Lehre in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu begreifen, gilt es die damalige Situation zu berücksichtigen. Es bestand in dieser Umbruchzeit die Notwendigkeit, die Legitimität dieser Staaten gerade auch ethnisch zu untermauern. „Ethnos“ fand Eingang in offizielle Dokumente und juristische Texte. Das Ideologievakuum nach dem Zusammenbruch des Bolschewismus bot viel Raum für das Ethnische und das Ordnungsmodell „Nation“, verstanden als ein ethno-sozialer Organismus. Das gilt insbesondere auch für die russische Föderation. Über 90 Treffer zum Begriff этнос gibt es allein auf der offiziellen Internetseite des russischen Präsidenten, über eine Million Einträge findet die Suchmaschine google.ru. Die Situation war aber gleichzeitig von dem Bedürfnis nach Distanzierung von der sowjetischen Wissenschaftstradition gekennzeichnet. Die Mehrheit der russischen Ethnologen plädierte so für eine vom marxistischen Unterbau und seinen Begrifflichkeiten befreite Ethnos-Lehre.

Trotz des ungebrochenen Weiterbestehens der Ethnoslehre wurde 1990 Waleri Tischkow (auch Tiškov), ein Kritiker der Ethnos-Theorie, zum Nachfolger Bromlejs im Amt des Institutsdirektors an der Akademie der Wissenschaften gewählt. Tischkow, der sich an westlichen Forschungsansätzen ausrichtet, forderte eine theoretische Neuorientierung. Die Ethnos-Theorie betrachtete er lediglich als eine Variante der marxistisch-leninistischen Nationstheorie. Sein Hauptvorwurf lautet: Bromlej und seine Anhänger interessierten sich für den „Menschen im Ethnos“ und nicht für die „Ethnizität im Menschen“. Ist da ein Unterschied? Aber sicher, ein ganz gewaltiger sogar! In diesem Unterschied spiegelt sich der Gegensatz von Primordialisten und Konstruktivisten wider. Die Primordialisten betrachten Stämme und Völker als uranfängliche, objektiv vorhandene kollektive Einheiten, die durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet sind. Doch das genau bestreiten die Konstruktivisten. Sie behaupten, daß die Welt, wie wir sie wahrnehmen, nicht das Ergebnis eines Abbildes der Wirklichkeit ist, sondern das Ergebnis des Erfindens der Wirklichkeit, wobei das eigene Weltbild den Ton angibt. Auf die Ethnologie angewandt behaupten die Konstruktivisten, daß Völker und Stämme gar nicht existieren, nie existiert haben, sondern reine Erfindungen, Wahrnehmungsstörungen sind. Somit legt man das „Ethnische“ in den Menschen und zwar als Wahrnehmungsstörung. Deshalb ist es auch ein grundsätzlicher Unterschied, ob ich mich für den „Menschen im Ethnos“ oder für die „Ethnizität im Menschen“ interessiere. Bei letzerem interessiere ich mich dann in der Endkonsequenz nur für eine Wahrnehmungsstörung.

Angesichts der großen Bedeutung der Ethnos-Lehre in Rußland muß man sich fragen, wie ausgerechnet ein Wissenschaftler wie Tischkow, der in der russischen Ethnologie fast völlig isoliert ist, in dieses hohe Amt des Institutsleiters aufsteigen konnte, denn ganz offensichtlich fungiert er dort als ein ideologischer Brückenkopf des Westens. Die Antwort liegt auf der Hand. Es geht ganz einfach um westliche Geldgeber, die man bei der Stange halten will. Das heutige Institut kooperiert sehr erfolgreich mit westlichen Sponsoren. Das sind vor allem Stiftungen und – wie könnte es anders sein – NGOs, die berüchtigten „Nichtregierungsorganisationen“, also meist ausländische Agentenzentralen, die in Rußland den Auftrag haben, die als Modernisierung getarnte Verwestlichung voranzutreiben. Es ist also sehr viel Geld im Spiel, um den Primordialismus in der russischen Ethnologie abzulösen und stattdessen den destruktiven völkerzerstörenden Konstruktivismus zur Herrschaft zu bringen. Wo „One World“ propagiert wird, darf es auch nur noch eine Meinung geben.

Besonders beliebt in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist ein weiterer namhafter Vertreter der Ethnos-Lehre, Lew Gumiljow. Als Opfer des stalinistischen Gulag-Systems stand er nicht gerade auf dem Boden der marxistisch-leninistischen Ideologie. Für ihn glich das Ethnos einem biologischen Organismus, der gesetzmäßige Entwicklungsphasen durchlaufen muß, die mit den verschiedenen Altersstufen eines Menschen vergleichbar sind. Nach der politischen Wende in der Sowjetunion wurde die Ethnogeneselehre Gumiljows besonders von Politikern und Amtsträgern aufgegriffen und als Orientierungshilfe verstanden. Seine Publikationen wurden in hohen Auflagen gedruckt, seine Ideen fanden Eingang in die Lehrbücher. Wissenschaftliche Konferenzen wurden zu seinen Thesen veranstaltet, Universitäten nach ihm benannt und Denkmäler für ihn errichtet.

Lew Gumiljow

Der nahtlose Anschluß an die westliche Wissenschaftslandschaft mit ihrem kulturanthropologischen Dogma ist nicht zu erwarten. Der ethnisch-föderale Staatsaufbau aus der Sowjetzeit nämlich mit seinen Zugeständnissen an die autonomen Gebietseinheiten und Republiken wurde in der Russischen Föderation beibehalten. Er wird permanent dazu beitragen, den Ethnos-Begriff und die dazugehörige Lehre zu reproduzieren. Deshalb sind alle Bemühungen der prowestlichen Kräfte darauf gerichtet, einen Wandel „von Ethnos zu Demos“ herbeizuführen. Das bedeutet weg von der ethnisch definierten Titularnation der Sowjetzeit und hin zu einem staatsbürgerlich, politisch definierten Staatsvolk. Damit würden die im Weltmaßstab vorbildlichen Gebietseinteilungen aufhören, Entwicklungsrahmen für die entsprechenden Ethnien zu sein. Schließlich ist keine noch so kleine ethnische Gemeinschaft in der ehemaligen Sowjetunion vollständig verschwunden und das in einem Zeitraum, wo in anderen Teilen der Welt die Assimilation kleiner ethnischer Gemeinschaften einen Massencharakter angenommen hatte.

Welche Bedeutung hat die in Rußland entwickelte Lehre vom Ethnos für das heutige Deutschland? Worin unterscheidet sie sich eigentlich von den traditionellen deutschen Vorstellungen? Die klassische deutsche Auffassung vom Volk hat viele Wurzeln im deutschen Idealismus bzw. in der deutschen Romantik. Grundlage des volklichen Seins war bei Johann Gottfried Herder das unbewußte Schaffen des Volksgeistes. Darunter verstand Herder eine schöpferische, überindividuelle geistige Wesenheit, die alle kulturellen Schöpfungen des Volkes hervorbringt. Diese Äußerungen des Volksgeistes sollten sich nach den Anschauungen der Romantiker in Lied, Sage, Märchen, Glaube und Brauch manifestierten. Dieser rein philosophisch-idealistischen Sichtweise stellt die russische Lehre vom Ethnos eine historisch-materialistische Sichtweise zur Seite. Die Ethnoslehre zeichnet sich durch ein strenges, geradezu naturwissenschaftliches Herangehen aus, das nur Fakten gelten läßt. Sie sieht im Ethnos nicht ein Produkt des Volksgeistes, sondern in erster Linie ein Produkt der Geschichte. Damit wird eher die physische Seite des Phänomens untersucht als die geistige. Das hat allerdings den Vorteil, daß sich Dank der Einbeziehung der Kybernetik diese physische Seite des Volksorganismus der Öffentlichkeit wesentlich leichter vermitteln läßt als das Wirken eines eher nebulös erscheinenden Volksgeistes. Dennoch findet innerhalb dieser Ethnos-Lehre, in dem von ihr angenommenen System ethnischer Merkmale, die sog. „psychische Wesensart“ ihren festen Platz – allerdings nicht als Ursache, sondern als Produkt der Geschichte.

Die heutigen Gegensätze verlaufen aber nicht mehr vordergründig zwischen idealistischer und materialistischer Betrachtung, haben doch beide Betrachtungsweisen ihre Berechtigung. Schon der große deutsche Philosoph, Soziologe und Anthropologe Arnold Gehlen wies darauf hin, daß die Materiedefinition viel zu ungenau ist, um hier eindeutige Unterscheidungen treffen zu können. Der heutige Gegensatz besteht also vielmehr zwischen den Ethnos-Leugnern im Westen und den Protagonisten des Ethnos im Osten Europas, d. h. zwischen mechanistischer und organischer Weltanschauung. Nicht zufällig verweigern sich gerade die Visegrad-Staaten der Veränderung ihrer ethnischen Struktur durch die Aufnahme von Migranten. Sie haben sich in weiten Teilen ihre organische Gesellschaftsauffassung bewahrt und verteidigen diese. Die Ethnos-Leugner des Westens hingegen sind an Einwanderungsgesellschaften orientiert und folgen im Hinblick auf die großen europäischen Völker den Grundmustern der amerikanischen Kulturanthropologie. Die Kulturanthropologie ist aber durch ein mechanistisches Gesellschaftsverständnis (das Ganze als Summe) gekennzeichnet. Osten und Westen sind somit nicht nur geographische Markierungen, sondern stehen sich also auch als Gesinnungsbegriffe im „Weltkampf um den Menschen“ gegenüber.

Dr. Christian Böttger

Dr. Christian Böttger

Christian Böttger, geb. 1954, Facharbeiterausbildung als Gärtner für Zierpflanzenbau mit Abitur 1974, studierte von 1983-1988 Ethnographie, deutsche Geschichte und Volkskunde an der Humboldt-Universität zu Berlin. Danach arbeitete er bis Ende 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde am Zentralinstitut für Geschichte (Akademie der Wissenschaften der DDR) an einem Forschungsprojekt auf dem Gebiet der Kulturgeschichte sozialer Reformbewegungen in Deutschland um 1900. Ende 1993 promovierte er an der Humboldt-Universität zum doctor philosophiae. Anschließend war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Lexikonprojekten beschäftigt.

Autor des Buches:

Wer von den Völkern nicht reden will, soll von den Menschen schweigen.

von Henning Eichberg

Wer von den Völkern nicht reden will, soll von den Menschen schweigen.

Fragmente zur neuen Unübersichtlichkeit

Staaten verschwinden

(1.) Innerhalb von zwei Jahren – seit 1989 – sehen wir drei oder vier Staaten Europas auseinander- oder zusammenbrechen: DDR, Sowjetunion, Jugoslawien, Tschechoslowakei.

Warum gerade diese? Sicher ist: bei ihnen allen handelt es sich um multinationale oder „nationslose“ Staaten. Sie hatten sich an der synthetischen Nationskonstruktion versucht: „Sozialistisches Vaterland“, „Sowjetmensch“. Nun erleb(t)en sie die Entkolonisierung.

Andere Staaten blieben als politische Einheiten von ihren politischen und sozialen Umwälzungen unberührt: Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Albanien.

Warum gerade diese? Ihre relative Stabilität ist um so überraschender, als diese Länder z. T. wirtschaftlich eher noch ruinierter und verelendeter sind als die erstgenannten. Aber diese armen Länder üben sogar über ihre Staatsgrenzen hinweg Anziehungskraft aus: Albanien auf Kosovo, Rumänien auf Moldawien. – In allen fünf Fällen staatlicher „Stabilität“ handelt es sich um Nationalstaaten.

Die aus den Auflösungsprozessen heraus neu entstehenden Einheiten bilden sich nun alle – dem Anspruch nach – als nationale heraus. Estland, Lettland, Litauen, Rußland, Ukraine, Weißrußland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Moldawien, Kroatien, Slowenien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Makedonien, Serbien, Tschechei, Slowakei – aber auch Ossetien, Karelien, Tatarei, Tschetschenien… Das Mißverständnis liegt nahe, es handele sich um eine Rückkehr zu „nationalstaatlicher Normalität“, wie sie insbesondere von bürgerlichen Politikern Westdeutschlands verstanden wird. Und doch: was ist „normal“ an diesen Umwälzungen, die dieselben Politiker noch um 1988/89 für unmöglich erklärt hatten? Was ist berechenbar an den nationalen Souveränitätserklärungen von morgen? Das volkliche Prinzip ist weiterhin weniger „normal“ denn revolutionär.

Und was bedeutet das für die Zukunft von Wales, Schottland, Bretagne, Korsika, Elsaß, Baskenland, Katalonien, Aosta, Südtirol, Samiland, Friesland, Sorbien …?

Demonstration für die Freilassung baskischer politischer Gefangener
Quelle: http://euskalherria.indymedia.org/eu/2008/05/49560.shtml

Nationalpazifismus

(2.) Friedensbewegung und Friedenspolitik sind von den neuen Gegebenheiten herausgefordert. Der „Frieden“, der von oben her oktroyiert worden war, hat zum Krieg geführt, in Serbien/Kroatien, in Armenien/Aserbaidschan, in Georgien/Ossetien. Offenbar waren die Hoffnungen auf imperiale Friedenssicherung gegen die Völker naiv.

Friedenspolitik ist daher umzudenken: als Frieden zwischen den Völkern.

Mit anderen Worten: keine Kultur des Friedens ohne das Subjekt der Völker.

Keine Friedensbewegung um die nationale Frage herum. Wer von den Völkern nicht reden will, soll nicht glauben, daß er vom Frieden spreche.

Das Rom-Syndrom

(3.) Nach der westlichen Staatsdoktorin dürfte der Zusammenbruch der multinationalen Staaten nicht geschehen sein. Denn ihr zufolge gehört die nationale Frage – als die antikoloniale Frage der Identitätsbehauptung und der demokratischen Selbstbestimmung von Völkern – „der Vergangenheit an“.

Die Massaker und Repressionen, die im Namen „Jugoslawiens“ gegen die Kosovo-Albaner und gegen die Kroaten ausgeübt wurden, waren nicht zufällig durch einige (multinationale) westliche Staaten – Großbritanien, Frankreich – gedeckt. Sondern sie konnten auch auf das Verständnis der westlichen Ideologie insgesamt rechnen: Die Gewalt des Fortschritts gegen „das Archaische“ sei zwar unschön, aber gerechtfertigt. Daß nach 1989 – vorläufig – nicht auch im Namen der „Sowjetunion“ aufbegehrende Völker massakriert worden sind, ist nicht der westlichen Doktrin positiv zuzuschreiben, sondern dem politischen Augenmaß der neuen Kräfte in den betreffenden Völkern, insbesondere im russischen Volk.

Die westliche Staatsdoktrin – auf den Staat komme es an, nicht auf das Volk – ist der ideologische Überbau über einer realen Basis historischer Erfahrung: der Psychostruktur des – insofern fortbestehenden – römischen Reiches. Das Rom-Syndrom heißt: Großstaat und Größerwerden, Wachstum, starkes politisches Zentrum, eine Mauer rings um das Reich, die Barbaren draußen „die Zivilisation“ drinnen – und die Dissidenten in den Untergrund. Die Macht den Mächtigen, die „Anarchisten“ hinter Gittern oder außerhalb des Limes.

Darum errichten westliche Staaten genau in dem Augenblick, da der Osten Europas sich davon befreit, eine neue multinationale Reichsstruktur.

Insofern ist der Westen – die Westunion, die kapitalistische „Europäische Gemeinschaft“ – aus dem Tritt des historischen revolutionären Prozesses.

Das Ende der Westunion denken

(4.) Die kapitalistische Gewalt des neuen „Rom“ läßt es allerdings kaum als aussichtsreich erscheinen, sich gegenwärtig der Dynamik des – ungleichzeitigen, regionalen – Zentralisierungsprozesses entgegenstellen zu wollen. Die Anti-EG-Bewe- gungen, z. B. in der dänischen, norwegischen, schwedischen und finnischen Linken, haben einen klaren Blick, aber wenig Aussicht auf Erfolg.

Wohl aber ist es realistisch, sich mit dem Eintritt bereits auf ein kommendes Szenario einzurichten: auf den Zusammenbruch des Experiments EG. Das Schicksal der Westunion ist durch das Ende der Sowjetunion präformiert.

Das wird neue Probleme schaffen, da die Strukturen demokratischer Selbstbestimmung im gegenwärtigen Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozeß abgeschafft werden. Der Unfrieden und das Elend des Auflösungsprozesses, der sich an die Westunion anschließen wird, ist von deren Machern zu verantworten. Am Ende des Tunnels tauchen die Völker wieder auf.

Was kommt nach dem Frieden?

(5.) Mit der Frage nach dem Danach relativiert sich auch der einzige Gewinn, den die EG als ein „neues Rom“ den Völkern bringt: die Sicherung des Friedens. Die neue Pax Romana ist in ihrer friedensstiftenden Wirkung nicht zu unterschätzen – ebenso wie die Pax Sovietica der Vergangenheit. Auch Stalin brachte den Nicht-Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, zwischen Ossetien und Georgien. Der Nicht-Krieg ist ein Gewinn gegenüber dem Krieg.

Aber es gibt auch den Frieden zwischen Mauern, den Nicht-Krieg in der Einsperrung. Dessen Begrenzung liegt in der Szenarien-Frage: Was folgt nach der Einsperrung? Es ist also Frieden nicht gleich Frieden. Die Friedenssicherungen von oben – Pax Romana, Sowjetfriede – haben bislang den Unfrieden der Zukunft vorbereitet.

Damit ist die europäische Frage als Friedensfrage offen.

Sorbischer Osterritt, Fotograph: Rico Löb

Westdeutschlands strukturelle Unfähigkeit zur Wiedervereinigung

(6.) Was sich in Deutschland nach der Revolution von 1989 getan hat, wird man in der Zukunft einmal zur Schande unserer Geschichte rechnen.

Das friedliche und erfolgreiche Aufbegehren eines Teiles unseres Volkes wurde umgedreht in die Be­setzung eben dieses Teiles. Der selbstbefreite Teil des Landes wurde dem anderen unterworfen, der sich nicht verändern zu müssen behauptet. Statt einer Wiedervereinigung erfolgt der „Anschluß“: Großwestdeutschland.

Ökonomisch brachte dies eine neuartige Ausbeutung von Deutschen durch Deutsche. Die im Rahmen des Ostblocks durchaus konkurrenzfähigen Werke der DDR wurden dem „freien Markt“ und das heißt: nicht selten zweit- und dritt­rangigen Spekulanten und Wirtschaftskriminellen ausgeliefert. Der Energiesektor, Kernstück jeder industriellen Wirtschaft, bildete das Grundmuster des Anschlusses ab: Die stalinistischen Monopolstrukturen wurden durch ebenso monopolisti­ sche Energiekonzerne des Westens abgelöst. Stalinistisches Monopol und atomares Risiko (Tschernobyl) wurden auf neuer Kapitalgrundlage stabilisiert.

Aber es ging um mehr denn abgehobene Strukturen: um das Alltagsleben und die Identität der Deutschen. Erst Großwestdeutschland bewirkte die Zweiteilung, die die DDR nie hatte verwirklichen können: in Ossis und Wessis. Wird das die Grundlage sein für ein fortwirkendes Trauma in der deutschen Geschichte? – Jedenfalls zeigt es die Verflechtung von Klassenkampf und Identitätsprozessen. Die im Westen ansässigen Landeigentümer erhielten freie Hand für eine Ausbeutung bisher unbekannter Art: Landeigentümer West gegen das Volk im Osten.

Klassenkampf (und aus dem Hausverkauf im Osten finanzierte Weltreise) der Vermögenden statt volkliche Solidarität.

Das war die Niederlage der deutschen Linken. Sie hätte als einzige politische Kraft die deutsche Frage zu alternativen Szenarien hin weiterdenken können – vor der Zeit. Statt dessen leugnete sie die Existenz der deutschen Frage und schloß sich – als es zu spät war – der großwestdeutschen Lösung an.

Das war mehr als nur ein „Fehler“. Es ist ein altes Leiden. Auch die deutsche Linke unterlag dem römisch-westlichen Komplex: nicht von den Völkern her zu denken.

Sollte das veränderbar sein?

Neue Verantwortlichkeit

(7.) Auch die möglichen Alternativen in der Friedenspolitik wurden damit zunächst verfehlt. Deutschland bleibt ein besetztes Land, integriert in das Militärbündnis Nato. Es bleibt eingebunden in die Pläne zu neuen Aggressionen gegen Länder der Dritten Welt. Bürgerliche Politiker bereiten die „neue Verantwortlichkeit“ vor, „deutsche Truppen außerhalb des Nato-Gebiets“. Der Völkermord an den Kurden – eine Folge des amerikanischen (und deutschen) Golfkriegs und des Bündnisses mit dem türkischen Folterstaat – zeigt die Zukunftsperspektiven solcher „Verantwortlichkeit“.

Das alternative Szenario der Abkoppelung stellt sich damit nur noch dringlicher. Statt „Verantwortung“ der Macht und des Militärs – die Solidarität von Volk zu Volk. Herder im 21. Jahrhundert.

Die deutsche Frage ist weiterhin offen.

Samische Familie um 1900
Samische Familie um 1900
Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons

Volklichkeit und Vielfalt

(8.) Das Nachdenken über die Aktualität des Volklichen führt nicht dahin, daß die Völker Konstanten der Geschichte seien. Es erbringt lediglich, daß die Staaten in noch geringerem Maße Konstanten sind. Die Verfassungspatriotismen kommen und gehen… die Völker gehen ihren Weg.

Ferner: die Einsicht in die historische Wirtklichkeitsmacht der Völker ist nicht moralisierender Art, sondern empirischer. Die Nation ist nicht als solche „gut“. Sondern sie ist ein Produkt gesellschaftlicher Logik, historischer Notwendigkeit. Sie ist Erfahrung. Allerdings – die Empirie hat moralische Konsequenzen. Ein Nicht-Anerkennen solcher historischer Logik ist eine Voraussetzung dafür, daß die nationale Dynamik nicht zum Guten ausschlagen kann. Das Leugnen der Nation ist die Grundlage der Massaker. Die „jugoslawische Lösung“ des Völkermordes ist nicht nur ein Modell für Völker des Balkans.

Das mag zu einer weitergehenden Frage führen: Vielleicht ist das multikulturelle Zusammenleben – Ethnopluralismus – in der Gesellschaft unter den Bedingungen dieser Jahrtausendwende nur noch möglich im Rahmen nationaler Einheiten? Gerade multinationale Gebilde sind nicht oder nicht mehr in der Lage, ihre Minderheiten zu schützen.

Dänemark ist ein Beispiel dafür, wie auf der Grundlage nationaler Identität die Multikulturalität eines Landes entwickelt werden kann (Steven M. Borish: The Land of the Living. Nevada City 1991). Dänen retteten – als einziges Land Europas – während des Zweiten Weltkrieges die Juden ihrer Nation. Dänemark gab der deutschen Minderheit in Nordschleswig weitgehende Rechte. Island wurde ein unabhängiger Staat.

Färinger und Grönländer errangen ihre Autonomie. Und die Folkehojskoler, die Stätten alternativer volklicher Bildung, haben sich den Einwanderern früher und entschiedener geöffnet als andere Milieus.

Der Schutz der Multikulturalität innerhalb der nationalen Einheiten ist daher eine vorrangige Aufgabe – nicht nur politischer, sondern gerade auch psychologisch-moralischer Art. Eine Aufgabe mit psychologischen Dimensionen ist sie auch deswegen, weil der Gewalttäter durch die Gewalt auch und besonders sich selbst schädigt – sich selbst und seine eigenen Nachkommen bis ins – wievielte? – Glied (Peter Sichrowsky: Schuldig geboren. Köln 1987).

Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag in Sanok – Volkstanz ‚Krakowiak‘

„Du“ sagen

(9.) Die Frage bleibt nicht nur, sie stellt sich neu und drängender denn je: Was ist das Volk? Wo Bevölkerung das Objekt des historischen Prozesses und der Macht ist, eine statistische Größe, da ist das Volk Subjektivität, Besonderheit, die Vernunft des historischen Prozesses.

So stellen sich die philosophischen Grundfragen der Demokratie neu.

„Selbstbestimmung“ – wer ist das (kollektive) Selbst? „Wir“ sind das Subjekt der Geschichte – wer sind wir? „Alle Macht geht vom Volke aus“ – wer ist das Volk?

Die Denkanstöße von Johann Gottfried Herder, N.F.S. Grundtvig und Martin Buber waren kaum jemals so aktuell.

Die Frage nach dem Volklichen ist nicht weniger denn eine Philosophie des Alltagslebens, der Identität, der Subjektivität und der Transzendenz des Menschen. Wer sind „wir“? Was geschieht, wenn wir „du“ zueinander sagen – zu unseresglei­chen und zu unseresfremden?

Insofern liegt die volkliche Frage nicht primär „draußen“, in der Politik jenseits der Menschen. Balkanization for practically everyone – nannte Michael Zwerin 1976 den neuen Nationalismus. Balkanisierung für jedermann.

Bevor dies zur Staats- (oder Antistaats-)Politik wird, ist es zuvörderst etwas anderes: Psychologie. Die Psychologie der Transmoderne?

Und die Transmoderne ist zugleich Erinnerung:

Seh ich die Völker an,
werd ich vor Wunder bleich.
Daß sie so ungleich sind,
vielmehr noch, daß sie gleich.

(Frei nach Daniel von Czepko von Reigersfeld, Schweidnitz/Schlesien um 1648)

Dieser leicht gekürzte und aktualisierte Artikel ist zuerst vollständig erschienen in dem Sammelband:

Henning Eichberg: Die Geschichte macht Sprünge, 1996

Das Buch ist hier erhältlich.

Henning Eichberg

Henning Eichberg (1942 – 2017), Kultursoziologe und Historiker, der seit 1982 in Dänemark lehrte, war bereits seit den ersten Ausgaben der Zeitschrift wir selbst (Gründung im Jahre 1979) der inspirierende Kopf. Sein intellektuelles Fluktuieren zwischen rechten und linken Denkströmungen, seine linksnationale, ethnoplurale Kritik am rechten Etatismus und seine radikale ökologische Orientierung wurden für uns programmatisch wegweisend, jedoch nie zu Dogmen.

Autor der Bücher:

Geschichtsvergessenheit im wissenschaftlichen Gewand

von Hermine Brandenburger

Geschichtsvergessenheit im wissenschaftlichen Gewand

Als ich mich entschied, mich im Studium auf mittelalterliche Literatur und Geschichte zu spezialisieren, spielte dabei auch der Gedanke eine nicht unerhebliche Rolle, mich nicht einmal mehr ansatzweise mit dem Nationalsozialismus, der in der Schule bis zum Erbrechen durchgekaut wurde, auseinandersetzen zu müssen. Ich gestehe, dass es mir weniger deswegen Unbehagen bereitete, diese Epoche der deutschen Geschichte zu behandeln, weil sie so viele Schrecken birgt, als vielmehr, weil ich stets fürchtete, ein falsches Wort zu diesem Thema könne mir so hinterlistig im Munde umgedreht werden, eine reflektierte Betrachtungsweise, ein nüchterner Blick auf die Fakten könne mir bereits fälschlicherweise als Sympathie mit der NS-Ideologie ausgelegt werden.

Ich studierte bereits im Masterstudiengang, betrat aber eines Tages interessehalber und wissbegierig eine Einführungsvorlesung zur mittelalterlichen Geschichte. Bereits der Zusatz „Einführung in eine ferne Epoche“ irritierte mich, was aber womöglich – so dachte ich zumindest – nur an mir lag und daran, dass mir durch meine mediävistischen Studien das Mittelalter gar nicht mehr so fremd und fern erschien, wie es einem Studienanfänger erscheinen musste.

Doch meine Irritation blieb. Denn die Dozentin wählte zum Einstieg in die Vorlesung über das Mittelalter ohne Umschweife ein Zitat aus Hitlers „Mein Kampf“:

„Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“

Adolf Hitler, „Mein Kampf“

Wozu sollte dieses Zitat wohl dienen? Natürlich zur Problematisierung der wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtungsweise des Mittelalters, des Missbrauchs des Mittelalters durch die Nationalsozialisten, um die eigene Ideologie zu legitimieren. Es bleibt die Frage: Ist dies ein adäquater Einstieg in eine Einführungsvorlesung zum Mittelalter? Wie diese maßgebliche Epoche viele Jahrhunderte später rezipiert wurde und wie wir das Mittelalter daher um Gottes willen nicht betrachten dürfen? Sollte uns als wissbegierigen, reflexionswilligen Studenten nicht freigestellt sein, auf welche Art wir uns einer prägenden Epoche unserer Geschichte nähern?

Denn genau dies schien Sinn und Zweck des Einstieges über den Nationalsozialismus zu sein und so kam die Dozentin auf den Vorlesungszusatz „Einführung in eine ferne Epoche“ zurück. Sie erklärte, dass es zwei mögliche Betrachtungsweisen des Mittelalters gebe: Erstens, man könne in den Fokus nehmen, welche Kontinuitäten es vom Mittelalter zur Neuzeit gebe, welche neuzeitlichen Entwicklungen beispielsweise aus mittelalterlichen Mentalitäten und Traditionen resultierten. Oder zweitens, man könne – und solle! – das Mittelalter als eine ferne Epoche betrachten, die mit unserer Zeit so wenig zu tun habe wie etwa die Geschichte der Maori oder der Inuit, um einen nüchternen, neutralen Blick auf die Epoche des Mittelalters zu erhalten. Nach dieser Erläuterung ergänzte sie (und ich bitte um Verzeihung, falls dieses aus dem Gedächtnis wiedergegebene Zitat nur sinngemäß stimmen sollte): „Die erste Betrachtungsweise wählten die Nazis, und sie wird auch von heutigen rechtspopulistischen Parteien gewählt. Mir persönlich ist da die zweite Betrachtungsweise wesentlich sympathischer.“ Begleitet wurde diese mit einem Augenzwinkern vorgetragene Polemik durch eine in die Präsentation eingebundene lustige Comicdarstellung eines Ritters und den Schriftzug: „Schlägt das Mittelalter zurück?“

Während ich nur noch konsterniert im Hörsaal saß und angesichts dieser ungeheuerlichen Manipulation und Denkvorgabe wohl einen recht versteinerten Gesichtsausdruck annahm, schrieben die 18, 19 Jahre alten Erstsemesterstudenten um mich herum fleißig mit und übernahmen die Thesen der Dozentin als Faktenwissen in ihre Unterlagen.

Meister des Codex 167

Mir fehlte der Mut, die Hand zu heben und die Dozentin zu fragen, ob denn ihr Vorgehen, das Mittelalter nun zur Denunziation sogenannter rechtspopulistischer Parteien – jeder weiß, welche konkret gemeint sind – zu verwenden, es sogar dazu zu instrumentalisieren, diese Parteien mit der NSDAP gleichzusetzen, nicht genau den gleichen Missbrauch zu politischen Zwecken darstelle. Dass ich mich lediglich dem allgemeinen Beifall zum Ende der Vorlesung nicht anschloss, ist mir nur ein schwacher Trost.

Leider kann sich meine Anklage nicht nur gegen diese eine junge Dozentin richten, vielmehr handelt es sich bei ihren Aussagen um ein Symptom einer neuen Geschichtsvergessenheit, die auch den wissenschaftlichen Bereich dominiert. Eine neutrale, nüchterne Betrachtung vergangener Zeiten ist kaum mehr denkbar. Stets muss man sich distanzieren, erklären, dass man sich bestenfalls mit den deutschsprachigen Raum beschäftige, von Deutschland könne ja noch gar nicht gesprochen werden. Wer sich für die Kontinuitäten interessiert, beispielsweise welche Erzähltraditionen, Mythen oder kulturellen Institutionen sich in gewandelter Form in die Neuzeit übertragen haben, wie beispielsweise das mittelalterliche maere und das neuzeitliche Märchen zusammenhängen oder wie der Hof und der höfische Tugendkatalog unsere Werte und Normen geprägt haben, wird schräg beäugt und muss sich für sein wissenschaftliches Interesse rechtfertigen.

Diese Paranoia, die regelrechte Angst davor, das Deutschland unserer Zeit als Folge und Ergebnis jahrhunderte-, ja jahrtausendelanger Traditionen zu sehen oder gar unserem vorchristlichen, germanischen Erbe eine Bedeutung über das Marginale hinaus beizumessen, ist über den wissenschaftlichen Bereich hinaus im Alltag spürbar. Wenn man etwa anmerkt, die älteste deutsche Uni sei nicht etwa Heidelberg, sondern Prag, bildet sich bereits Schaum vor den Mündern der Meinungstotalitären. Zu der Erklärung, dass die heutigen deutschen Grenzen ja erst seit wenigen Jahrzehnten in dieser Form bestehen und es eine legitime Betrachtungsweise ist, historische Institutionen auch in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu betrachten, gelangt man dann kaum noch. Die Würfel sind gefallen, die Meinung ist gefällt.

Dies ist eine Erkenntnis, zu der ich im Studium leider gelangen musste: Sich auf eine „ferne“ Epoche zu spezialisieren, genügt nicht, um den Fängen des Meinungstotalitarismus zu entfliehen. Er ist in den Köpfen fest verankert und manifestiert sich in vielerlei Bereichen. Begegnen kann man ihm nur mit dezidiert sachlichen Argumenten und dem Mut, sich gegen billige, vorschnelle Verurteilungen zu wehren.

Hermine Brandenburger

Gotik: Maß und Ziel

von Klaus Kunze

Gotik: Maß und Ziel

Unserer Zeit sind weitgehend das rechte Maß und die rechte Form abhandengekommen. Die Architektur früherer Epochen war menschlich. Sie wies eine geistige Struktur auf. Sie war für ihre Erbauer Maß und Ziel zugleich. Der gotische Pfeiler der St.Lorenz-Kirche in Nürnberg bricht seine gewaltige Baumasse durch filigrane Rippung auf:

St. Lorenz-Kirche in Nürnberg

Was der Bombenkrieg uns gelassen hat, bildet Oasen der geistigen und emotionalen Normalität. Gotische Architektur strahlt stimmungsvolle Ruhe, zugleich aber auch Dynamik aus. Alle Gedanken und Sinne ihrer Erbauer waren himmelwärts gerichtet. Und dorthin lenkt sie unseren Blick.

Magdeburger Dom

In der Gegend des Magdeburger Doms lebten seit unvordenklicher Zeit meine Vorfahren. Wie oft mögen sie bewundernd emporgeblickt haben? Der Dom war optischer Mittelpunkt und Fluchtpunkt für Tausende bei dem entsetzlichen Gemetzel am 20. Mai 1631, als die Stadt im 30jährigen Krieg erobert wurde. Und er überstand den 16. Januar 1945, als die Stadt um ihn herum im Bombenhagel versank.

In Filmen sehen viele Menschen fasziniert romantische Architektur und erfreuen sich an zauberhaften Anblicken wie in „Hogwarts“, der Zauberschule. Mitten in Deutschland gibt es noch viele solche verwunschenen Ecken, oft versteckt zwischen Straßenschluchten und modernen Betonpalästen.

Magdeburger Dom, Chor

Zuerst veröffentlicht auf: http://klauskunze.com/blog/2019/10/21/mass-und-ziel/

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

NEU:

Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Hier erhältlich!

Klaus Kunze: Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen. Von der Vormundschaft zum Genderismus. Hier erhältlich!

Theodor Lessing

Zahlreiche Aufsätze, die Henning Eichberg unserer Zeitschrift schon vor Jahren zur Verfügung gestellt hatte, sind noch unveröffentlicht. Auf unserer Internetseite möchten wir diese, soweit sie noch von aktueller Bedeutung sind, unseren Lesern vorstellen. Wir erhoffen uns kontroverse Diskussionen.

von Henning Eichberg

Theodor Lessing

Der Philosoph, Psychologe und Kulturkritiker Theodor Lessing (1872-1933) stiftete in der Weimarer Republik als Feuilletonist Unruhe. Mit satirischen Artikeln und Fallstudien machte er auf restaurative Tendenzen seiner Zeit aufmerksam, von den Fememördern über Polizei und Justiz bis zur Gestalt des Reichspräsidenten Hindenburg. Von „rechts“ her versuchte man, seine Vorlesungen an der Universität zu sprengen und zu unterbinden; in ihm traf man „den zersetzenden Juden“. 1933 emi­grierte er in die Tschechoslowakei, wo ihn in Marienbad ein SD-Kommando erschoss; es erhielt dafür 80 000 RM zum Lohn.

Aber auch die „Linke“ konnte mit Theodor Lessing nicht eigentlich etwas anfangen. Das hatte mit dem Kern seiner Kultur- und Gesellschaftskritik zu tun.

In seinem Hauptwerk „Untergang der Erde am Geist“ (Hannover: Wolf Albrecht Adam, 3.Aufl. 1924, Erstfassung „Europa und Asien“ 1916) entwarf Lessing eine fundamentale Kritik der westlichen Lebensweise. Im Namen von Industrie, Machbarkeit und Fortschritt werden die Natur zerstört und die Volkskulturen ausgerottet – die Umwelt vernutzt, der Wald vernichtet, die Natur vergiftet, das Leben entseelt. Es herrscht das Geld. Mit Lessing erreichte das ökologische Bewusstsein einen frühen Höhepunkt, als eine radikale Kulturkritik. Amerika mit Indianerausrottung, Arbeiterunterdrückung und Zerstörung der Völker war ihm ein gesteigerter Ausdruck des Westlertums, hervorgewachsen aus der Logik der europäisch-christlichen Geschichte. Die Naturkrise der Moderne hatte, so zeigte er, ihre Voraussetzungen in der Ausrottung des alteuropäischen Heidentums. Erst wurden die einheimischen Alben und Holden vernichtet, dann ging es den außereuropäischen Völkern, den Beduinen, Eskimos, Indianer, Grönländer, Papuas an die Existenz, und schließlich der natürlichen Umwelt.

Der Geist von Technik, Zivilisation und christlicher Selbsterhöhung des Menschen stößt also in aller Schärfe mit dem Leben zusammen, wie es in den heidnischen Naturgeistern, im Osterei, in der Edda, in Yggdrasil und Odin zum Ausdruck kam, aber auch in der islamischen Sufi-Mystik, im Lachen des Buddha und nicht zuletzt im frühjüdisch-heidnischen Naturmythos. Dort, in der „Volkheit“, seien die Quellen des Widerstands und der Erneuerung zu finden. Nach 1945 fanden die Staatsphilosophien weder in Ost noch in West einen Zugang zu solcher Kritik. In der DDR galt Lessing als „bürgerlicher Intellektueller“, dessen „abstrakt-idealistisches“ Denken letztlich „antikommunistisch“ war. In Westdeutschland hätte die Radikalität, mit der Lessing Kapitalismuskritik, Naturbewusstsein und „Volkheit“ verband, ihn der Verfassungsfeindlichkeit verdächtig gemacht. Wo Lessing vereinzelt erwähnt – auch nachgedruckt – wurde, geschah das meist am Rande intellektueller Diskussionen und verharmlosend oder direkt entstellend. Das ermuntert zur Wiederbegegnung mit dem Original.

„Eine grausam unerbittliche Maschine walzte Kultur dahin […] Längst hinweggewischt und geschwunden ist die gesamte Tierwelt Europas, deren Abbilder wir noch finden in den Höhlen von Perigord und Dordogne in Südfrankreich oder, eingeritzt und in Ocker ausgemalt, in den Felsen der Pyrenäen: die gewaltigste Tierwelt der Erde. – Was ist in Deutschland binnen [einhundert] Jahren vom Erdboden weggeknallt? Auerochs, Tarpan, Wisent, Bär, Lux, Wolf, Elch, Wildkatze, Biber, Otter, Marder, Nerz. – Demnächst auch: Eber, Wiesel, Dachs und Fuchs. Von mehreren tausend Vogelarten blieben wenige hundert übrig […] Zu diesem Frevel am Tier, welch unerhörter Frevel an Aue und Wald! Die Einöden Syriens, Griechenlands, der jonischen Inseln, einst der Erde reichste Gärten; die Abhänge der Provence, heute Felsen- und Murentäler, aber einst geheimnisrauschender Wald; Kleinasiens steinige Kalkwüste, einst voller Blumen ein Gartenland; der leichenhafte, todtraurige Karst, ausgemergelt von der Habgier venetianischer Krämer […]; bald auch unser morgendliches Deutschland, in Haide, Stoppel und Steppe verwandelt, […] alle diese geschändeten Erdstriche zeigen, wie die Natur am wälderverwüstenden Menschen sich rächt, der die blühende Lebenswelt vermarktet, verkrämert, verhandelt. […] Man erschlägt in jedem Jahr 10 Millionen Robben! […] Nein! […] Man erschlägt sie nicht. Das wäre nicht wirtschaftlich. Man zieht den Lebenden das Fell vom Leibe und läßt sie liegen. Sie sterben von selbst.“

Theodor Lessing, „Die verfluchte Kultur“ (1921)

Henning Eichberg

Henning Eichberg (1942 – 2017), Kultursoziologe und Historiker, der seit 1982 in Dänemark lehrte, war bereits seit den ersten Ausgaben der Zeitschrift wir selbst (Gründung im Jahre 1979) der inspirierende Kopf. Sein intellektuelles Fluktuieren zwischen rechten und linken Denkströmungen, seine linksnationale, ethnoplurale Kritik am rechten Etatismus und seine radikale ökologische Orientierung wurden für uns programmatisch wegweisend, jedoch nie zu Dogmen.

Autor der Bücher:

Gedicht: DDR

»In der Menschenveredelungsanstalt«, 1962, Sieghard Pohl, Urfassung vom Staatssicherheitsdienst beschlagnahmt 1963; Quelle: Sieghard Pohl, »extra muros«. Kurzprosa Grafik Malerei Objekte, erschienen im Verlag Siegfried Bublies, Koblenz 1990.

DDR

Gedicht von Siegmar Faust

Was heißt das? Double Data Rate – Ah, ja! Hatte das
irgendwann mal eine Bedeutung? Was steckt dahinter?
Eine Stadt? Ein Staat? Eine besondere Duftnote fürs
Fußvolk im Reich der Überflüssigkeiten?
Man hört gelegentlich: Sie war – ein real existierender Wahn.
Mehr noch: ein Besatzungskahn voller Größenwahn.

Und nun? Ist sie in einer größeren Einheit aufgegangen?
Oder gar untergegangen?
Auf welchem Grund sollte sie grundlos liegen? In welchem
Ozean welcher Geistergeschichte?

Sie liegt. Sie lag. Sie log.
Sie log sich in den Fluss der Geschichte.
Ihr maßgebender Fluss war die Elbe.
Von Süd nach Nord: Ein deutscher Fall.
Lass, Robert, lass sein
Nee, schenk mir kein’ ein!
Abgang ist überall…[2]

Da ging die Post ab – als die DDR noch lebte und bebte.
Da kam nichts an – nichts kam unkontrolliert an deren
Bewohner heran. Da kontrollierte die Kontrolle die Rolle
der Kontrolle. Ein sportlicher Selbstläufer mit Goldmedaille.
Selbst die fiesen Friseure frisierten ihre Gedanken auf
das kürzeste Niveau herab. Wie gesagt: Da ging was ab!

Eine einzige DDR auf der Welt machte die DDR zur einzigen
DDR der Welt. Mehr war nicht drin. Das Leben, welches
das unsere verbarg, mied uns niederträchtig bis auf die Knochen.
Nichts war dran an dieser so roten wie begehrten Witwe.
Aller Bestand an ihr war Sand: in Hülle und Fülle.

Die Wüste wuchs. Wenigstens einer sah es so kommen –
ausgerechnet der Herr Nietzsche, lange vor seinem Delirium.
Doch in aller wüsten Weile wuchs der Sand zum Gebirge auf.
So hätte er wachsen müssen laut Plan.

Aber die Feinde des Konsum-Sozialis-Mus!
Neben den vier Himmelsrichtungen waren es vor allem:
Der Frühling, der Sommer, der Herbst und der Winter.
Besonders feindselig war der Herbst im Frühling, als alle
Blütenträume reifen sollten – und als Schoten platzten.

Es kam zur Ebbe auf allen Ebenen. Sogar der Sand
wurde knapp. Was sollte der Sandmann den Kindern noch
in die Ohren streuen? Juckpulver war ausverkauft.
Aus den Nasen tropfte trotzig der Rotz.
Wer nichts hören wollte musste es sehen, was nicht mit
anzusehen war: Geruchsproben im Einweckglas.
Das Ende vom Lied der klassenlosen Blamage.

Des Staates Nummer Eins war sich alles in allem:
vorne Er, hinten ich: Erich –
ein Leib ohne Seele, aber Vorsteher und Vorsitzender
aller Sitze und ummauerten Besitze.
Süßsauer lächelnd meldete er seine Erfolge, als hätten
wir die DDR dem Meer abgerungen.
Wirklich, es war ein Meer von Trümmern [3]

Wer sich erinnert, der hat mehr von der Vergangenheit,
aber weniger vom flotten Leben.
Es soll doch eine Dee Dee eR gegeben haben – das behaupten
Außenstehende. Ich aber habe sie erlebt, erlitten und habe es
immer wieder bestritten. Ich lasse mich weniger als dreimal
bitten und bringe sie nun zum Ausdruck, wenn mein Drucker mitspielt.

Ansonsten müsste ich mich selber ausdrücken oder
ausdrucken, das gäbe ein Gedruckse, ein wahres Erbrechen –
Wilhelm Dilthey stehe mir bei!

Das Erbrochene oder Versprochene führt
gerade hin zum Un-Sinn des Verstehens und meines Gehens
bis an den Rand, den ich halte, einhalte, zuhalte.

Halt! Grenzgebiet! Innerdeutsche Grenze – auch Zonengrenze,
Eiserner Vorhang, Antifaschistischer Schutz- oder
Schmutzwall geheißen. Ich hab’s vergessen, denn solche
Grenzerfahrung mündet stets in
einem Minenfeld unschuldigster Mienen.

Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer… [4]

Unsre Heimat. Das Unsere. Geliebt will es werden, das
Verfluchte. Es versprach uns… Nein, es verspricht uns
weiterhin Einweisung, Brustnahme, Trostspende. Das Unsere
will uns zukunftsweisend einmauern, einkaufen, einschläfern.

Tja, wo sterben wir denn?
Immer noch in der DDR oder schon wieder in ihr?
Sind wir noch oder wieder für immer und unwiderruflich [5]
mit den Völkern der verbrüsselten Sowjet-Union vernudelt?

Der Schein und die Ewigkeit – doch die namenlose Zeit
inspirierte uns zu mehreren Freunden und Feinden.

Ja, sie gibt es.
Gibt es nicht. Gibt es nicht mehr.
Gibt es nicht mehr auf: dem Meeresgrund, wo die Zukunft
nicht mehr ganz richtig unter den Sanduhren tickt.

Der letzte Singsang auf dem abendländisch-sozialistischen
Luxusdampfer „Titanic“ hieß gewiss:
Brü-hü-der, zur Son-ne, zuuuuur Fr..h..t… [6]

Quellen:

[1] Es wird keine DDR mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte. (Kommentar von Stefan Heym im Fernsehen zum Wahlergebnis der Volkskammerwahl der DDR am 18.3.1990)

[2] Aus dem Refrain von Wolf Biermanns Lied „Enfant perdu“

[3] Aus Volker Brauns Gedicht „Prolog“ zur Eröffnung der 40. Spielzeit des Berliner Ensembles am 11. Oktober 1989

[4] Beliebtes Kinderlied, gesungen von einem Kinderchor der DDR.

[5] Im Artikel 6 der DDR-Verfassung hieß es: Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet.

[6] „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ – Kampflied aus der Arbeiterbewegung. Text: Leonid P. Radin, 1897, Nachdichtung: Hermann Scherchen, 1918; Musik: russische Volksweise

Siegmar Faust

Siegmar Faust, geboren 1944, studierte Kunsterziehung und Geschichte in Leipzig. Seit Ende der 1980er Jahre ist Faust Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), heute als Kuratoriums-Mitglied. Von 1987 bis 1990 war er Chefredakteur der von der IGFM herausgegebenen Zeitschrift „DDR heute“ sowie Mitherausgeber der Zeitschrift des Brüsewitz-Zentrums, „Christen drüben“. Faust war zeitweise Geschäftsführer des Menschenrechtszentrums Cottbus e. V. und arbeitete dort auch als Besucherreferent, ebenso in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Er ist aus dem Vorstand des Menschenrechtszentrums ausgetreten und gehört nur noch der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik und der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft an.

Fast mein halbes Leben …

von Jupp Koschinsky

„Frage: Du liebst dein Vaterland, nicht wahr, mein Sohn? Antwort: Ja, mein Vater; das tu ich. Frage: Warum liebst du es? Antwort: Weil es mein Vaterland ist. Frage: Du meinst, weil Gott es gesegnet hat mit vielen Früchten, weil viele schöne Werke der Kunst es schmücken, weil Helden, Staatsmänner und Weise, deren Namen anzuführen kein Ende ist, es verherrlicht haben? Antwort: Nein, mein Vater; du verführst mich. Frage: Ich verführte dich? Antwort: – Denn Rom und das ägyptische Delta sind, wie du mich gelehrt hast, mit Früchten und schönen Werken der Kunst, und allem, was groß und herrlich sein mag, weit mehr gesegnet, als Deutschland. Gleichwohl, wenn deines Sohnes Schicksal wollte, daß er darin leben sollte, würde er sich traurig fühlen, und es nimmermehr so lieb haben, wie jetzt Deutschland. Frage: Warum also liebst du Deutschland? Antwort: Mein Vater, ich habe es dir schon gesagt! Frage: Du hättest es mir schon gesagt? Antwort: Weil es mein Vaterland ist.“

(aus Heinrich von Kleist, Politische Schriften des Jahres 1809)

Unsre Heimat,
das sind nicht nur die Städte und Dörfer.
Unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald, unsre Heimat
ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel
in der Luft und die Tiere der Erde.
Und die Fische im Fluß sind die Heimat.
Und wir lieben die Heimat, die schöne.
Und wir schützen sie, weil sie den Banken gehört,
weil sie den Banken gehört.

(eigentlich „weil sie dem Volke„, beziehungsweise „unserem Volke gehört„, Lied der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ in der Freien Deutschen Jugend der DDR, Worte von Herbert Keller, letzte Zeile abgewandelt von Uwe Steimle)

Fast mein halbes Leben …

…war der Todesstreifen zwischen der BRD und der DDR traurige Wirklichkeit. Als ich meine vaterlandslosen Flegeljahre hinter mir gelassen und die blauen Besatzer-Buchsen endgültig ausgezogen hatte, empfand ich mich immer mehr als das, was ich ja war, nämlich als Deutscher. Zur Wiedergeburt meines Landes in mir trugen nicht wenig die Begegnungen mit Angehörigen anderer Völker bei, in deren Gesellschaft ich suchte, was ich nicht benennen konnte, jedenfalls aber bei meinen Landsleuten nicht fand und auch mir selbst schmerzlich abging. Diese Fremden sangen – unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, die ich in den wenigsten Fällen kannte – ganz selbstverständlich das Hohelied ihrer Heimat und heute ahne ich, daß sie etwas hatten, was mir fehlte: Identität!

Meine Eltern verließen mit mir die DDR, als ich ein Jahr alt war. Da mein Vater sich weigerte, der SED beizutreten, waren seine beruflichen und damit wirtschaftlichen Aussichten begrenzt, also ging er. Nie wäre ihm eingefallen, sich als Flüchtling zu bezeichnen, womit er auch auf gewisse finanzielle Vorteile verzichtete, die es damals von amtlicher Seite wohl gab. Er verachtete Leute, die aus den nämlichen Gründen und unter ähnlichen Umständen ihre (mitteldeutsche) Heimat verlassen hatten und sich selbst mit dieser Bezeichnung einen Abenteurermantel umhingen, der ihnen nicht zustand. Flüchtlinge, das waren die, die unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Gesundheit Mauer und Stacheldraht überwanden.

In meiner Kindheit war Mitteldeutschland mir ferner als irgendein anderes Land. Die alten Verwandten, die uns besuchen durften, waren Habenichtse aus einer unwirklichen Welt, die vergebens meine Nähe suchten und deren Schauermärchen mich nicht interessierten. Hätte ich nur mehr gefragt und zugehört!

Später, als mir fast die ganze Welt offenstand, sehnte ich mich dagegen immer mehr danach, einmal meine Geburtsstadt in Sachsen zu sehen, an die ich ja nicht die geringsten Erinnerungen hatte. Allein, die Schikanen der Grenzpolizisten bei der Fahrt von West-Berlin nach West-Deutschland auf der sogenannten Transitautobahn reichten mir und das ganze Hickhack eines Besuchs in der „Zone„, das meine Eltern immer wieder einmal auf sich nahmen, wollte ich mir nicht antun. Aber wie oft stand ich vor diesen Grenzanlagen und schaute hinüber, mißtrauisch durch’s Fernglas von DDR-Grenzpolizisten beäugt. Die da drüben, auch die GrePos, das waren doch meine. Wie konnte uns so eine Monstrosität trennen? Ich unterstützte zu der Zeit mit gelegentlichen Spenden den Bundeswehrarzt Reinhard Erös, der auf eigene Faust afghanische Freischärler, die gegen die Sowjets kämpften, medizinisch versorgte und einen Sender namens „Radio freies Afghanistan“ ins Leben rief. Auf meinem Auto hatte ich einen diesbezüglichen Aufkleber. Als ich mich wieder einmal auf Transitautobahn-Grenzübergangs-Schikanen eingestellt hatte, trat ein schon alter DDR-Grenzer ans Fenster und fragte mich danach. Ich dachte nichts zu verlieren und tat ihm unverblümt meine Verachtung für das sowjetische Vorgehen in Afghanistan kund. Damals ahnte ich noch nicht, daß die Sowjets nur in das offene Messer gerannt waren, daß ihnen die Amis aufgestellt hatten. Er hörte sich alles ruhig an, dann lächelte er leicht, deutete einen militärischen Gruß an und wünschte mir ohne weiteres Gute Fahrt.

Und dann kam der 9. November 1989. Ich hatte im Rhein-Main-Gebiet zu tun und hörte abends in den Nachrichten vom Fall der Mauer. Es war ungeheuerlich. Ich kann das Gefühl, das mich durchströmte, kaum begreifen, eine Mischung aus Ergriffenheit, Jubel, Zweifel.

Am nächsten Morgen kaufte ich am ersten „Wasserhäuschen“ (kennen nur die Hessen, oder?) eine Flasche Sekt und schenkte sie meinen Kollegen aus: „Die Mauer ist gefallen!“ Auch sie wollten es nicht glauben. „Eigentlich müßten wir jetzt die National-Hymne singen“ meinte einer, aber wir alle konnten und trauten uns nicht. Da war sie wieder, diese seltsame Verdruckstheit dem eigenen gegenüber!

Aber seit damals feiern wir privat an jedem 9. November den Mauerfall: Aus Packpapier oder Kartons wird eine Mauer errichtet, besprüht, und dann – nach einem Vortrag, einem kleinen Theaterstück oder ähnlichem – gestürmt (besonders für die Kinder ein Spaß) und das Lied der Deutschen gesungen. Einen Schluck Sekt gibt’s auch. Kaum jemand veranstaltet so etwas. Warum? Es kommen Leute vorbei, die fragen „Was war denn am 9. November?“ Dabei ist der doch unser deutscher Schicksalstag.

Dieses Mal nun wird er, weil’s ein runder Jahrestag ist, auch von den Eliten des herrschenden politisch-medialen Komplexes gefeiert. In anderen Jahren steht regelmäßig die viel vergangenere unselige Reichskristallnacht im Vordergrund. Diese Eliten, an deren Wesen nicht nur wir Deutschen, sondern die ganze Welt genesen soll, können den Mitteldeutschen (und den Russen!) bis heute die deutsche Einheit nicht verzeihen. Es ist ihnen anzusehen und -zuhören, wie sie innerlich mit den Zähnen knirschen. Sie alle wollten was auch immer, die Wiedervereinigung jedenfalls keinesfalls, allen Sonntagsreden zum Trotz. Als sie nicht mehr zu verhindern war, waren sie selbstverständlich schon immer alle dafür gewesen, wie billig, und heute haben sie und nicht die aufmüpfigen Mitteldeutschen diese herbeigeführt.

Hätte mir einer damals erzählt, daß in dreißig Jahren Deutschland so aussähe wie heute, hätte ich ihn ausgelacht. Niemals! So verlogen, so heimtückisch konnte keine angeblich demokratische Elite, so schlafmützig kein Volk sein!

Ich mag und brauche nicht aufzählen, was alles seitdem schiefgelaufen ist. Wieviel vergifteten Tand haben wir schon von einer boshaften Stiefmutter bekommen und welche vergifteten Äpfel wird sie uns noch andrehen? Wieviele Träume von einem freien (sprich souveränen), fruchtbaren, friedlichen Deutschland inmitten eines Europas von lauter ebensolchen Vaterländern, die einander sein lassen, was sie sind, und einander anregen, sind zerplatzt, wieviele ihrer eigenen Gesetze und Verträge haben die hauptamtlichen, wohlbestallten meineidigen Geßlers unter’m Beifall ihrer ebenso wohlbestallten zahlreichen Mitläufer gebrochen oder zurechtgebogen, wie sehr ist die herrschende Politik zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln geworden? Es würde Bände füllen. Beiläufig nur eines: Sind die Nacktbadestrände im Zuge der massenhaften „kulturellen Bereicherung“ nicht rarer, die Paradiese der mitteldeutschen Ostseeküste nicht kleiner geworden?

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ titelte vorige Woche „63% der Deutschen glauben, man müsse sehr aufpassen, wenn man seine Meinung öffentlich äußert“ und entblödet sich nicht zu fragen „Wie kann das sein?

Was für ein Hohn!

Ein alter Kommunist (ich meine, ein wirklicher Linker wie zum Beispiel Stephan Steins, also Gegner des Großkapitals und nicht dessen „Knüppel aus dem Sack„), der seine Gesprächspartner nach Sympathie und nicht nach Gesinnung aussucht, erzählte mir einmal, er habe bei der Nachricht vom Fall der Mauer geweint: „Jetzt würde ganz Deutschland amerikanisiert werden!“ und meine Mutter, eine kleine tapfere Frau prophezeite „Jetzt kriegen wir bald Zustände wie in der DDR“. Es ist alles viel schlimmer gekommen. Deutschland und das deutsche Volk sind in ihrer Substanz und ihrem Fortbestand so gefährdet wie nie. Warum also feiern?

Weil es immer noch wunderbar ist, – einfach so! – von West- nach Mitteldeutschland oder umgekehrt zu fahren; weil „in Saggsen“ immer noch „de schönsdn Mädchn waggsen„; weil wir unseren mitteldeutschen Landsleuten Dank und Achtung schulden; weil der Jubel dieses Tages nicht vergessen werden darf; weil die Geschichte Sprünge macht (Henning Eichberg) und nicht immer einfach so weitergehen muß; weil jeder Mensch das Recht hat, bei sich zuhause zu sein und der, der den eigenen Leuten nicht die Heimat gönnt, auch nicht zögern wird, sie anderen zu zerstören; weil wir dieses Land, für das unsere Vorfahren gelitten und gerungen haben (und täusche sich niemand: Jeder trägt seine Ahnen in und mit sich!) nur als Treuhänder bekamen, um es an unsere Kinder weiterzugeben; weil nur freie, selbstbewußte Völker die Planierung der Erde aufhalten können; weil wir selber heile sein müssen, um die Erde heil und heilig halten zu können; weil – wir selbst es uns wert sein sollten.

Jupp Koschinsky

Immer wieder montags

von Klaus Kunze

Immer wieder montags

„Das Land ist ja frei, und der Morgen tagt …!“ Wir füllten den kleinen VW-Polo mit lautem Jubel und mit Theodor Körners Lied von 1813. Wie dessen „wilde, verwegene Jagd“ kamen wir uns fast vor, kurz hinter jener Zonengrenze, die mein Leben lang eine Albtraumgrenze gewesen war. Jetzt, Anfang Januar 1990, durften wir visumfrei einreisen und kurvten über nasse Kopfsteinpflaster der F80 ostwärts.

In Leipzig ereignete sich an jenem Montag Geschichte. Meine Kinder sollten einst sagen können: „… und wir sind dabei gewesen.“ Dabei kannten sie das Land schon, in dem ihr Vater 37 Jahre zuvor geboren worden war. Grenze und Todesstreifen hatten uns nicht abschrecken können, unsere Verwandten zu besuchen.

Der Augustusplatz stand schon halbvoll. Damals hieß er Karl-Marx-Platz. Wir erklommen die Stufen der Oper, damit meine Kleinen über die Köpfe der Menge hinwegsehen konnten. Die Stimmung knisterte wie bereites Flügelrascheln eines Heuschreckenschwarmes, der gleich auffliegen will. Überall gespannte, frohe Mienen. Fahnen wurden über den Köpfen der Menge geschwenkt. „Wir sind das Volk!“ wurde lauter und lauter.

Die bis zu den gegenüber liegenden Häusern wogende Menge brach auf. Wir reihten uns ein. In breiter Front ging es über den Georgiring nordwärts. Weinte ich Freudentränen? Lösten sich uralte Traumata? In meiner Kindheit hatten an einem Abend im Jahr auf den Fensterbrettern jeder Wohnung in der Moltkestaße in Köln Kerzen gebrannt. Sie erinnerten an unsere Brüder und Schwestern in der Ostzone, die dort eingesperrt und nicht frei waren. Meine 1955 geflüchteten Eltern erzählten oft und viel von ihnen. Ihre Erzählungen bildeten den festen Kern meiner kindlichen Vorstellung von der Welt: der Welt wie sie war, aber nicht der Welt, wie sie sein sollte.

Der Demonstrationszug erreichte schnell den Hauptbahnhof und bog nach links ab, wir mitten drin. Das größte Bahnhofsgebäude Deutschlands. Stumm grüßten uns seine steinernen Löwen und hielten das sächsische Wappen, als warteten sie treu darauf, bis die steinerne Wettiner-Krone wieder ergänzt sein würde. Die SED-Herrschaft drohte das ganze Land in eine verfallende, graue Einöde zu verwandeln. Wanderer zwischen beiden Welten waren wir zu lange gewesen. Wir pendelten jahrelang als Westbesucher zwischen dem bunten Westen und einem grauen Osten hin und her, dessen einzige Farbtupfer rote Fahnen und Banner an jeder Ecke waren. Grau war auch das Haus, in das meine Mutter mit mir 1955 hatte einziehen müssen, in jene schimmelige Wohnung mit Pilz an der Decke. Mein Vater, Parteisekretär, war als erster in den Westen abgehauen. So hatte die SED meiner Mutter die Neubauwohnung entzogen, die nur für privilegierte Genossen vorgesehen war.

Unverdrossen und frohgemut ließ unsere Montagsdemo den Bahnhof hinter sich und näherte sich dem Tröndlinring, heutigem Goerdelerring. Wenn eingeschüchterte Menschen ihre Angst verlieren und sich zu einer Menschenmasse zusammenfinden, wächst ihr Mut. Die Menge an Menschen gibt Sicherheit. Zum System des SED-Terrors hatte jahrzehntelang gehört, die Menschen zu vereinzeln. Allein saß man im blendenden Lampenschein den Verhörpersonen gegenüber. Die wußten sowieso meistens schon alles. Der totalitäre Staat säte Mißtrauen unter die Menschen. Jeder konnte nämlich ein Spitzel sein. Viele waren es tatsächlich. Die anderen flüchteten in die innere Einsamkeit.

Heute taten uns die Volkspolizisten am Straßenrand nichts. Am damaligen Friedrich-Engels-Platz bogen wir wieder links ab, um im Karree zum Rückweg einzuschwenken. An der Straßenecke des Neuen Rathauses wurde es leiser. „Da drin sitzt die Stasi!“, munkelte es. Jahre nach ihrer Flucht waren meine Eltern noch schweißgebadet nach Angstträumen aufgewacht. Ich wußte schon als kleiner Junge, wer der Feind war und wo er war. In kindlicher Empathie und Elternliebe hätte ich meine Eltern gern beschützt. Aber das allgegenwärtige Gefühl menschlicher Ohnmacht gegenüber der brutalen Allmacht des roten Systems reichte bis nach Köln und mir bis ins Kinderherz.

Ich atmete tief durch spottete innerlich der von den Stasifenstern auf die Demo gerichteten Fotoapparate. Vorbeiziehende Demonstranten zu fotografieren ist nun einmal das Hobby der Schergen kommunistischer Gewaltherrscher und ihrer geistigen Nachkommen bis heute. Inzwischen hatte ich selbst längst meine eigene Stasi-Akte, das konnte ich mir denken. Lesen durfte ich sie erst viel später. Meine Gedanken schweiften wieder in meine Kindheit. Auf der Straße vom Rudolfplatz zum Neumarkt in Köln hatten über einem Geschäft in roter Farbe die Buchstaben ZPK geprangt. Meine Eltern faßten mich fester und rannten in einem ersten Impuls weg. ZPK hatte aber nicht mit dem ZK zu tun, dem Zentralkomittee „Einheitspartei“ von KPD und SPD, sondern war nur eine harmlose Änderungsschneiderei.

Alles Vergangenheit, vorbei. Sie lagerte unauslöschlich in meinem Gedächtnis. Unter meinen Füßen aber lag jetzt wieder die Gegenwart. Wir näherten uns wieder dem Ausgangspunkt der Demo. Die Zukunft würde die Wiedervereinigung dieser beiden Teile Deutschlands bringen. Das war unabwendbar und stand mir klar vor Augen. Am 28.3.1988 hatte ich in der FAZ geschrieben:

„Man kann niemanden mit Verstandesgründen von der Wichtígkeit operativ betriebener Deutschlandpolitik überzeugen, der nicht bereits in seinem tiefsten Herzen unter der Teilung leidet. Das deutsche Volk jedenfalls will mehrheitlich die Wiedervereinigung, und die Partei, die diese Sehnsucht aufgreifen und ihr einen realistischen Weg weisen, wird, wird noch einmal das Rennen machen.“

Das Opernhaus kam wieder in Sicht. Nach der Straßenecke am Rathaus ging es nur noch geradeaus. Gradlinig hatte ich einst gedacht, als ich 1974 in die CDU eingetreten war. Doch was ich fand, waren nur parteitaktische Winkelzüge. Als Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung lernte ich meinen gleichaltrigen Parteinachwuchs kennen und war entsetzt. Vaterlandsliebe fand ich hier nicht, nur zynisches Karrieredenken. „Wiedervereinigung – wovon träumst du denn? Außerdem ist die westliche Wertgemeinschaft viel wichtiger.“

Ende 1989 sprang die CDU, ein Jahr nach meinem Leserbrief von 1988, im letzten Moment auf den fahrenden Zug auf. Helmut Kohl machte das Rennen. Er war Realpolitiker genug, zu erkennen: Der Zug der Befreiung würde von Ost nach West durchrollen, mit oder ohne die CDU. Also setzte er sich an die Spitze der Wiedervereinigung, für die seine Partei seit Jahren nur noch offizielle Phrasen und entnervtes Seufzen aufbrachte.

Die Spitze unserer Montagsdemo kam wieder vor dem Opernhaus an. Ich badete in der Masse gleich gesinnter, gleich fühlender, begeisterter und aufgekratzter Menschen. Die Menge sang unsere Nationalhymne. Wir sangen ergriffen mit. Der Schalk in meinem Nacken machte sich über mich und meine Gefühle weidlich lustig und neckte mich.

Wenn man im Westen zum kritischen Individualisten erzogen wurde und nach der Devise lebte: „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“, und wenn man zeitlebens gegen die ideologischen Anmutungen linken Druckes anschwimmen mußte, verliert man irgendwann seine Massentauglichkeit. Wenn die christlichen oder linksliberalen Schäfer ins Horn blasen, gibt es immer ein paar störrische Schafe, die beiseite traben.

So verlor ich auch im Augenblick des größten Triumphes nicht in trunkener Freude den Verstand. Ich würde ihn noch brauchen. Auf einen Wimpernschlag der Geschichte waren sie zwar wie gelähmt, die Kollektivierer, die Gleichmacher, die Unterdrücker der Freiheit. Sie würden in neuem Gewand wiederkehren, das Gift ihres Neides und Hasses aussäen, sie würden wieder täuschen, tricksen, spitzeln. Der tschekistische Ungeist lauerte nur auf bessere Zeiten. Er war nicht in die Flasche verbannt. In einem liberalen Staat gibt es keinen Korken, der sie dauerhaft verschließen könnte.

Geschenkte Freiheit muß sich jede Generation neu und selbst erkämpfen, sie geht sonst verloren. Verloren wie die Erinnerung an jenen Winter 1989 / 90 bald sein wird, in dem ihr Feuer doch so hoch loderte und kurzfristig einen hellen Schein auf ein unterdrücktes Land warf.

Klaus Kunze zum 9.11.2019

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

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Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Hier erhältlich!

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