von Dr. Winfried Knörzer
Die Nation – eine wartungsbedürftige, naturwüchsige Konstruktion
Die Selbstliebe, die Liebe zur Familie, die Bindung an Sippe und Dorf sind elementare Tatsachen: man will sich selbst und die unmittelbare Umwelt erhalten. Diese Beziehung, die auch weiter ausgreift zu Volksstamm, Polis, Nation, erzeugt einen naturwüchsigen Patriotismus. Dieser ist aber ein noch vorpolitisches Phänomen. Um das Eigene zu bewahren – vor allem gegenüber feindlichen Invasionen –, muß er politisch organisiert und symbolisiert werden. Durch Feste, Riten, Fahnen, durch schulisch vermittelte Erzählungen über die großen Gestalten, Werke und Ereignisse der eigenen Geschichte wird die Identifikation mit der Nation gefördert, wird überhaupt erst aus einer Ansammlung von Menschen ein sich als Gemeinschaft empfindendes Volk geschaffen. Die Nation ist somit in gewisser Weise durchaus eine Konstruktion, aber eine Konstruktion, die auf dem Fundament des naturwüchsigen Patriotismus errichtet wird. Diese bewußt betriebene symbolische Codierung verleiht der Bindung ans Eigene Form, Sinn und Festigkeit, kann sie aber nicht erzeugen, sondern setzt diese voraus. Ohne sie aber verbleibt diese Bindung im Bereich privater Gefühle oder verschiebt sich auf Ersatzobjekte. Mit dieser entsteht aus dem vorpolitischen, naturwüchsigen Patriotismus der Nationalismus als die politische Form des Willens zur Nation. Den Nationalismus als Konstruktion zu bezeichnen, soll nicht bedeuten, wie dies zumeist mit diesem Begriff insinuiert wird, ihn als etwas Nur-Künstliches, Beliebiges, Nicht-Notwendiges zu betrachten. Er ist vielmehr logische Weiterentwicklung des naturwüchsigen Patriotismus und zudem der geistige Inhalt, der die äußere Gestalt von Staatsapparat und Staatsgebiet mit Leben erfüllt. Im übrigen sind durchweg alle spezifisch menschlichen Errungenschaften Konstruktionen, weshalb der Hinweis, daß eine dieser Errungenschaften auch eine Konstruktion ist, nur eine sinnleere, triviale Feststellung ist.
Durch Feste, Riten, Fahnen, durch schulisch vermittelte Erzählungen über die großen Gestalten, Werke und Ereignisse der eigenen Geschichte wird die Identifikation mit der Nation gefördert, wird überhaupt erst aus einer Ansammlung von Menschen ein sich als Gemeinschaft empfindendes Volk geschaffen. Die Nation ist somit in gewisser Weise durchaus eine Konstruktion, aber eine Konstruktion, die auf dem Fundament des naturwüchsigen Patriotismus errichtet wird.
Dr. Winfried Knörzer

Da der Nationalismus eine Konstruktion ist, ist er wie jede Konstruktion wartungsbedürftig. So wie ein Haus nicht nur zu seiner Errichtung, sondern auch zu seiner Instandhaltung der Arbeit bedarf, so auch der Nationalismus. Die berühmte Renansche Formel, die Nation sei ein „tägliches Plebiszit“ beschreibt nur die Subjektseite des Verhältnisses von Nation und Volk, nämlich das ständig zu wiederholende Jasagen des Volkes zur Nation. Diese Formel muß noch durch die Objektseite ergänzt werden. Jasagen kann man nur, wenn fortlaufend neue Anreize zum Jasagen angeboten werden.

Da alle spezifisch menschlichen Errungenschaften Konstruktionen sind, sind diese nicht nur wartungsbedürftig, sondern auch gefährdet und unzuverlässig. Selbst auf so elementare Antriebe wie die Mutterliebe kann man sich nicht verlassen. Der Mensch ist frei, sich gegen das ihm Wesenhafte zu entscheiden, und er tut dies auch, sei es aus Boshaftigkeit, Gleichgültigkeit oder vor allem aus dem zeitweiligen Überwiegen anderweitiger egoistischer Interessen. Er tut dies insbesondere dann, wenn ihn nicht normative Zwänge auf der Bahn des sittlich Gebotenen halten. Darum nimmt es nicht Wunder, wenn etliche Menschen die eigene Nation verschmähen. Für die Mehrheit trifft dies aber nicht zu. Sie empfindet ein diffuses Unbehagen angesichts des sich beschleunigenden Fremdwerdens ihrer Lebenswelt. Sie kann sich dieses Unbehagen aber nur in privatistischen lebensweltlichen Kategorien deuten – in einem Gemaule über zu viele Ausländer, zunehmende Gewalt und Verwahrlosung, Miesmacherei usw. Es fehlt das Interpretationsraster, um die Tragweite dieses Vorgangs voll erfassen zu können. Es fehlen die Ideale, anhand derer der Zustand der Wirklichkeit beurteilt werden kann. Ausgehend von diesem sich in alltäglichen Gesprächen, Leserbriefen, Umfragen und gelegentlichen Wahlerfolgen rechter Parteien zeigenden diffusen Unbehagen, glauben viele Rechte, daß es nur eines drastischen Anlasses oder einer nicht mehr vom politischen Gegner behinderten Aufklärung bedürfe, um den latenten Nationalismus bewußt und manifest zu machen. Das ist ein Irrtum, denn der bloße Wille allein bewirkt nichts. Wer ein Vogelhäuschen bauen will, aber weder über Werkzeug noch über handwerkliches Wissen der Holzbearbeitung verfügt, wird scheitern oder eher noch gar nicht erst den Versuch unternehmen. Es ist eine techné – vor allem in Form von Handlungsanweisungen – erforderlich, um aus dem Willen eine Praxis werden zu lassen. Diese Handlungsanweisungen liefern die mythischen Beispiele der eigenen Geschichte. Leonidas für die Griechen, Johanna von Orleans für die Franzosen, Friedrich der Große für die Deutschen sind Beispiele für den unbedingten Willen zum Standhalten und die Fähigkeit, das Eigene zu verteidigen.

Einst wurden durch die ständige Erinnerung an diese mythischen Vorbilder die Bürger dazu ermuntert, ihnen nachzueifern und sich deren unbeugsame Haltung zu eigen zu machen. Durch diese mittlere mythische Ebene wird das individuelle Wollen und Fühlen in eine für die Praxis anschlußfähige Gestalt geformt, wodurch es sich in politisches Handeln umsetzen kann. Ähnliches gilt für die kulturellen Errungenschaften – von der Bratwurst bis zu Beethoven. Nur wenn immer wieder durch stolzmachendes Erzählen daran erinnert wird, daß diese Errungenschaften mehr sind als nur brauchbare Dinge oder Gegenstände für in Prüfungen oder Quizsendungen abfragbares Wissen, nämlich UNSERE Errungenschaften, die unser Dasein ausmachen, wird man bereit sein, sich für deren Erhalt einzusetzen. Das genau ist die Konstruktion der Nation: den historischen Persönlichkeiten und kulturellen Errungenschaften einen nationalsymbolischen Mehrwert zu verleihen. Diese Konstruktion am Leben zu erhalten, ist eine beständige Aufgabe. Wird diese Aufgabe vernachlässigt, zerfällt die Nation in ein Territorium mit einer Rechtsordnung und eine Ansammlung von Tieren der Gattung homo sapiens.

Dr. Winfried Knörzer, geboren 1958 in Leipzig, studierte in Tübingen Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaften, Japanologie und promovierte über ein Thema aus der Geschichte der Psychoanalyse. Berufliche Tätigkeiten: Verlagslektor, EDV-Fachmann. Seit Anfang der 90er Jahre ist er mit Unterbrechungen publizistisch aktiv.
