Claus Schenk Graf von Stauffenberg: „Es lebe das heilige Deutschland!“

von Dr. Bodo Scheurig

Claus Schenk Graf von Stauffenberg: „Es lebe das heilige Deutschland!“

Es ist wahr: Stauffenberg war nicht Hitlers Gegner von Anfang an. Wie hätte er – 1933 ein 26jähriger Oberleutnant – durchschauen sollen, was Älteren und Erfahreneren verborgen blieb? Stauffenberg entstammte einer Schicht, die im Versailler Frieden und in Deutschlands innenpolitischer Zerrissenheit ein Unglück erblickte. Er mußte den verhießenen Wiederaufstieg des Reiches und – nach der Ohnmacht des 100 000-Mann-Heeres – eine Armee begrüßen, die wiederum imstande war, das eigene Land zu verteidigen. Die „nationale Revolution“ zog auch ihn in ihren Bann. Er hatte der Weimarer Republik mit der Loyalität gedient, die ihm der ernstgenommene Eid auferlegte. Aber als sie – nicht durch seine Schuld – ruhmlos zusammenbrach, ließ er sie ohne Kummer dahinfahren. Er war kein Nationalsozialist im Sinne der Partei, doch national und sozial gesinnt. Das unterband jeden Widerstand, den er damals nicht einmal als Ranghöherer hätte leisten können. Zeitgeist in einer Konsequenz aus dem Ersten Weltkrieg prägte.

Mit alledem gewährte Stauffenberg Hitler Kredite. Selbst am 30. Juni 1934 platzte für ihn nur eine Eiterbeule. Daß sich die Reichswehr, welche die Ermordung zweier Generale hinnahm, heillos verstrickte, schon weil sie bei hemmungslosen Verbrechen Schmiere stand, erkannte er nicht. Vorbehaltlos auf seiten der Reichswehr, die Ernst Röhm in ein Milizheer umwandeln wollte, glaubte er, mit der erschossenen SA-Führerschaft sei die zweite Revolution, brauner Bolschewismus besiegt. Um so mehr empfand er die sogenannte „Kristallnacht“ als Schandfleck der eigenen Nation. Weder Pro- noch Antisemit, sah er in Juden Menschen und – bei Verdiensten – herausragende Staatsbürger. Er befaßte sich, 1938, mit den Erhebungsplänen seines Vorfahren Gneisenau, aber Stauffenbergs innere Betroffenheit überdeckten Hitlers Erfolge. Die Allgemeine Wehrpflicht und Rückkehr der Saar, das Einrücken ins Rheinland, den „Anschluß“ Österreichs und der Sudetengebiete mußte insbesondere der Soldat bewundern. Unwahrscheinlich, daß Stauffenberg – angesichts derartiger Triumphe – Realitätsverluste des Diktators gewahrte. Nie neigte gerade er dazu, Hitler, „den Beweger“, zu verkleinern. Sein überliefertes Wort, „der Narr“ riskiere Krieg, Wort im Schatten wachsender Spannungen, ist kein Einwand.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg (1907-1944)

Die persönlichen und dienstlichen Stationen des jungen Offiziers: 1933 Heirat mit Nina von Lerchenfeld, Ehe, der drei Söhne entsprossen, 1934 Kommandierung zur Kavallerieschule Hannover, 1937 Rittmeister, danach Ib (zweiter Generalstabsoffizier) der 1. Leichten und späteren 6. Panzer-Division, mit der er in den Polen- und Frankreichfeldzug zog, 1940 Hauptmann i.G. der Organisationsabteilung des OKH, 1941 Major. Jede Quelle bezeugt, daß er voller Hingabe und passioniert seine Soldatenpflicht erfüllte. Jede aber rühmt auch seine ungewöhnlichen Fähigkeiten. Schon früh galt er – bis hoch hinauf – als eine große, vielleicht als größte Hoffnung des Generalstabes. Beurteilungen vermerkten „geistige Überlegenheit und militärisches Können“, bemängelten nur – Kommiß-Regelwidrigkeit – „saloppes Auftreten“. Historische und musische Interessen hoben Stauffenberg, eine blendende Erscheinung, weit über die Masse seiner ihn verehrenden Kameraden. Unverwischbar der Einfluß des Dichters Stefan George, zu dessen Kreis er gehörte.

Nach dem Sieg in Frankreich meinte er: Dies alles bleibe ohne Sinn, wenn nicht ein würdiger Friede gelinge, der den Kampf von Jahrhunderten beende. Wieder verfehlte er, wie viele, Hitlers wahre Ziele. Was Stauffenberg über den Rußlandfeldzug dachte, wird vermutlich kein Historiker mehr erschließen. Auch im Osten spannte er alle Energien ein, weil für ihn der einmal entfesselte Feldzug nicht mißraten durfte. Seine Zuversicht überstand die Winterkrise vor Moskau 1941 und regte sich, erstaunlich genug, noch bei Beginn der deutschen Offensive auf Stalingrad und den Kaukasus. Selbst wer Äußerungen des Generalstabsmajors aus jener Zeit als Zweckoptimismus wertet, kann mit ihnen keinen kompromißlosen Widerstandswillen belegen. Doch Mitte 1942 ist – auch in Stauffenbergs Sicht – die Peripetie erreicht, weichen Gläubigkeit und Vertrauen, machen ihn nüchterne, unabweisbare Einsichten zum Feind Hitlers.

Als Offizier der Organisationsabteilung kennt er die Verluste des deutschen Ostheeres, Ausfälle, die Reserven nicht länger ersetzen können. Trotz aller Siege der Wehrmacht kämpfen 1942 6,2 Millionen Rotarmisten gegen 1,5 Millionen deutsche Soldaten. Die Bilanz hinsichtlich der Artillerie, Panzerwaffe und Motorisierung nimmt sich noch verheerender aus. Mit dem Befehl des Diktators, Stalingrad und den Kaukasus gleichzeitig anzugreifen, werden die Kräfte des eigenen Heeres endgültig verzettelt, überfordert. Auf dem scheinbaren Höhepunkt deutscher Macht ist für Stauffenberg das Pendel gegen Deutschland ausgeschlagen, erst recht nach Hitlers Weigerung, im Osten zurückzustecken und Nordafrika verstärkt zu halten. Den Wettlauf um Zeit, zu dem das Reich namentlich seit Amerikas Kriegs­eintritt gezwungen ist, sieht er eindeutig verloren. Sein Ringen um Freiwillige, die er – in gleichberechtigtem Status – aus russischen Gefangenen gewinnen will, scheitert an ideologischer Stumpfsinnigkeit. Über Amtskanäle erfährt er, daß hinter der Fronttruppe SS- und SD-Einsatzkommandos wüten. Auch ohne von Auschwitz und der „Endlösung“ zu wissen, erbittern ihn die „skandalöse Ostpolitik“ und ein Regime der Verbrechen. Sein Wesen verbietet nun jede Selbstbeschwichtigung. Vertraute, die Stauffenberg um die Jahreswende 1942/43 begegnen, erleben einen tiefernsten Mann, einen, der Lektionen gelernt, im Widerstandswillen aufgeholt hat. Sein oberster Befehlshaber wird ihm – mit Stalingrad – zum Garanten der deutschen Katastrophe.

Am 26. Januar 1943 traf er – vom Generalstabschef Zeitzler ohnehin angemeldet – in Taganrog Manstein, Hitlers fähigsten Feldmarschall, operativ genialer deutscher Heerführer. Freimütig offenbarte Stauffenberg, was ihn bewegte: Zeugnis seines Fühlens und Denkens. Stalingrad, erklärte er, müsse man abschreiben. Befreiungsaktionen seien nicht mehr rechtzeitig einzuleiten. Schlimmer indes als der Verlust einer Armee wöge, daß Hitler aus diesem Fiasko nicht lernen werde. „Bedenkt man dessen Psyche und Art zu reagieren, so sind weitere Desaster zu erwarten.“ Politisch aber habe er sich gegenüber den feindlichen Mächten alle Wege verlegt.

Manstein dankte für die Offenheit des Oberstleutnants und zitierte Napoleons Wort, daß die Kritik das Salz des Gehorsams bleibe, doch Stauffenbergs Argumentation wies er ab. Rückschläge wie die bei Stalingrad, erwiderte er, könnten in jedem Feldzug eintreten. Zwar wäre der begangene taktische Fehler „eminent“, aber: „Hitler ist imstande zu lernen. Es gibt den Generalstab, der geschult ist. Außerdem hat der Führer seine Ratgeber.“ Noch sei eine militärische Lage herbeizuführen, die erfolgreiche politische Initiativen erlaube. „Lassen Sie erst die entsprechenden Voraussetzungen da sein, dann wird man auch mit Hitler verhandeln. Die Voraussetzungen müssen wir Soldaten schaffen.“ Manstein empfahl Zeitzler, den „vorzüglichen“ jungen Oberstleutnant wieder an die Front zu schicken.

Stauffenberg spürte, daß eine Opposition nicht auf Manstein bauen durfte. Sein Urteil über die höchsten Soldaten wurde bitter, hart. Verächtlich begann er von „Pfründnern und Teppichlegern“ zu reden, von Kerlen, welche die Hosen voll oder Stroh im Kopf hätten. Was er selbst im Falle Mansteins erfahren mußte, spiegelte – gemessen am Unerläßlichen – eine bestürzende Führungsauslese wider, Durchschnittlichkeit wie sicher zumeist in der Geschichte, aber nun lebensgefährliche, wo Volk und Nation zur Umkehr mahnten. Der Oberstleutnant witterte, daß die Heeresspitzen ihre Verantwortlichkeit untergeordneten Stabsoffizieren zuschoben.

Mansteins Anregung hatte „Erfolg“. Schon im Februar 1943 wird Stauffenberg als Ia (erster Generalstabsoffizier) zur 10. Panzerdivision nach Nordafrika versetzt. Als er den Gefechtsstand seiner Division erreicht, kämpft das Afrikakorps in Tunesien mit dem Rücken zum Meer: einen aussichtslosen Krieg. Wieder quält die Sinnfrage; Stauffenberg weicht ihr nicht aus. Jetzt ist es sein Divisionskommandeur, vor dem er sich „zu gewaltsamer Änderung der Machtverhältnisse“ bekennt, ohne Widerspruch zu finden oder gar zurechtgewiesen zu werden. Doch zugleich fordert die Front ihr Recht. In den Wüstengefechten seiner Division führt Stauffenberg souverän, oft selbständig, mit bewährtem Können. Er hat Anteil an kühnen Angriffen und gewandten Rückzügen, bis ihn am 7. April 1943 auf einer Frontfahrt die Garbe eines Tieffliegers trifft und schwer verwundet. Gesicht, Augenpartie, Hände und Knie sind zerschossen: Er fühlt sich erblindet, verstümmelt, aus seiner Bahn geschleudert.

Über Monate liegt er – lange fiebernd, mit bewußt nicht gedämpften Schmerzen – in einem Münchener Lazarett. Nur drei Finger der linken Hand sind ihm geblieben, aber auf dem rechten Auge kann er sehen. Energie, Mut und Lebenswillen kehren zurück. Und hier, nach erster Genesung und bei einem Gespräch, fallen seine Worte: „Ich habe das Gefühl, daß ich jetzt etwas tun muß, um Deutschland zu retten. Ich könnte den Frauen und Kindern der Gefallenen nicht in die Augen sehen, wenn ich nicht alles täte, weitere sinnlose Menschenopfer zu verhindern.“ Um Deutschland zu retten … Nichts war dringlicher, unaufschiebbarer geworden, auch wenn heute noch Illusionen über den gespenstischen Hintergrund des Gesamtpanoramas umgehen, Illusionen und Verdrängungen, gegen die nur kühlste Analyse zu setzen ist.

Hitler wußte sich, seit dem Rückschlag vor Moskau, militärisch am Ende. Unwiderruflich hatte er aufgehört, Adressat eines Friedensschlusses zu sein. Bereits Anfang 1942 (!) äußerte er zu Jodl, dem Chef des Wehrmachtführungsstabes, daß kein Sieg mehr zu erringen sei. Nimmt man ihn beim Wort, hätte er unverzüglich abtreten müssen, um eine politische Lösung freizugeben. Die Wehrmacht konnte – Ziel der Blitzfeldzüge – das Nacheinander ihrer Gegner nicht wiederherstellen; sie stand vor einer ungeschlagenen, nie bezwingbaren Feindkoalition. Das Reich vermochte nur noch zu Bedingungen Frieden zu schließen, die seine Substanz erhielten und mit denen – so oder so – Hitlers Eroberungen ausgelöscht worden wären. Doch der Diktator weigerte sich, klarer Einsicht zu gehorchen und abzutreten. Staatsmännische Vernunft wich missionarischem Glauben, Politik einem Fanatismus, der selbst die Barbarei des letzten Gotenkampfes erzwingen wollte. Was immer Hitler noch glaubte oder glauben machte, war durch sein Bekenntnis von 1942 widerlegt, entwertet.

Die Wehrmachtführung vernahm, daß der Krieg zu liquidieren sei, wenn der Kaukasus, das Donezbecken, die rumänischen Erdölfelder und Oberschlesien verlorengingen. Sie hoffte auf Ermattungsstrategie im Osten und Westen, die freilich ebenso rasch politisches Handeln verlangte. Begriff sie auch nur ihr eigenes Handwerk, mußte sie den baldigen Abbruch des Krieges ertrotzen. Jedes weitere Blutopfer belastete sonst doppelt. Aber der Diktator verhöhnte, bis zum Kampf um Berlin und die Reichskanzlei, all seine Kriterien: so, als ob er nie von ihnen gesprochen hätte. Seine Verteidigung jeden Meter Bodens – Strategie der entschlossenen Dummheit – tilgte den Rest der Trümpfe, die Deutschland militärisch nicht verspielen durfte. Der Zusammenbruch, die totale Niederlage des Reiches nahte mit Riesenschritten. Die Spitzengeneralität des Heeres wurde zu Robotern, Krieg ohne Glück zum Ausweis der Unfähigkeit und Charakterschwäche. Schon vor Stauffenbergs Attentat blieb unter Hitler allein noch dahinsiechendes Operieren, Schwärze, das Nichts.

Und später – nach dem mißlungenen Versuch, der Vernunft freie Bahn zu brechen, welcher der Diktator keine Chance ließ? Der Verrat gültiger Maximen berührte da konsequent das innere Gefüge der Truppe. Schutzlos war der Frontsoldat unsinnigen Befehlen ausgesetzt, die ihn wie sein Wesen zerrieben und auf die er teilweise mit Kampf bis zum vorletzten Augenblick zu antworten begann. Überkommene, erprobte Gesetze waren von oben gebrochen. Hingabe gedieh zur Pflichterfüllung in tragischer Verlassenheit. Das Regime, purer Selbstmagie erlegen, log mit Parolen und appellierte an Wundergläubigkeit, Beschwörung, die den Bankrott aller Strategie symbolisierte. Es hängte oder erschoß Laue, Widerstrebende, realistisch Denkende. Terror sicherte jenen „Heroismus“, den sieglose Zukunft nicht schreckte. Hat man – nach alledem – Stauffenberg und dessen Tat noch zu rechtfertigen? Es ging um das Reich – gegen Adolf Hitler, der beanspruchte, daß Deutschland mit ihm unterzugehen habe.

Ab Oktober 1943 Stabschef General Olbrichts im Allgemeinen Heeresamt, ist Stauffenberg entschlossen, die Verschwörung zu organisieren und Hitler zu beseitigen. Der Diktator, unter dem täglich drei- bis viertausend Deutsche nun wahrlich sinnlos sterben, soll durch einen Anschlag umkommen. Wo andere nur Einsicht beherrscht, will Stauffenberg der Einsicht die Tat folgen lassen. Halbheit machte in seinen Augen ehrlos, hieße Schmach und Entwürdigung. Wenn Ludwig Beck beklagt, seine Generalstabsoffiziere schlecht erzogen zu haben, so gilt diese Klage nicht für den jungen Oberstleutnant. Grimm, Phantasiekraft und Verantwortungsbewußtsein rücken ihn – kaum zufällig – an die Seite des ehemaligen großen wahlverwandten Generalstabschefs. Uneingeschränkt erkennt er Beck als Haupt der Fronde an.

Stauffenberg erarbeitet den Ablauf des geplanten Staatsstreiches. Gegenwirkungen kalkuliert er, sucht er auszuschließen. Pessimistische Erwägungen, immer denk- und hier sogar begründbar, hat er abgestreift: Notwendigkeit, wenn er einmal gewillt ist zu handeln. Seine Energie holt die Fronde aus Sackgassen; seine Fähigkeit zu überzeugen gewinnt Verbündete. Die Ausstrahlung noch des Schwerversehrten zieht nicht nur eine Handvoll Offiziere an. Fast scheint es, als wüßten schließlich zu viele, was er beabsichtigt. Anfang Juli 1944 Oberst und Stabschef beim Befehlshaber des Ersatzheeres Generaloberst Fromm, kann er auf zuverlässige Mitverschworene in nahezu allen Wehrkreisen und zahlreichen Stäben verweisen. Die zivile Fronde, die unter Beck ihre Stunde erwartet, ist von Stauffenberg abhängig. Auch für sie wird er zum Dreh- und Angelpunkt, wobei ihn ebenso innenpolitische Ziele leiten.

Diese innenpolitischen, vielstrapazierten Ziele Stauffenbergs schillern; mühsam sind sie auf eindeutige Nenner zu bringen. Er wollte keine „Revolution der Greise“, sondern jene große Fahrt, von der er selbst gestand, daß er nicht wisse, wo sie enden werde. Freund seines politischen Mentors, des Sozialdemokraten Dr. Julius Leber, bejahte er eine soziale Revolution, „die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und „Gerechtigkeit verbürgt“. Was Goerdeler und die „Honoratioren“ unter den Verschwörern planten, schien ihm überlebt, anfechtbar und flau. Stauffenbergs Gegensatz zu Goerdeler, dem Kanzlerkandidaten Becks, beruhte freilich weniger auf weltanschaulichen Gegensätzen (sie sind – von den Dokumenten her – heute ohnedies schwer auszumachen); er entsprang dem Bestreben des Soldaten, nicht nur zum Anschlag auszuholen, sondern auch politisch mitzuführen. Gleichwohl war Stauffenberg kein lupenreiner Sozialist. Er sprach davon, daß er die „Gleichheitslüge“ verachte, bevorzugte Eliten und beugte sich vor „naturgegebenen Rängen“. Mit den übrigen Frondeuren jedoch erstrebte er den Gerichtstag über die rassistischen Verbrechen des NS-Regimes. Mochte er – als Militär – vorab an bessere Führung und Deutschlands Rettung denken: nicht minder trieben ihn diese Verbrechen, die zu sühnen waren, zu seiner, der befreienden Tat. Allen Plänen gaben sie zusätzliche Schubkraft.

Außenpolitisch wünschte er zunächst Ausgleich und Frieden im Westen. Daran können auch östliche Autoren wenig ändern. Aber versteiften sich die Westmächte auf ihre „Bedingungslose Kapitulation“, war er bereit, der Sowjetunion Vorrang einzuräumen, sie gegen London und Washington auszuspielen. Die Existenz des Reiches, Deutschlands geographische Lage entschied. Ob territorial zu bewahren war, was Stauffenberg – bis zuletzt – bewahren zu können hoffte, steht dahin, ja ist eher fraglich. Die außenpolitischen Faustpfänder, die 1943 bei den Anschlagsversuchen Tresckows und Gersdorffs noch von Nutzen gewesen wären, hatte 1944 die Fronde eingebüßt. Die Fristen für eine Ermattungsstrategie waren verbraucht, obschon sich hier sogar Beck an Strohhalme klammerte. Doch das Attentat schien – zumindest nach der Logik – die allerletzte Chance, ein halbwegs intaktes Deutschland zu erhalten. Historiker sollten dem Staatsstreich ihr Hauptaugenmerk widmen.

Geplant war ein wohlbedachtes Unternehmen. Wenn „Walküre“ – Stichwort für den Aufstand von Fremdarbeitern im Reich – das Ersatzheer in Marsch setzte, so vertraute Stauffenberg dem unverfänglichen Auftrag, gewohntem Befehlsmechanismus. „Walküre“ zerstreute bei Uneingeweihten Zweifel, ließ – Absicht der Fronde – die Kampfkraft der Fronttruppe unangetastet und erlaubte, den richtigen Augenblick zu bestimmen, statt ihn in qualvoller Passivität abzuwarten. Tarnung des Zwecks der Exekutive blieb geboten. Man konnte nicht davon ausgehen, daß Deutschlands trostlose Lage dem ganzen Volk bewußt sei. Wer zudem das allgegenwärtige NS-Regime bezwingen wollte, mußte den abgeschirmten Putsch einer handlungsfähigen Minderheit wagen. Eine levée en masse, auf der rückblickend marxistische Geschichtsschreiber bestehen, hätte den Staatsstreich von selbst gerichtet. Die eingeschlagene Taktik war die beste Taktik; sie hat der Erhebungsversuch nicht widerlegt. Alle seine Phasen waren freilich vom Tod Hitlers abhängig. Mit ihm sollte eintreten, was man den eidfreien Zustand nannte. Stauffenberg hat voller Elan Tresckows Anfangsarbeiten ergänzt, bis in die Nuance vervollständigt. Kaltenbrunner und Hitler packte später zu Recht Schrecken über das geleistete gefährliche Planungswerk.

Trotzdem wird man nicht müde, die Unzulänglichkeiten des Staatsstreiches mit herber Kritik hervorzuheben. Kein Zweifel: Es mußte die Verschwörung schwächen, daß ihre Zirkel Strategie und Taktik nicht voneinander zu trennen vermochten. Stauffenberg wurde zum Planenden und Attentäter in einer Person. Solche Verknüpfung ist kaum einem Coup d’état bekommen. 1943 wäre sie zu umgehen gewesen. Später war sie unabwendbar. Die Opposition hatte versucht, was ihr möglich schien, um Hitler auszulöschen. Im Juli 1944 konnte ihn lediglich Stauffenberg töten. Unter den entschlossenen Verschwörern überwand allein er noch die Hindernisse des Führerhauptquartiers. So war er genötigt, den Staatsstreich vorzubereiten und die Bombe zu zünden.

Mußte er sich aber selbst opfern? Ohne Bedenken wird es verlangt. Gewiß wollte Stauffenberg für sich Zukunft. Da winkten Hitler Aussichten davonzukommen. „Unfehlbar“ konnte der Diktator nur mit dem Attentäter sterben. Stauffenberg war jedoch auch bereit zum Selbstopfer, aber Beck schärfte ihm ein, um des Staatsstreiches willen zu überleben – Weisung aus guten und zugleich bösen Gründen. Führung und Truppe, 1944 subalterner denn je, forderten klare Befehle bekannter Autoritäten. Von Fromm, dem Befehlshaber des Ersatzheeres, wußte man, daß er nicht auf seiten der Verschwörer stand. Fromms Opportunismus auch nur Wechselfällen auszusetzen, wäre bodenloser Leichtsinn gewesen. Fiel freilich noch Stauffenberg als sein Stabschef aus, drohte dem Staatsstreich von vornherein Schiffbruch. Wir mögen derartige Gründe heute ablehnen und beklagen: damals hatten sie Rang und Gewicht. Stauffenberg war in Rastenburg und in Berlin unentbehrlich. Er mußte in Ostpreußen und in der Bendlerstraße einspringen. Als Verstümmelter tat er es mit einer Umsicht, der man Bewunderung schwerlich versagen kann. Er zündete die Bombe, die lediglich durch abnorme Zufälle Hitler nicht tötete. Ihm gelang es, das aufgeschreckte und sofort abgeriegelte Führerhauptquartier zu verlassen, Berlin zu erreichen und den Staatsstreich auszulösen. Jene, die ermessen, was Stauffenberg am 20. Juli 1944 leistete und seelisch auf sich nahm, entdecken keinen Unwillen dieses Mannes zum Selbstopfer. Bereits die Tat stellte ihn unter Leben oder Tod. Und wäre sie ihm geglückt, hätte er als „Mörder Hitlers“ in unserem Land ein Nessus-Gewand getragen.

Auch heute ist zuzugeben, daß zwei Feldmarschälle ihrer Stunde nicht gewachsen waren. Während Witzleben am 20. Juli die Flinte ins Korn warf, blieb Kluge jedem Appell gegenüber taub. Beide, Mitwisser der Verschwörung, behinderten und lähmten die Fronde. Ferner haben – im Zentrum der Opposition – nicht alle daran geglaubt, daß es kein Schwanken oder Zagen mehr geben durfte, nachdem Hitler herausgefordert worden war. Fragwürdiger indes andere Anwürfe. Zwar hat Stauffenberg eine zweite Bombe besessen und nicht gezündet. Mit Sicherheit – so heißt es – hätte sie Hitler getötet. Vermochte sie aber Stauffenberg in der Eile zu zünden, mit der er seine erste Bombe schärfen mußte? General Fellgiebel hatte leider nur kurz die Nachrichtenstränge des Führerhauptquartiers blockiert. Konnte er sie aber lange unterbrechen, als er gewahren mußte, daß Hitler am Leben geblieben war? General Olbricht hatte den Walküre-Alarm erst ausgelöst, nachdem Stauffenberg wieder in Berlin-Rangsdorf gelandet war und den Anschlag gemeldet hatte. Dies kostete die Verschwörung allerdings ihren wertvollsten Vorsprung. Doch am 15. Juli hatte Olbricht zu früh Alarm gegeben und damit die Fronde gefährdet. Durfte er das noch einmal tun?

All das mindert nicht die Entschiedenheit, mit der gerade Stauffenberg am 20. Juli handelte. Nur tiefbewegt kann man verfolgen, wie er an diesem Tag – ganz Willenskraft – den Staatsstreich voranzutreiben suchte; nur beklommen und niedergedrückt empfinden, was sich gegen ihn kehrte und seine Anstrengungen scheitern ließ. Als er unter der Salve des Exekutionskommandos fiel, starb er mit den engsten Verbündeten verstoßen und einsam. Sein Deutschland, das nach seinem letzten Ruf leben sollte, erwartete noch Millionen Opfer, Zerstörungen schlimmsten Ausmaßes, Tragödien nicht nur der Flucht und Vertreibung; noch zehn weitere Monate konnte eine unmenschliche Herrschaft schinden und morden. Nichts erlaubt uns, von derartigen Tatsachen abzusehen, auch wenn sie sich erst nach dem 20. Juli 1944 enthüllten.

Stauffenberg, der glühende Patriot, erstrebte stets ein Deutschland. Mit einem Eid, den er entwarf, sollten alle Deutschen ihre Gemeinsamkeit bekräftigen, und mit ihm erfüllten wir sein Vermächtnis. Daneben zählt nur Dank und Verehrung für einen Mann, dessen Tat uns die äußerste Schande ersparte. Es könnte, ja würde unsere Selbstachtung erhöhen, wenn wir ihm Dank und Verehrung aufrichtiger als bisher bezeugten.

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Dr. Bodo Scheurig (1928 – 2008)

Dr. Bodo Scheurig

Dr. Bodo Scheurig (1928 – 2008), studierte nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft Neuere Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin und an der Columbia University, New York. Zahlreiche zeitgeschichtliche Veröffentlichungen, u.a. Standardwerke über Ewald von Kleist-Schmenzin, Henning von Tresckow und Generaloberst Alfred Jodl (Alfred Jodl. Gehorsam und Verhängnis. Biographie im Bublies Verlag).

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Bodo Scheurig: Alfred Jodl. Gehorsam und Verhängnis

Bodo Scheurig: Alfred Jodl. Gehorsam und Verhängnis. Biographie im Bublies Verlag.

In der aktuellen Druckausgabe findet sich der Beitrag „Henning von Tresckow – vor dem Attentat 1944“ von Dr. Bodo Scheurig.

wir selbst Nr. 52, Mai 2022

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