Wer von den Völkern nicht reden will, soll von den Menschen schweigen.

von Henning Eichberg

Wer von den Völkern nicht reden will, soll von den Menschen schweigen.

Fragmente zur neuen Unübersichtlichkeit

Staaten verschwinden

(1.) Innerhalb von zwei Jahren – seit 1989 – sehen wir drei oder vier Staaten Europas auseinander- oder zusammenbrechen: DDR, Sowjetunion, Jugoslawien, Tschechoslowakei.

Warum gerade diese? Sicher ist: bei ihnen allen handelt es sich um multinationale oder „nationslose“ Staaten. Sie hatten sich an der synthetischen Nationskonstruktion versucht: „Sozialistisches Vaterland“, „Sowjetmensch“. Nun erleb(t)en sie die Entkolonisierung.

Andere Staaten blieben als politische Einheiten von ihren politischen und sozialen Umwälzungen unberührt: Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Albanien.

Warum gerade diese? Ihre relative Stabilität ist um so überraschender, als diese Länder z. T. wirtschaftlich eher noch ruinierter und verelendeter sind als die erstgenannten. Aber diese armen Länder üben sogar über ihre Staatsgrenzen hinweg Anziehungskraft aus: Albanien auf Kosovo, Rumänien auf Moldawien. – In allen fünf Fällen staatlicher „Stabilität“ handelt es sich um Nationalstaaten.

Die aus den Auflösungsprozessen heraus neu entstehenden Einheiten bilden sich nun alle – dem Anspruch nach – als nationale heraus. Estland, Lettland, Litauen, Rußland, Ukraine, Weißrußland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Moldawien, Kroatien, Slowenien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Makedonien, Serbien, Tschechei, Slowakei – aber auch Ossetien, Karelien, Tatarei, Tschetschenien… Das Mißverständnis liegt nahe, es handele sich um eine Rückkehr zu „nationalstaatlicher Normalität“, wie sie insbesondere von bürgerlichen Politikern Westdeutschlands verstanden wird. Und doch: was ist „normal“ an diesen Umwälzungen, die dieselben Politiker noch um 1988/89 für unmöglich erklärt hatten? Was ist berechenbar an den nationalen Souveränitätserklärungen von morgen? Das volkliche Prinzip ist weiterhin weniger „normal“ denn revolutionär.

Und was bedeutet das für die Zukunft von Wales, Schottland, Bretagne, Korsika, Elsaß, Baskenland, Katalonien, Aosta, Südtirol, Samiland, Friesland, Sorbien …?

Demonstration für die Freilassung baskischer politischer Gefangener
Quelle: http://euskalherria.indymedia.org/eu/2008/05/49560.shtml

Nationalpazifismus

(2.) Friedensbewegung und Friedenspolitik sind von den neuen Gegebenheiten herausgefordert. Der „Frieden“, der von oben her oktroyiert worden war, hat zum Krieg geführt, in Serbien/Kroatien, in Armenien/Aserbaidschan, in Georgien/Ossetien. Offenbar waren die Hoffnungen auf imperiale Friedenssicherung gegen die Völker naiv.

Friedenspolitik ist daher umzudenken: als Frieden zwischen den Völkern.

Mit anderen Worten: keine Kultur des Friedens ohne das Subjekt der Völker.

Keine Friedensbewegung um die nationale Frage herum. Wer von den Völkern nicht reden will, soll nicht glauben, daß er vom Frieden spreche.

Das Rom-Syndrom

(3.) Nach der westlichen Staatsdoktorin dürfte der Zusammenbruch der multinationalen Staaten nicht geschehen sein. Denn ihr zufolge gehört die nationale Frage – als die antikoloniale Frage der Identitätsbehauptung und der demokratischen Selbstbestimmung von Völkern – „der Vergangenheit an“.

Die Massaker und Repressionen, die im Namen „Jugoslawiens“ gegen die Kosovo-Albaner und gegen die Kroaten ausgeübt wurden, waren nicht zufällig durch einige (multinationale) westliche Staaten – Großbritanien, Frankreich – gedeckt. Sondern sie konnten auch auf das Verständnis der westlichen Ideologie insgesamt rechnen: Die Gewalt des Fortschritts gegen „das Archaische“ sei zwar unschön, aber gerechtfertigt. Daß nach 1989 – vorläufig – nicht auch im Namen der „Sowjetunion“ aufbegehrende Völker massakriert worden sind, ist nicht der westlichen Doktrin positiv zuzuschreiben, sondern dem politischen Augenmaß der neuen Kräfte in den betreffenden Völkern, insbesondere im russischen Volk.

Die westliche Staatsdoktrin – auf den Staat komme es an, nicht auf das Volk – ist der ideologische Überbau über einer realen Basis historischer Erfahrung: der Psychostruktur des – insofern fortbestehenden – römischen Reiches. Das Rom-Syndrom heißt: Großstaat und Größerwerden, Wachstum, starkes politisches Zentrum, eine Mauer rings um das Reich, die Barbaren draußen „die Zivilisation“ drinnen – und die Dissidenten in den Untergrund. Die Macht den Mächtigen, die „Anarchisten“ hinter Gittern oder außerhalb des Limes.

Darum errichten westliche Staaten genau in dem Augenblick, da der Osten Europas sich davon befreit, eine neue multinationale Reichsstruktur.

Insofern ist der Westen – die Westunion, die kapitalistische „Europäische Gemeinschaft“ – aus dem Tritt des historischen revolutionären Prozesses.

Das Ende der Westunion denken

(4.) Die kapitalistische Gewalt des neuen „Rom“ läßt es allerdings kaum als aussichtsreich erscheinen, sich gegenwärtig der Dynamik des – ungleichzeitigen, regionalen – Zentralisierungsprozesses entgegenstellen zu wollen. Die Anti-EG-Bewe- gungen, z. B. in der dänischen, norwegischen, schwedischen und finnischen Linken, haben einen klaren Blick, aber wenig Aussicht auf Erfolg.

Wohl aber ist es realistisch, sich mit dem Eintritt bereits auf ein kommendes Szenario einzurichten: auf den Zusammenbruch des Experiments EG. Das Schicksal der Westunion ist durch das Ende der Sowjetunion präformiert.

Das wird neue Probleme schaffen, da die Strukturen demokratischer Selbstbestimmung im gegenwärtigen Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozeß abgeschafft werden. Der Unfrieden und das Elend des Auflösungsprozesses, der sich an die Westunion anschließen wird, ist von deren Machern zu verantworten. Am Ende des Tunnels tauchen die Völker wieder auf.

Was kommt nach dem Frieden?

(5.) Mit der Frage nach dem Danach relativiert sich auch der einzige Gewinn, den die EG als ein „neues Rom“ den Völkern bringt: die Sicherung des Friedens. Die neue Pax Romana ist in ihrer friedensstiftenden Wirkung nicht zu unterschätzen – ebenso wie die Pax Sovietica der Vergangenheit. Auch Stalin brachte den Nicht-Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, zwischen Ossetien und Georgien. Der Nicht-Krieg ist ein Gewinn gegenüber dem Krieg.

Aber es gibt auch den Frieden zwischen Mauern, den Nicht-Krieg in der Einsperrung. Dessen Begrenzung liegt in der Szenarien-Frage: Was folgt nach der Einsperrung? Es ist also Frieden nicht gleich Frieden. Die Friedenssicherungen von oben – Pax Romana, Sowjetfriede – haben bislang den Unfrieden der Zukunft vorbereitet.

Damit ist die europäische Frage als Friedensfrage offen.

Sorbischer Osterritt, Fotograph: Rico Löb

Westdeutschlands strukturelle Unfähigkeit zur Wiedervereinigung

(6.) Was sich in Deutschland nach der Revolution von 1989 getan hat, wird man in der Zukunft einmal zur Schande unserer Geschichte rechnen.

Das friedliche und erfolgreiche Aufbegehren eines Teiles unseres Volkes wurde umgedreht in die Be­setzung eben dieses Teiles. Der selbstbefreite Teil des Landes wurde dem anderen unterworfen, der sich nicht verändern zu müssen behauptet. Statt einer Wiedervereinigung erfolgt der „Anschluß“: Großwestdeutschland.

Ökonomisch brachte dies eine neuartige Ausbeutung von Deutschen durch Deutsche. Die im Rahmen des Ostblocks durchaus konkurrenzfähigen Werke der DDR wurden dem „freien Markt“ und das heißt: nicht selten zweit- und dritt­rangigen Spekulanten und Wirtschaftskriminellen ausgeliefert. Der Energiesektor, Kernstück jeder industriellen Wirtschaft, bildete das Grundmuster des Anschlusses ab: Die stalinistischen Monopolstrukturen wurden durch ebenso monopolisti­ sche Energiekonzerne des Westens abgelöst. Stalinistisches Monopol und atomares Risiko (Tschernobyl) wurden auf neuer Kapitalgrundlage stabilisiert.

Aber es ging um mehr denn abgehobene Strukturen: um das Alltagsleben und die Identität der Deutschen. Erst Großwestdeutschland bewirkte die Zweiteilung, die die DDR nie hatte verwirklichen können: in Ossis und Wessis. Wird das die Grundlage sein für ein fortwirkendes Trauma in der deutschen Geschichte? – Jedenfalls zeigt es die Verflechtung von Klassenkampf und Identitätsprozessen. Die im Westen ansässigen Landeigentümer erhielten freie Hand für eine Ausbeutung bisher unbekannter Art: Landeigentümer West gegen das Volk im Osten.

Klassenkampf (und aus dem Hausverkauf im Osten finanzierte Weltreise) der Vermögenden statt volkliche Solidarität.

Das war die Niederlage der deutschen Linken. Sie hätte als einzige politische Kraft die deutsche Frage zu alternativen Szenarien hin weiterdenken können – vor der Zeit. Statt dessen leugnete sie die Existenz der deutschen Frage und schloß sich – als es zu spät war – der großwestdeutschen Lösung an.

Das war mehr als nur ein „Fehler“. Es ist ein altes Leiden. Auch die deutsche Linke unterlag dem römisch-westlichen Komplex: nicht von den Völkern her zu denken.

Sollte das veränderbar sein?

Neue Verantwortlichkeit

(7.) Auch die möglichen Alternativen in der Friedenspolitik wurden damit zunächst verfehlt. Deutschland bleibt ein besetztes Land, integriert in das Militärbündnis Nato. Es bleibt eingebunden in die Pläne zu neuen Aggressionen gegen Länder der Dritten Welt. Bürgerliche Politiker bereiten die „neue Verantwortlichkeit“ vor, „deutsche Truppen außerhalb des Nato-Gebiets“. Der Völkermord an den Kurden – eine Folge des amerikanischen (und deutschen) Golfkriegs und des Bündnisses mit dem türkischen Folterstaat – zeigt die Zukunftsperspektiven solcher „Verantwortlichkeit“.

Das alternative Szenario der Abkoppelung stellt sich damit nur noch dringlicher. Statt „Verantwortung“ der Macht und des Militärs – die Solidarität von Volk zu Volk. Herder im 21. Jahrhundert.

Die deutsche Frage ist weiterhin offen.

Samische Familie um 1900
Samische Familie um 1900
Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons

Volklichkeit und Vielfalt

(8.) Das Nachdenken über die Aktualität des Volklichen führt nicht dahin, daß die Völker Konstanten der Geschichte seien. Es erbringt lediglich, daß die Staaten in noch geringerem Maße Konstanten sind. Die Verfassungspatriotismen kommen und gehen… die Völker gehen ihren Weg.

Ferner: die Einsicht in die historische Wirtklichkeitsmacht der Völker ist nicht moralisierender Art, sondern empirischer. Die Nation ist nicht als solche „gut“. Sondern sie ist ein Produkt gesellschaftlicher Logik, historischer Notwendigkeit. Sie ist Erfahrung. Allerdings – die Empirie hat moralische Konsequenzen. Ein Nicht-Anerkennen solcher historischer Logik ist eine Voraussetzung dafür, daß die nationale Dynamik nicht zum Guten ausschlagen kann. Das Leugnen der Nation ist die Grundlage der Massaker. Die „jugoslawische Lösung“ des Völkermordes ist nicht nur ein Modell für Völker des Balkans.

Das mag zu einer weitergehenden Frage führen: Vielleicht ist das multikulturelle Zusammenleben – Ethnopluralismus – in der Gesellschaft unter den Bedingungen dieser Jahrtausendwende nur noch möglich im Rahmen nationaler Einheiten? Gerade multinationale Gebilde sind nicht oder nicht mehr in der Lage, ihre Minderheiten zu schützen.

Dänemark ist ein Beispiel dafür, wie auf der Grundlage nationaler Identität die Multikulturalität eines Landes entwickelt werden kann (Steven M. Borish: The Land of the Living. Nevada City 1991). Dänen retteten – als einziges Land Europas – während des Zweiten Weltkrieges die Juden ihrer Nation. Dänemark gab der deutschen Minderheit in Nordschleswig weitgehende Rechte. Island wurde ein unabhängiger Staat.

Färinger und Grönländer errangen ihre Autonomie. Und die Folkehojskoler, die Stätten alternativer volklicher Bildung, haben sich den Einwanderern früher und entschiedener geöffnet als andere Milieus.

Der Schutz der Multikulturalität innerhalb der nationalen Einheiten ist daher eine vorrangige Aufgabe – nicht nur politischer, sondern gerade auch psychologisch-moralischer Art. Eine Aufgabe mit psychologischen Dimensionen ist sie auch deswegen, weil der Gewalttäter durch die Gewalt auch und besonders sich selbst schädigt – sich selbst und seine eigenen Nachkommen bis ins – wievielte? – Glied (Peter Sichrowsky: Schuldig geboren. Köln 1987).

Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag in Sanok – Volkstanz ‚Krakowiak‘

„Du“ sagen

(9.) Die Frage bleibt nicht nur, sie stellt sich neu und drängender denn je: Was ist das Volk? Wo Bevölkerung das Objekt des historischen Prozesses und der Macht ist, eine statistische Größe, da ist das Volk Subjektivität, Besonderheit, die Vernunft des historischen Prozesses.

So stellen sich die philosophischen Grundfragen der Demokratie neu.

„Selbstbestimmung“ – wer ist das (kollektive) Selbst? „Wir“ sind das Subjekt der Geschichte – wer sind wir? „Alle Macht geht vom Volke aus“ – wer ist das Volk?

Die Denkanstöße von Johann Gottfried Herder, N.F.S. Grundtvig und Martin Buber waren kaum jemals so aktuell.

Die Frage nach dem Volklichen ist nicht weniger denn eine Philosophie des Alltagslebens, der Identität, der Subjektivität und der Transzendenz des Menschen. Wer sind „wir“? Was geschieht, wenn wir „du“ zueinander sagen – zu unseresglei­chen und zu unseresfremden?

Insofern liegt die volkliche Frage nicht primär „draußen“, in der Politik jenseits der Menschen. Balkanization for practically everyone – nannte Michael Zwerin 1976 den neuen Nationalismus. Balkanisierung für jedermann.

Bevor dies zur Staats- (oder Antistaats-)Politik wird, ist es zuvörderst etwas anderes: Psychologie. Die Psychologie der Transmoderne?

Und die Transmoderne ist zugleich Erinnerung:

Seh ich die Völker an,
werd ich vor Wunder bleich.
Daß sie so ungleich sind,
vielmehr noch, daß sie gleich.

(Frei nach Daniel von Czepko von Reigersfeld, Schweidnitz/Schlesien um 1648)

Dieser leicht gekürzte und aktualisierte Artikel ist zuerst vollständig erschienen in dem Sammelband:

Henning Eichberg: Die Geschichte macht Sprünge, 1996

Das Buch ist hier erhältlich.

Henning Eichberg

Henning Eichberg (1942 – 2017), Kultursoziologe und Historiker, der seit 1982 in Dänemark lehrte, war bereits seit den ersten Ausgaben der Zeitschrift wir selbst (Gründung im Jahre 1979) der inspirierende Kopf. Sein intellektuelles Fluktuieren zwischen rechten und linken Denkströmungen, seine linksnationale, ethnoplurale Kritik am rechten Etatismus und seine radikale ökologische Orientierung wurden für uns programmatisch wegweisend, jedoch nie zu Dogmen.

Autor der Bücher:

Geschichtsvergessenheit im wissenschaftlichen Gewand

von Hermine Brandenburger

Geschichtsvergessenheit im wissenschaftlichen Gewand

Als ich mich entschied, mich im Studium auf mittelalterliche Literatur und Geschichte zu spezialisieren, spielte dabei auch der Gedanke eine nicht unerhebliche Rolle, mich nicht einmal mehr ansatzweise mit dem Nationalsozialismus, der in der Schule bis zum Erbrechen durchgekaut wurde, auseinandersetzen zu müssen. Ich gestehe, dass es mir weniger deswegen Unbehagen bereitete, diese Epoche der deutschen Geschichte zu behandeln, weil sie so viele Schrecken birgt, als vielmehr, weil ich stets fürchtete, ein falsches Wort zu diesem Thema könne mir so hinterlistig im Munde umgedreht werden, eine reflektierte Betrachtungsweise, ein nüchterner Blick auf die Fakten könne mir bereits fälschlicherweise als Sympathie mit der NS-Ideologie ausgelegt werden.

Ich studierte bereits im Masterstudiengang, betrat aber eines Tages interessehalber und wissbegierig eine Einführungsvorlesung zur mittelalterlichen Geschichte. Bereits der Zusatz „Einführung in eine ferne Epoche“ irritierte mich, was aber womöglich – so dachte ich zumindest – nur an mir lag und daran, dass mir durch meine mediävistischen Studien das Mittelalter gar nicht mehr so fremd und fern erschien, wie es einem Studienanfänger erscheinen musste.

Doch meine Irritation blieb. Denn die Dozentin wählte zum Einstieg in die Vorlesung über das Mittelalter ohne Umschweife ein Zitat aus Hitlers „Mein Kampf“:

„Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“

Adolf Hitler, „Mein Kampf“

Wozu sollte dieses Zitat wohl dienen? Natürlich zur Problematisierung der wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtungsweise des Mittelalters, des Missbrauchs des Mittelalters durch die Nationalsozialisten, um die eigene Ideologie zu legitimieren. Es bleibt die Frage: Ist dies ein adäquater Einstieg in eine Einführungsvorlesung zum Mittelalter? Wie diese maßgebliche Epoche viele Jahrhunderte später rezipiert wurde und wie wir das Mittelalter daher um Gottes willen nicht betrachten dürfen? Sollte uns als wissbegierigen, reflexionswilligen Studenten nicht freigestellt sein, auf welche Art wir uns einer prägenden Epoche unserer Geschichte nähern?

Denn genau dies schien Sinn und Zweck des Einstieges über den Nationalsozialismus zu sein und so kam die Dozentin auf den Vorlesungszusatz „Einführung in eine ferne Epoche“ zurück. Sie erklärte, dass es zwei mögliche Betrachtungsweisen des Mittelalters gebe: Erstens, man könne in den Fokus nehmen, welche Kontinuitäten es vom Mittelalter zur Neuzeit gebe, welche neuzeitlichen Entwicklungen beispielsweise aus mittelalterlichen Mentalitäten und Traditionen resultierten. Oder zweitens, man könne – und solle! – das Mittelalter als eine ferne Epoche betrachten, die mit unserer Zeit so wenig zu tun habe wie etwa die Geschichte der Maori oder der Inuit, um einen nüchternen, neutralen Blick auf die Epoche des Mittelalters zu erhalten. Nach dieser Erläuterung ergänzte sie (und ich bitte um Verzeihung, falls dieses aus dem Gedächtnis wiedergegebene Zitat nur sinngemäß stimmen sollte): „Die erste Betrachtungsweise wählten die Nazis, und sie wird auch von heutigen rechtspopulistischen Parteien gewählt. Mir persönlich ist da die zweite Betrachtungsweise wesentlich sympathischer.“ Begleitet wurde diese mit einem Augenzwinkern vorgetragene Polemik durch eine in die Präsentation eingebundene lustige Comicdarstellung eines Ritters und den Schriftzug: „Schlägt das Mittelalter zurück?“

Während ich nur noch konsterniert im Hörsaal saß und angesichts dieser ungeheuerlichen Manipulation und Denkvorgabe wohl einen recht versteinerten Gesichtsausdruck annahm, schrieben die 18, 19 Jahre alten Erstsemesterstudenten um mich herum fleißig mit und übernahmen die Thesen der Dozentin als Faktenwissen in ihre Unterlagen.

Meister des Codex 167

Mir fehlte der Mut, die Hand zu heben und die Dozentin zu fragen, ob denn ihr Vorgehen, das Mittelalter nun zur Denunziation sogenannter rechtspopulistischer Parteien – jeder weiß, welche konkret gemeint sind – zu verwenden, es sogar dazu zu instrumentalisieren, diese Parteien mit der NSDAP gleichzusetzen, nicht genau den gleichen Missbrauch zu politischen Zwecken darstelle. Dass ich mich lediglich dem allgemeinen Beifall zum Ende der Vorlesung nicht anschloss, ist mir nur ein schwacher Trost.

Leider kann sich meine Anklage nicht nur gegen diese eine junge Dozentin richten, vielmehr handelt es sich bei ihren Aussagen um ein Symptom einer neuen Geschichtsvergessenheit, die auch den wissenschaftlichen Bereich dominiert. Eine neutrale, nüchterne Betrachtung vergangener Zeiten ist kaum mehr denkbar. Stets muss man sich distanzieren, erklären, dass man sich bestenfalls mit den deutschsprachigen Raum beschäftige, von Deutschland könne ja noch gar nicht gesprochen werden. Wer sich für die Kontinuitäten interessiert, beispielsweise welche Erzähltraditionen, Mythen oder kulturellen Institutionen sich in gewandelter Form in die Neuzeit übertragen haben, wie beispielsweise das mittelalterliche maere und das neuzeitliche Märchen zusammenhängen oder wie der Hof und der höfische Tugendkatalog unsere Werte und Normen geprägt haben, wird schräg beäugt und muss sich für sein wissenschaftliches Interesse rechtfertigen.

Diese Paranoia, die regelrechte Angst davor, das Deutschland unserer Zeit als Folge und Ergebnis jahrhunderte-, ja jahrtausendelanger Traditionen zu sehen oder gar unserem vorchristlichen, germanischen Erbe eine Bedeutung über das Marginale hinaus beizumessen, ist über den wissenschaftlichen Bereich hinaus im Alltag spürbar. Wenn man etwa anmerkt, die älteste deutsche Uni sei nicht etwa Heidelberg, sondern Prag, bildet sich bereits Schaum vor den Mündern der Meinungstotalitären. Zu der Erklärung, dass die heutigen deutschen Grenzen ja erst seit wenigen Jahrzehnten in dieser Form bestehen und es eine legitime Betrachtungsweise ist, historische Institutionen auch in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu betrachten, gelangt man dann kaum noch. Die Würfel sind gefallen, die Meinung ist gefällt.

Dies ist eine Erkenntnis, zu der ich im Studium leider gelangen musste: Sich auf eine „ferne“ Epoche zu spezialisieren, genügt nicht, um den Fängen des Meinungstotalitarismus zu entfliehen. Er ist in den Köpfen fest verankert und manifestiert sich in vielerlei Bereichen. Begegnen kann man ihm nur mit dezidiert sachlichen Argumenten und dem Mut, sich gegen billige, vorschnelle Verurteilungen zu wehren.

Hermine Brandenburger

Gotik: Maß und Ziel

von Klaus Kunze

Gotik: Maß und Ziel

Unserer Zeit sind weitgehend das rechte Maß und die rechte Form abhandengekommen. Die Architektur früherer Epochen war menschlich. Sie wies eine geistige Struktur auf. Sie war für ihre Erbauer Maß und Ziel zugleich. Der gotische Pfeiler der St.Lorenz-Kirche in Nürnberg bricht seine gewaltige Baumasse durch filigrane Rippung auf:

St. Lorenz-Kirche in Nürnberg

Was der Bombenkrieg uns gelassen hat, bildet Oasen der geistigen und emotionalen Normalität. Gotische Architektur strahlt stimmungsvolle Ruhe, zugleich aber auch Dynamik aus. Alle Gedanken und Sinne ihrer Erbauer waren himmelwärts gerichtet. Und dorthin lenkt sie unseren Blick.

Magdeburger Dom

In der Gegend des Magdeburger Doms lebten seit unvordenklicher Zeit meine Vorfahren. Wie oft mögen sie bewundernd emporgeblickt haben? Der Dom war optischer Mittelpunkt und Fluchtpunkt für Tausende bei dem entsetzlichen Gemetzel am 20. Mai 1631, als die Stadt im 30jährigen Krieg erobert wurde. Und er überstand den 16. Januar 1945, als die Stadt um ihn herum im Bombenhagel versank.

In Filmen sehen viele Menschen fasziniert romantische Architektur und erfreuen sich an zauberhaften Anblicken wie in „Hogwarts“, der Zauberschule. Mitten in Deutschland gibt es noch viele solche verwunschenen Ecken, oft versteckt zwischen Straßenschluchten und modernen Betonpalästen.

Magdeburger Dom, Chor

Zuerst veröffentlicht auf: http://klauskunze.com/blog/2019/10/21/mass-und-ziel/

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

NEU:

Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Hier erhältlich!

Klaus Kunze: Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen. Von der Vormundschaft zum Genderismus. Hier erhältlich!

Theodor Lessing

Zahlreiche Aufsätze, die Henning Eichberg unserer Zeitschrift schon vor Jahren zur Verfügung gestellt hatte, sind noch unveröffentlicht. Auf unserer Internetseite möchten wir diese, soweit sie noch von aktueller Bedeutung sind, unseren Lesern vorstellen. Wir erhoffen uns kontroverse Diskussionen.

von Henning Eichberg

Theodor Lessing

Der Philosoph, Psychologe und Kulturkritiker Theodor Lessing (1872-1933) stiftete in der Weimarer Republik als Feuilletonist Unruhe. Mit satirischen Artikeln und Fallstudien machte er auf restaurative Tendenzen seiner Zeit aufmerksam, von den Fememördern über Polizei und Justiz bis zur Gestalt des Reichspräsidenten Hindenburg. Von „rechts“ her versuchte man, seine Vorlesungen an der Universität zu sprengen und zu unterbinden; in ihm traf man „den zersetzenden Juden“. 1933 emi­grierte er in die Tschechoslowakei, wo ihn in Marienbad ein SD-Kommando erschoss; es erhielt dafür 80 000 RM zum Lohn.

Aber auch die „Linke“ konnte mit Theodor Lessing nicht eigentlich etwas anfangen. Das hatte mit dem Kern seiner Kultur- und Gesellschaftskritik zu tun.

In seinem Hauptwerk „Untergang der Erde am Geist“ (Hannover: Wolf Albrecht Adam, 3.Aufl. 1924, Erstfassung „Europa und Asien“ 1916) entwarf Lessing eine fundamentale Kritik der westlichen Lebensweise. Im Namen von Industrie, Machbarkeit und Fortschritt werden die Natur zerstört und die Volkskulturen ausgerottet – die Umwelt vernutzt, der Wald vernichtet, die Natur vergiftet, das Leben entseelt. Es herrscht das Geld. Mit Lessing erreichte das ökologische Bewusstsein einen frühen Höhepunkt, als eine radikale Kulturkritik. Amerika mit Indianerausrottung, Arbeiterunterdrückung und Zerstörung der Völker war ihm ein gesteigerter Ausdruck des Westlertums, hervorgewachsen aus der Logik der europäisch-christlichen Geschichte. Die Naturkrise der Moderne hatte, so zeigte er, ihre Voraussetzungen in der Ausrottung des alteuropäischen Heidentums. Erst wurden die einheimischen Alben und Holden vernichtet, dann ging es den außereuropäischen Völkern, den Beduinen, Eskimos, Indianer, Grönländer, Papuas an die Existenz, und schließlich der natürlichen Umwelt.

Der Geist von Technik, Zivilisation und christlicher Selbsterhöhung des Menschen stößt also in aller Schärfe mit dem Leben zusammen, wie es in den heidnischen Naturgeistern, im Osterei, in der Edda, in Yggdrasil und Odin zum Ausdruck kam, aber auch in der islamischen Sufi-Mystik, im Lachen des Buddha und nicht zuletzt im frühjüdisch-heidnischen Naturmythos. Dort, in der „Volkheit“, seien die Quellen des Widerstands und der Erneuerung zu finden. Nach 1945 fanden die Staatsphilosophien weder in Ost noch in West einen Zugang zu solcher Kritik. In der DDR galt Lessing als „bürgerlicher Intellektueller“, dessen „abstrakt-idealistisches“ Denken letztlich „antikommunistisch“ war. In Westdeutschland hätte die Radikalität, mit der Lessing Kapitalismuskritik, Naturbewusstsein und „Volkheit“ verband, ihn der Verfassungsfeindlichkeit verdächtig gemacht. Wo Lessing vereinzelt erwähnt – auch nachgedruckt – wurde, geschah das meist am Rande intellektueller Diskussionen und verharmlosend oder direkt entstellend. Das ermuntert zur Wiederbegegnung mit dem Original.

„Eine grausam unerbittliche Maschine walzte Kultur dahin […] Längst hinweggewischt und geschwunden ist die gesamte Tierwelt Europas, deren Abbilder wir noch finden in den Höhlen von Perigord und Dordogne in Südfrankreich oder, eingeritzt und in Ocker ausgemalt, in den Felsen der Pyrenäen: die gewaltigste Tierwelt der Erde. – Was ist in Deutschland binnen [einhundert] Jahren vom Erdboden weggeknallt? Auerochs, Tarpan, Wisent, Bär, Lux, Wolf, Elch, Wildkatze, Biber, Otter, Marder, Nerz. – Demnächst auch: Eber, Wiesel, Dachs und Fuchs. Von mehreren tausend Vogelarten blieben wenige hundert übrig […] Zu diesem Frevel am Tier, welch unerhörter Frevel an Aue und Wald! Die Einöden Syriens, Griechenlands, der jonischen Inseln, einst der Erde reichste Gärten; die Abhänge der Provence, heute Felsen- und Murentäler, aber einst geheimnisrauschender Wald; Kleinasiens steinige Kalkwüste, einst voller Blumen ein Gartenland; der leichenhafte, todtraurige Karst, ausgemergelt von der Habgier venetianischer Krämer […]; bald auch unser morgendliches Deutschland, in Haide, Stoppel und Steppe verwandelt, […] alle diese geschändeten Erdstriche zeigen, wie die Natur am wälderverwüstenden Menschen sich rächt, der die blühende Lebenswelt vermarktet, verkrämert, verhandelt. […] Man erschlägt in jedem Jahr 10 Millionen Robben! […] Nein! […] Man erschlägt sie nicht. Das wäre nicht wirtschaftlich. Man zieht den Lebenden das Fell vom Leibe und läßt sie liegen. Sie sterben von selbst.“

Theodor Lessing, „Die verfluchte Kultur“ (1921)

Henning Eichberg

Henning Eichberg (1942 – 2017), Kultursoziologe und Historiker, der seit 1982 in Dänemark lehrte, war bereits seit den ersten Ausgaben der Zeitschrift wir selbst (Gründung im Jahre 1979) der inspirierende Kopf. Sein intellektuelles Fluktuieren zwischen rechten und linken Denkströmungen, seine linksnationale, ethnoplurale Kritik am rechten Etatismus und seine radikale ökologische Orientierung wurden für uns programmatisch wegweisend, jedoch nie zu Dogmen.

Autor der Bücher:

Gedicht: DDR

»In der Menschenveredelungsanstalt«, 1962, Sieghard Pohl, Urfassung vom Staatssicherheitsdienst beschlagnahmt 1963; Quelle: Sieghard Pohl, »extra muros«. Kurzprosa Grafik Malerei Objekte, erschienen im Verlag Siegfried Bublies, Koblenz 1990.

DDR

Gedicht von Siegmar Faust

Was heißt das? Double Data Rate – Ah, ja! Hatte das
irgendwann mal eine Bedeutung? Was steckt dahinter?
Eine Stadt? Ein Staat? Eine besondere Duftnote fürs
Fußvolk im Reich der Überflüssigkeiten?
Man hört gelegentlich: Sie war – ein real existierender Wahn.
Mehr noch: ein Besatzungskahn voller Größenwahn.

Und nun? Ist sie in einer größeren Einheit aufgegangen?
Oder gar untergegangen?
Auf welchem Grund sollte sie grundlos liegen? In welchem
Ozean welcher Geistergeschichte?

Sie liegt. Sie lag. Sie log.
Sie log sich in den Fluss der Geschichte.
Ihr maßgebender Fluss war die Elbe.
Von Süd nach Nord: Ein deutscher Fall.
Lass, Robert, lass sein
Nee, schenk mir kein’ ein!
Abgang ist überall…[2]

Da ging die Post ab – als die DDR noch lebte und bebte.
Da kam nichts an – nichts kam unkontrolliert an deren
Bewohner heran. Da kontrollierte die Kontrolle die Rolle
der Kontrolle. Ein sportlicher Selbstläufer mit Goldmedaille.
Selbst die fiesen Friseure frisierten ihre Gedanken auf
das kürzeste Niveau herab. Wie gesagt: Da ging was ab!

Eine einzige DDR auf der Welt machte die DDR zur einzigen
DDR der Welt. Mehr war nicht drin. Das Leben, welches
das unsere verbarg, mied uns niederträchtig bis auf die Knochen.
Nichts war dran an dieser so roten wie begehrten Witwe.
Aller Bestand an ihr war Sand: in Hülle und Fülle.

Die Wüste wuchs. Wenigstens einer sah es so kommen –
ausgerechnet der Herr Nietzsche, lange vor seinem Delirium.
Doch in aller wüsten Weile wuchs der Sand zum Gebirge auf.
So hätte er wachsen müssen laut Plan.

Aber die Feinde des Konsum-Sozialis-Mus!
Neben den vier Himmelsrichtungen waren es vor allem:
Der Frühling, der Sommer, der Herbst und der Winter.
Besonders feindselig war der Herbst im Frühling, als alle
Blütenträume reifen sollten – und als Schoten platzten.

Es kam zur Ebbe auf allen Ebenen. Sogar der Sand
wurde knapp. Was sollte der Sandmann den Kindern noch
in die Ohren streuen? Juckpulver war ausverkauft.
Aus den Nasen tropfte trotzig der Rotz.
Wer nichts hören wollte musste es sehen, was nicht mit
anzusehen war: Geruchsproben im Einweckglas.
Das Ende vom Lied der klassenlosen Blamage.

Des Staates Nummer Eins war sich alles in allem:
vorne Er, hinten ich: Erich –
ein Leib ohne Seele, aber Vorsteher und Vorsitzender
aller Sitze und ummauerten Besitze.
Süßsauer lächelnd meldete er seine Erfolge, als hätten
wir die DDR dem Meer abgerungen.
Wirklich, es war ein Meer von Trümmern [3]

Wer sich erinnert, der hat mehr von der Vergangenheit,
aber weniger vom flotten Leben.
Es soll doch eine Dee Dee eR gegeben haben – das behaupten
Außenstehende. Ich aber habe sie erlebt, erlitten und habe es
immer wieder bestritten. Ich lasse mich weniger als dreimal
bitten und bringe sie nun zum Ausdruck, wenn mein Drucker mitspielt.

Ansonsten müsste ich mich selber ausdrücken oder
ausdrucken, das gäbe ein Gedruckse, ein wahres Erbrechen –
Wilhelm Dilthey stehe mir bei!

Das Erbrochene oder Versprochene führt
gerade hin zum Un-Sinn des Verstehens und meines Gehens
bis an den Rand, den ich halte, einhalte, zuhalte.

Halt! Grenzgebiet! Innerdeutsche Grenze – auch Zonengrenze,
Eiserner Vorhang, Antifaschistischer Schutz- oder
Schmutzwall geheißen. Ich hab’s vergessen, denn solche
Grenzerfahrung mündet stets in
einem Minenfeld unschuldigster Mienen.

Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer… [4]

Unsre Heimat. Das Unsere. Geliebt will es werden, das
Verfluchte. Es versprach uns… Nein, es verspricht uns
weiterhin Einweisung, Brustnahme, Trostspende. Das Unsere
will uns zukunftsweisend einmauern, einkaufen, einschläfern.

Tja, wo sterben wir denn?
Immer noch in der DDR oder schon wieder in ihr?
Sind wir noch oder wieder für immer und unwiderruflich [5]
mit den Völkern der verbrüsselten Sowjet-Union vernudelt?

Der Schein und die Ewigkeit – doch die namenlose Zeit
inspirierte uns zu mehreren Freunden und Feinden.

Ja, sie gibt es.
Gibt es nicht. Gibt es nicht mehr.
Gibt es nicht mehr auf: dem Meeresgrund, wo die Zukunft
nicht mehr ganz richtig unter den Sanduhren tickt.

Der letzte Singsang auf dem abendländisch-sozialistischen
Luxusdampfer „Titanic“ hieß gewiss:
Brü-hü-der, zur Son-ne, zuuuuur Fr..h..t… [6]

Quellen:

[1] Es wird keine DDR mehr geben. Sie wird nichts sein als eine Fußnote in der Weltgeschichte. (Kommentar von Stefan Heym im Fernsehen zum Wahlergebnis der Volkskammerwahl der DDR am 18.3.1990)

[2] Aus dem Refrain von Wolf Biermanns Lied „Enfant perdu“

[3] Aus Volker Brauns Gedicht „Prolog“ zur Eröffnung der 40. Spielzeit des Berliner Ensembles am 11. Oktober 1989

[4] Beliebtes Kinderlied, gesungen von einem Kinderchor der DDR.

[5] Im Artikel 6 der DDR-Verfassung hieß es: Die Deutsche Demokratische Republik ist für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet.

[6] „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ – Kampflied aus der Arbeiterbewegung. Text: Leonid P. Radin, 1897, Nachdichtung: Hermann Scherchen, 1918; Musik: russische Volksweise

Siegmar Faust

Siegmar Faust, geboren 1944, studierte Kunsterziehung und Geschichte in Leipzig. Seit Ende der 1980er Jahre ist Faust Mitglied der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), heute als Kuratoriums-Mitglied. Von 1987 bis 1990 war er Chefredakteur der von der IGFM herausgegebenen Zeitschrift „DDR heute“ sowie Mitherausgeber der Zeitschrift des Brüsewitz-Zentrums, „Christen drüben“. Faust war zeitweise Geschäftsführer des Menschenrechtszentrums Cottbus e. V. und arbeitete dort auch als Besucherreferent, ebenso in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Er ist aus dem Vorstand des Menschenrechtszentrums ausgetreten und gehört nur noch der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik und der Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft an.

Fast mein halbes Leben …

von Jupp Koschinsky

„Frage: Du liebst dein Vaterland, nicht wahr, mein Sohn? Antwort: Ja, mein Vater; das tu ich. Frage: Warum liebst du es? Antwort: Weil es mein Vaterland ist. Frage: Du meinst, weil Gott es gesegnet hat mit vielen Früchten, weil viele schöne Werke der Kunst es schmücken, weil Helden, Staatsmänner und Weise, deren Namen anzuführen kein Ende ist, es verherrlicht haben? Antwort: Nein, mein Vater; du verführst mich. Frage: Ich verführte dich? Antwort: – Denn Rom und das ägyptische Delta sind, wie du mich gelehrt hast, mit Früchten und schönen Werken der Kunst, und allem, was groß und herrlich sein mag, weit mehr gesegnet, als Deutschland. Gleichwohl, wenn deines Sohnes Schicksal wollte, daß er darin leben sollte, würde er sich traurig fühlen, und es nimmermehr so lieb haben, wie jetzt Deutschland. Frage: Warum also liebst du Deutschland? Antwort: Mein Vater, ich habe es dir schon gesagt! Frage: Du hättest es mir schon gesagt? Antwort: Weil es mein Vaterland ist.“

(aus Heinrich von Kleist, Politische Schriften des Jahres 1809)

Unsre Heimat,
das sind nicht nur die Städte und Dörfer.
Unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald, unsre Heimat
ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld und die Vögel
in der Luft und die Tiere der Erde.
Und die Fische im Fluß sind die Heimat.
Und wir lieben die Heimat, die schöne.
Und wir schützen sie, weil sie den Banken gehört,
weil sie den Banken gehört.

(eigentlich „weil sie dem Volke„, beziehungsweise „unserem Volke gehört„, Lied der Pionierorganisation „Ernst Thälmann“ in der Freien Deutschen Jugend der DDR, Worte von Herbert Keller, letzte Zeile abgewandelt von Uwe Steimle)

Fast mein halbes Leben …

…war der Todesstreifen zwischen der BRD und der DDR traurige Wirklichkeit. Als ich meine vaterlandslosen Flegeljahre hinter mir gelassen und die blauen Besatzer-Buchsen endgültig ausgezogen hatte, empfand ich mich immer mehr als das, was ich ja war, nämlich als Deutscher. Zur Wiedergeburt meines Landes in mir trugen nicht wenig die Begegnungen mit Angehörigen anderer Völker bei, in deren Gesellschaft ich suchte, was ich nicht benennen konnte, jedenfalls aber bei meinen Landsleuten nicht fand und auch mir selbst schmerzlich abging. Diese Fremden sangen – unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, die ich in den wenigsten Fällen kannte – ganz selbstverständlich das Hohelied ihrer Heimat und heute ahne ich, daß sie etwas hatten, was mir fehlte: Identität!

Meine Eltern verließen mit mir die DDR, als ich ein Jahr alt war. Da mein Vater sich weigerte, der SED beizutreten, waren seine beruflichen und damit wirtschaftlichen Aussichten begrenzt, also ging er. Nie wäre ihm eingefallen, sich als Flüchtling zu bezeichnen, womit er auch auf gewisse finanzielle Vorteile verzichtete, die es damals von amtlicher Seite wohl gab. Er verachtete Leute, die aus den nämlichen Gründen und unter ähnlichen Umständen ihre (mitteldeutsche) Heimat verlassen hatten und sich selbst mit dieser Bezeichnung einen Abenteurermantel umhingen, der ihnen nicht zustand. Flüchtlinge, das waren die, die unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Gesundheit Mauer und Stacheldraht überwanden.

In meiner Kindheit war Mitteldeutschland mir ferner als irgendein anderes Land. Die alten Verwandten, die uns besuchen durften, waren Habenichtse aus einer unwirklichen Welt, die vergebens meine Nähe suchten und deren Schauermärchen mich nicht interessierten. Hätte ich nur mehr gefragt und zugehört!

Später, als mir fast die ganze Welt offenstand, sehnte ich mich dagegen immer mehr danach, einmal meine Geburtsstadt in Sachsen zu sehen, an die ich ja nicht die geringsten Erinnerungen hatte. Allein, die Schikanen der Grenzpolizisten bei der Fahrt von West-Berlin nach West-Deutschland auf der sogenannten Transitautobahn reichten mir und das ganze Hickhack eines Besuchs in der „Zone„, das meine Eltern immer wieder einmal auf sich nahmen, wollte ich mir nicht antun. Aber wie oft stand ich vor diesen Grenzanlagen und schaute hinüber, mißtrauisch durch’s Fernglas von DDR-Grenzpolizisten beäugt. Die da drüben, auch die GrePos, das waren doch meine. Wie konnte uns so eine Monstrosität trennen? Ich unterstützte zu der Zeit mit gelegentlichen Spenden den Bundeswehrarzt Reinhard Erös, der auf eigene Faust afghanische Freischärler, die gegen die Sowjets kämpften, medizinisch versorgte und einen Sender namens „Radio freies Afghanistan“ ins Leben rief. Auf meinem Auto hatte ich einen diesbezüglichen Aufkleber. Als ich mich wieder einmal auf Transitautobahn-Grenzübergangs-Schikanen eingestellt hatte, trat ein schon alter DDR-Grenzer ans Fenster und fragte mich danach. Ich dachte nichts zu verlieren und tat ihm unverblümt meine Verachtung für das sowjetische Vorgehen in Afghanistan kund. Damals ahnte ich noch nicht, daß die Sowjets nur in das offene Messer gerannt waren, daß ihnen die Amis aufgestellt hatten. Er hörte sich alles ruhig an, dann lächelte er leicht, deutete einen militärischen Gruß an und wünschte mir ohne weiteres Gute Fahrt.

Und dann kam der 9. November 1989. Ich hatte im Rhein-Main-Gebiet zu tun und hörte abends in den Nachrichten vom Fall der Mauer. Es war ungeheuerlich. Ich kann das Gefühl, das mich durchströmte, kaum begreifen, eine Mischung aus Ergriffenheit, Jubel, Zweifel.

Am nächsten Morgen kaufte ich am ersten „Wasserhäuschen“ (kennen nur die Hessen, oder?) eine Flasche Sekt und schenkte sie meinen Kollegen aus: „Die Mauer ist gefallen!“ Auch sie wollten es nicht glauben. „Eigentlich müßten wir jetzt die National-Hymne singen“ meinte einer, aber wir alle konnten und trauten uns nicht. Da war sie wieder, diese seltsame Verdruckstheit dem eigenen gegenüber!

Aber seit damals feiern wir privat an jedem 9. November den Mauerfall: Aus Packpapier oder Kartons wird eine Mauer errichtet, besprüht, und dann – nach einem Vortrag, einem kleinen Theaterstück oder ähnlichem – gestürmt (besonders für die Kinder ein Spaß) und das Lied der Deutschen gesungen. Einen Schluck Sekt gibt’s auch. Kaum jemand veranstaltet so etwas. Warum? Es kommen Leute vorbei, die fragen „Was war denn am 9. November?“ Dabei ist der doch unser deutscher Schicksalstag.

Dieses Mal nun wird er, weil’s ein runder Jahrestag ist, auch von den Eliten des herrschenden politisch-medialen Komplexes gefeiert. In anderen Jahren steht regelmäßig die viel vergangenere unselige Reichskristallnacht im Vordergrund. Diese Eliten, an deren Wesen nicht nur wir Deutschen, sondern die ganze Welt genesen soll, können den Mitteldeutschen (und den Russen!) bis heute die deutsche Einheit nicht verzeihen. Es ist ihnen anzusehen und -zuhören, wie sie innerlich mit den Zähnen knirschen. Sie alle wollten was auch immer, die Wiedervereinigung jedenfalls keinesfalls, allen Sonntagsreden zum Trotz. Als sie nicht mehr zu verhindern war, waren sie selbstverständlich schon immer alle dafür gewesen, wie billig, und heute haben sie und nicht die aufmüpfigen Mitteldeutschen diese herbeigeführt.

Hätte mir einer damals erzählt, daß in dreißig Jahren Deutschland so aussähe wie heute, hätte ich ihn ausgelacht. Niemals! So verlogen, so heimtückisch konnte keine angeblich demokratische Elite, so schlafmützig kein Volk sein!

Ich mag und brauche nicht aufzählen, was alles seitdem schiefgelaufen ist. Wieviel vergifteten Tand haben wir schon von einer boshaften Stiefmutter bekommen und welche vergifteten Äpfel wird sie uns noch andrehen? Wieviele Träume von einem freien (sprich souveränen), fruchtbaren, friedlichen Deutschland inmitten eines Europas von lauter ebensolchen Vaterländern, die einander sein lassen, was sie sind, und einander anregen, sind zerplatzt, wieviele ihrer eigenen Gesetze und Verträge haben die hauptamtlichen, wohlbestallten meineidigen Geßlers unter’m Beifall ihrer ebenso wohlbestallten zahlreichen Mitläufer gebrochen oder zurechtgebogen, wie sehr ist die herrschende Politik zur Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln geworden? Es würde Bände füllen. Beiläufig nur eines: Sind die Nacktbadestrände im Zuge der massenhaften „kulturellen Bereicherung“ nicht rarer, die Paradiese der mitteldeutschen Ostseeküste nicht kleiner geworden?

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ titelte vorige Woche „63% der Deutschen glauben, man müsse sehr aufpassen, wenn man seine Meinung öffentlich äußert“ und entblödet sich nicht zu fragen „Wie kann das sein?

Was für ein Hohn!

Ein alter Kommunist (ich meine, ein wirklicher Linker wie zum Beispiel Stephan Steins, also Gegner des Großkapitals und nicht dessen „Knüppel aus dem Sack„), der seine Gesprächspartner nach Sympathie und nicht nach Gesinnung aussucht, erzählte mir einmal, er habe bei der Nachricht vom Fall der Mauer geweint: „Jetzt würde ganz Deutschland amerikanisiert werden!“ und meine Mutter, eine kleine tapfere Frau prophezeite „Jetzt kriegen wir bald Zustände wie in der DDR“. Es ist alles viel schlimmer gekommen. Deutschland und das deutsche Volk sind in ihrer Substanz und ihrem Fortbestand so gefährdet wie nie. Warum also feiern?

Weil es immer noch wunderbar ist, – einfach so! – von West- nach Mitteldeutschland oder umgekehrt zu fahren; weil „in Saggsen“ immer noch „de schönsdn Mädchn waggsen„; weil wir unseren mitteldeutschen Landsleuten Dank und Achtung schulden; weil der Jubel dieses Tages nicht vergessen werden darf; weil die Geschichte Sprünge macht (Henning Eichberg) und nicht immer einfach so weitergehen muß; weil jeder Mensch das Recht hat, bei sich zuhause zu sein und der, der den eigenen Leuten nicht die Heimat gönnt, auch nicht zögern wird, sie anderen zu zerstören; weil wir dieses Land, für das unsere Vorfahren gelitten und gerungen haben (und täusche sich niemand: Jeder trägt seine Ahnen in und mit sich!) nur als Treuhänder bekamen, um es an unsere Kinder weiterzugeben; weil nur freie, selbstbewußte Völker die Planierung der Erde aufhalten können; weil wir selber heile sein müssen, um die Erde heil und heilig halten zu können; weil – wir selbst es uns wert sein sollten.

Jupp Koschinsky

Immer wieder montags

von Klaus Kunze

Immer wieder montags

„Das Land ist ja frei, und der Morgen tagt …!“ Wir füllten den kleinen VW-Polo mit lautem Jubel und mit Theodor Körners Lied von 1813. Wie dessen „wilde, verwegene Jagd“ kamen wir uns fast vor, kurz hinter jener Zonengrenze, die mein Leben lang eine Albtraumgrenze gewesen war. Jetzt, Anfang Januar 1990, durften wir visumfrei einreisen und kurvten über nasse Kopfsteinpflaster der F80 ostwärts.

In Leipzig ereignete sich an jenem Montag Geschichte. Meine Kinder sollten einst sagen können: „… und wir sind dabei gewesen.“ Dabei kannten sie das Land schon, in dem ihr Vater 37 Jahre zuvor geboren worden war. Grenze und Todesstreifen hatten uns nicht abschrecken können, unsere Verwandten zu besuchen.

Der Augustusplatz stand schon halbvoll. Damals hieß er Karl-Marx-Platz. Wir erklommen die Stufen der Oper, damit meine Kleinen über die Köpfe der Menge hinwegsehen konnten. Die Stimmung knisterte wie bereites Flügelrascheln eines Heuschreckenschwarmes, der gleich auffliegen will. Überall gespannte, frohe Mienen. Fahnen wurden über den Köpfen der Menge geschwenkt. „Wir sind das Volk!“ wurde lauter und lauter.

Die bis zu den gegenüber liegenden Häusern wogende Menge brach auf. Wir reihten uns ein. In breiter Front ging es über den Georgiring nordwärts. Weinte ich Freudentränen? Lösten sich uralte Traumata? In meiner Kindheit hatten an einem Abend im Jahr auf den Fensterbrettern jeder Wohnung in der Moltkestaße in Köln Kerzen gebrannt. Sie erinnerten an unsere Brüder und Schwestern in der Ostzone, die dort eingesperrt und nicht frei waren. Meine 1955 geflüchteten Eltern erzählten oft und viel von ihnen. Ihre Erzählungen bildeten den festen Kern meiner kindlichen Vorstellung von der Welt: der Welt wie sie war, aber nicht der Welt, wie sie sein sollte.

Der Demonstrationszug erreichte schnell den Hauptbahnhof und bog nach links ab, wir mitten drin. Das größte Bahnhofsgebäude Deutschlands. Stumm grüßten uns seine steinernen Löwen und hielten das sächsische Wappen, als warteten sie treu darauf, bis die steinerne Wettiner-Krone wieder ergänzt sein würde. Die SED-Herrschaft drohte das ganze Land in eine verfallende, graue Einöde zu verwandeln. Wanderer zwischen beiden Welten waren wir zu lange gewesen. Wir pendelten jahrelang als Westbesucher zwischen dem bunten Westen und einem grauen Osten hin und her, dessen einzige Farbtupfer rote Fahnen und Banner an jeder Ecke waren. Grau war auch das Haus, in das meine Mutter mit mir 1955 hatte einziehen müssen, in jene schimmelige Wohnung mit Pilz an der Decke. Mein Vater, Parteisekretär, war als erster in den Westen abgehauen. So hatte die SED meiner Mutter die Neubauwohnung entzogen, die nur für privilegierte Genossen vorgesehen war.

Unverdrossen und frohgemut ließ unsere Montagsdemo den Bahnhof hinter sich und näherte sich dem Tröndlinring, heutigem Goerdelerring. Wenn eingeschüchterte Menschen ihre Angst verlieren und sich zu einer Menschenmasse zusammenfinden, wächst ihr Mut. Die Menge an Menschen gibt Sicherheit. Zum System des SED-Terrors hatte jahrzehntelang gehört, die Menschen zu vereinzeln. Allein saß man im blendenden Lampenschein den Verhörpersonen gegenüber. Die wußten sowieso meistens schon alles. Der totalitäre Staat säte Mißtrauen unter die Menschen. Jeder konnte nämlich ein Spitzel sein. Viele waren es tatsächlich. Die anderen flüchteten in die innere Einsamkeit.

Heute taten uns die Volkspolizisten am Straßenrand nichts. Am damaligen Friedrich-Engels-Platz bogen wir wieder links ab, um im Karree zum Rückweg einzuschwenken. An der Straßenecke des Neuen Rathauses wurde es leiser. „Da drin sitzt die Stasi!“, munkelte es. Jahre nach ihrer Flucht waren meine Eltern noch schweißgebadet nach Angstträumen aufgewacht. Ich wußte schon als kleiner Junge, wer der Feind war und wo er war. In kindlicher Empathie und Elternliebe hätte ich meine Eltern gern beschützt. Aber das allgegenwärtige Gefühl menschlicher Ohnmacht gegenüber der brutalen Allmacht des roten Systems reichte bis nach Köln und mir bis ins Kinderherz.

Ich atmete tief durch spottete innerlich der von den Stasifenstern auf die Demo gerichteten Fotoapparate. Vorbeiziehende Demonstranten zu fotografieren ist nun einmal das Hobby der Schergen kommunistischer Gewaltherrscher und ihrer geistigen Nachkommen bis heute. Inzwischen hatte ich selbst längst meine eigene Stasi-Akte, das konnte ich mir denken. Lesen durfte ich sie erst viel später. Meine Gedanken schweiften wieder in meine Kindheit. Auf der Straße vom Rudolfplatz zum Neumarkt in Köln hatten über einem Geschäft in roter Farbe die Buchstaben ZPK geprangt. Meine Eltern faßten mich fester und rannten in einem ersten Impuls weg. ZPK hatte aber nicht mit dem ZK zu tun, dem Zentralkomittee „Einheitspartei“ von KPD und SPD, sondern war nur eine harmlose Änderungsschneiderei.

Alles Vergangenheit, vorbei. Sie lagerte unauslöschlich in meinem Gedächtnis. Unter meinen Füßen aber lag jetzt wieder die Gegenwart. Wir näherten uns wieder dem Ausgangspunkt der Demo. Die Zukunft würde die Wiedervereinigung dieser beiden Teile Deutschlands bringen. Das war unabwendbar und stand mir klar vor Augen. Am 28.3.1988 hatte ich in der FAZ geschrieben:

„Man kann niemanden mit Verstandesgründen von der Wichtígkeit operativ betriebener Deutschlandpolitik überzeugen, der nicht bereits in seinem tiefsten Herzen unter der Teilung leidet. Das deutsche Volk jedenfalls will mehrheitlich die Wiedervereinigung, und die Partei, die diese Sehnsucht aufgreifen und ihr einen realistischen Weg weisen, wird, wird noch einmal das Rennen machen.“

Das Opernhaus kam wieder in Sicht. Nach der Straßenecke am Rathaus ging es nur noch geradeaus. Gradlinig hatte ich einst gedacht, als ich 1974 in die CDU eingetreten war. Doch was ich fand, waren nur parteitaktische Winkelzüge. Als Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung lernte ich meinen gleichaltrigen Parteinachwuchs kennen und war entsetzt. Vaterlandsliebe fand ich hier nicht, nur zynisches Karrieredenken. „Wiedervereinigung – wovon träumst du denn? Außerdem ist die westliche Wertgemeinschaft viel wichtiger.“

Ende 1989 sprang die CDU, ein Jahr nach meinem Leserbrief von 1988, im letzten Moment auf den fahrenden Zug auf. Helmut Kohl machte das Rennen. Er war Realpolitiker genug, zu erkennen: Der Zug der Befreiung würde von Ost nach West durchrollen, mit oder ohne die CDU. Also setzte er sich an die Spitze der Wiedervereinigung, für die seine Partei seit Jahren nur noch offizielle Phrasen und entnervtes Seufzen aufbrachte.

Die Spitze unserer Montagsdemo kam wieder vor dem Opernhaus an. Ich badete in der Masse gleich gesinnter, gleich fühlender, begeisterter und aufgekratzter Menschen. Die Menge sang unsere Nationalhymne. Wir sangen ergriffen mit. Der Schalk in meinem Nacken machte sich über mich und meine Gefühle weidlich lustig und neckte mich.

Wenn man im Westen zum kritischen Individualisten erzogen wurde und nach der Devise lebte: „Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom“, und wenn man zeitlebens gegen die ideologischen Anmutungen linken Druckes anschwimmen mußte, verliert man irgendwann seine Massentauglichkeit. Wenn die christlichen oder linksliberalen Schäfer ins Horn blasen, gibt es immer ein paar störrische Schafe, die beiseite traben.

So verlor ich auch im Augenblick des größten Triumphes nicht in trunkener Freude den Verstand. Ich würde ihn noch brauchen. Auf einen Wimpernschlag der Geschichte waren sie zwar wie gelähmt, die Kollektivierer, die Gleichmacher, die Unterdrücker der Freiheit. Sie würden in neuem Gewand wiederkehren, das Gift ihres Neides und Hasses aussäen, sie würden wieder täuschen, tricksen, spitzeln. Der tschekistische Ungeist lauerte nur auf bessere Zeiten. Er war nicht in die Flasche verbannt. In einem liberalen Staat gibt es keinen Korken, der sie dauerhaft verschließen könnte.

Geschenkte Freiheit muß sich jede Generation neu und selbst erkämpfen, sie geht sonst verloren. Verloren wie die Erinnerung an jenen Winter 1989 / 90 bald sein wird, in dem ihr Feuer doch so hoch loderte und kurzfristig einen hellen Schein auf ein unterdrücktes Land warf.

Klaus Kunze zum 9.11.2019

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

NEU:

Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Hier erhältlich!

Klaus Kunze: Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen. Von der Vormundschaft zum Genderismus. Hier erhältlich!

30 Jahre Mauerfall – eine Rückblende

von Werner Olles

30 Jahre Mauerfall – eine Rückblende

In meiner Heimatstadt Frankfurt am Main war der Tag des Mauerfalls für die im Römer herrschende Koalition aus SPD und Grünen ein Tag der Trauer. Genauso wurde er auch zelebriert, man nahm ihn nicht einmal zur Kenntnis. Für die Sozis und die damals noch linksradikalen Grünen war mit dem Fall der Mauer und dem bevorstehenden Ende der DDR ein Traum zu Ende gegangen. Das „bessere“, weil „antifaschistische“ und sozialistische Deutschland verschwand im Orkus der Geschichte, wenngleich die Mauermörder-Partei SED sich flugs in PDS umlog, das von den DDR-Bürgern erpresste und gestohlene Partei-Vermögen in Schweden in Sicherheit brachte und erfolgreich auf liberale, bürgerliche Toleranz vertrauend weiterhin ihr Unwesen trieb. Inzwischen betreibt ein ehemaliger MfS-Spitzel einen privaten „Verfassungsschutz“, obwohl die BRD keine Verfassung hat, und das Grundgesetz 1949 völlig zu Recht von Bayern und der KPD abgelehnt wurde.

Persönlich erlebte ich den Mauerfall vor dem Fernsehapparat nicht ohne ein gewisses Gefühl des Triumphes, denn wir Nationalrevolutionäre hatten es kommen sehen, und die belämmerten Gesichter meiner linken Kollegen entschädigten für so manche saudummen Kommentare bezüglich meiner Überzeugung, daß eine Wiedervereinigung unvermeidbar sei. Ich erinnere mich an eine Kollegin, die weinend an ihrem Schreibtisch saß und es einfach nicht glauben konnte oder wollte, daß ihre jahrelange Lebenslüge so ein jähes Ende genommen hatte. Daß wir es der Linken und den Grünen erlaubten, den politischen Diskurs auch weiter zu bestimmen, war ein großer Fehler. Der Mauerfall und das schmähliche Ende des SED-Unrechtsregimes, aber auch der gesamte „Anschluß“ bzw. Beitritt zum BRD-Grundgesetz, hätte zum Anlaß genommen werden müssen, sich ernsthaft mit dem Gedanken eines neutralen Gesamt-Deutschland auseinanderzusetzen und nachdem das Joch der Sowjetunion abgeschüttelt war, auch den Vasallenstatus eines US-Protektorats in Frage zu stellen und vor allem die erzwungene Mitgliedschaft in der EU strikt abzulehnen. Doch wurde darüber nicht einmal innerhalb der „Rechten“ diskutiert.

Werner Olles

Werner Olles, Jahrgang 1942, war bis Anfang der 1980er Jahre in verschiedenen Organisationen der Neuen Linken (SDS, Rote Panther, Jusos) politisch aktiv. Nach grundsätzlichen Differenzen mit der Linken Konversion zum Konservativismus und traditionalistischen Katholizismus sowie rege publizistische Tätigkeit in Zeitungen und Zeitschriften dieses Spektrums. Bis zu seiner Pensionierung Angestellter in der Bibliothek einer Fachhochschule, seither freier Publizist.

Autor des Buches:

Vorsichtsmaßnahme zum Thema „Mauerfall“

von Herbert Ammon

Vorsichtsmaßnahme zum Thema „Mauerfall“

I.
30 Jahre nach dem Mauerfall, als (fast) alle glaubten, nun habe der Himmel uns Deutschen und Europäern, nicht zuletzt auch den Russen im „gemeinsamen Haus Europa“ (Michail Gorbatschow), endlich Freiheit und Frieden geschenkt, wird die Luft zum Atmen „in diesem Lande“ dünner. Wer sich nicht innerhalb des Meinungskorridors bewegt, wer sich dem Konformismus verweigert, wer sich nicht von aggressiv dummen, totalitären Studenten tyrannisieren lässt, wird ins soziale Abseits gedrängt, muss mit „Sanktionen“, id est mit dem Ausschluss aus der von Minderheiten dominierten guten Gesellschaft der Wohlmeinenden, rechnen.

Verhaltene Kritik an dieser Realität äußerte unlängst der jeglicher „rechter“ Sentiments unverdächtige Jurist und Schriftsteller Bernhard Schlink. Auch Steinmeiers Vorgänger als Bundespräsident Joachim Gauck beklagt die fehlende Toleranz im Umgang mit unliebsamen politischen Positionen. In aller Deutlichkeit umriss zuletzt der einstige DDR-Bürgerrechtler Gunter Weißgerber (SPD-MdB 1990-2009; Globkult-Autor) den geistigen – und politischen – Zustand dieses Landes (siehe https://www.globkult.de/geschichte/zeitgeschichte/1806-30-jahre-friedliche-revolution):

„Wer meint denn hier im Raum, er oder sie könne jederzeit alles sagen, was es zu sagen gilt? Ohne die Befürchtung an den Rand gedrängt oder gar deutschlandweit am Pranger zu landen? Mir fallen da nur existenziell unabhängige Bürger ein.
Wer in Abhängigkeit beschäftigt ist, der oder die überlegt sich das inzwischen gründlich. Es entstand vor allem seit 2015 eine öffentliche Atmosphäre, wie sie mir zwischen 1989 und 2015 unvorstellbar war. Wir leben nicht DDR 2.0, niemand wird für seine Meinung eingesperrt.
Und doch entstand ein Klima der ängstlichen Vorsicht. Daran ist kein Propagandaministerium beteiligt. Es ist ein Gemisch von medialer Selbstzensur und zivilgesellschaftlichen Blockwarten. Gelebte Meinungsfreiheit geht anders. Bei Voltaire ist das nachlesbar.“ 

II. 
Wir leben im Jahre 2019. In den anstehenden Gedenkfeiern zum Mauerfall werden kritisch-selbstkritische Worte über derlei Aspekte deutscher Wirklichkeit anno 2019  nicht zu vernehmen sein. Die – teils berechtigte, teils selbstgerechte – Empörung über Höcke und die AfD nach deren voraussehbarem „Erfolg“ in Thüringen wird alles übertönen.

Darüber rückt selbst die Erinnerung an die geschichtliche Realität „unseres Landes“ vor und nach dem Mauerfall nicht nur zeitlich, sondern auch  „geschichtspolitisch“ in immer unklarere Distanz.

Vor diesem Hintergrund darf ich in Ergänzung zu meinem Kommentar zu den weithin peinlichen Feiern zum „Einheitstag“ am 3. Oktober auf zwei Buchrezensionen verweisen, die auf „Globkult“ erschienen sind:
https://globkult.de/politik/besprechungen/1791-frank-blohm-geh-doch-rueber-revisited-ein-ost-west-lesebuch
https://globkult.de/politik/besprechungen/1809-matthias-bath-hg-mauerfall-25-und-eine-erinnerung

Ich gestatte mir, die – wenngleich als Werbung für das Buch von Frank Blohm gedachte – Reaktion des Lukas Verlags auf meine Besprechung  zu zitieren: „Eine erste und sogleich ausgesprochen gründliche Würdigung des Buches »Geh doch rüber! Revisited« durch Herbert Ammon, also aus berufenem Munde bzw. berufener Feder!“ Eigenlob? Nein, Vorsichtsmaßnahme!

Dieser Text erschien zuerst auf dem persönlichen Blog von Herbert Ammon. Siehe: https://herbert-ammon.blogspot.com/2019/10/vorsichtsmanahme-zum-thema-mauerfall.html?fbclid=IwAR2-yU99c3k5MbhjTgB7oN1Ap8PXyv4-rQe8qcPkS1_KzxOBo31Hg9ulVQA

Herbert Ammon

Herbert Ammon ist Historiker und politischer Publizist. Bis 2003 lehrte er als Dozent für Geschichte und Soziologie am Studienkolleg für ausländische Studierende der Freien Universität Berlin. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen deutsche und amerikanische Geschichte, Ideengeschichte sowie politische Philosophie.

Mitherausgeber des Buches:

Peter Brandt / Herbert Ammon (Hgg.): Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945.

Gedanken zur Wiedervereinigung

von Generalmajor a. D. Schultze-Rhonhof

Gedanken zur Wiedervereinigung

Fall der Mauer, Wiedervereinigung, Wende: das erfreuliche Ereignis hat je nach Perspektive verschiedene Namen. Im Ergebnis sind wir, egal ob „Ossis“ oder „Wessis“ glücklich, dass es so gekommen ist. Es war die politische Lösung eines 45 Jahre währenden deutschen Schicksals im allerletzten Augenblick dank der Klugheit und nationalen Gesinnung der Herren Gorbatschow, Kohl, Brandt und Genscher. Ein paar Jahre später wäre es zu spät gewesen. Die DDR wäre pleite und ihre Städte und Infrastruktur zerfallend und die BRD durch ihre zunehmende Lösung von der deutschen Identität nicht mehr vereinigungswillig gewesen.

In der DDR versicherte Honecker noch kurz vor der „Wende“, dass die Mauer noch in 40 Jahren stünde, und in der BRD kämpfte die SPD noch kurz vor der „Wiedervereinigung“ um die doppelte Staatsbürgerschaft statt sich für die Einheit Deutschlands in Form der gemeinsamen Staatsbürgerschaft in beiden Teilen Deutschlands einzusetzen. Auf beiden Seiten der Mauer hatten die politischen „Eliten“ ihr Nationalgefühl verloren. Die gegensätzlichen Ideologien waren in Deutschland wirkungsmächtiger geworden als der Wille zur Einheit der Nation; wie vor und im 30jährigen Krieg die religiösen Ideologien.

Es sei dabei an die Kernaussagen der Mehrheit der westdeutschen Politiker in den zwei Jahren vor der Wiedervereinigung erinnert: (Ich habe sie mir damals aufgeschrieben.)

  • Wir wollen keinen Nationalstaat.
  • Die Wiedervereinigung wird Europa destabilisieren.
  • Das außenpolitische Ziel Westdeutschlands ist die politische Einheit Europas.
  • Die Bundesrepublik geht keinen Sonderweg.
  • Wir werden uns nicht wie vor dem Zweiten Weltkrieg zwischen die Stühle setzen.
  • Der Ostblock und die Verbündeten werden keine Wiedervereinigung zulassen.

Und viele, die sich für Intellektuelle hielten, gaben ihren Senf dazu, z. B. Günther Grass: „Die Wiedervereinigung ist ein sinnentleerter Begriff, den wir, wollen wir glaubwürdig werden, streichen müssen.“ Auch mancher, der das gesamtdeutsche Schiff zum Schluss dann doch noch vor dem Untergang gerettet hat, hatte der Wiedervereinigung lange Zeit widersprochen, so Willy Brandt, der sie noch 1988 zur „Lebenslüge“ erklärte und Egon Bahr, der sie im selben Jahr als „Quatsch“ abtat.

Jetzt, 30 Jahre später, sollten wir uns ohne Einschränkungen über die damalige Wiedervereinigung freuen. Wir sollten aber nicht vergessen, dass wir sie neben Herrn Gorbatschow vor allem dem Freiheitswillen und dem ungebrochenen deutsch-sein-Wollen der „Ossis“ verdanken und nicht westdeutschen Impulsen. Statt die Trägheit des damaligen westdeutschen Establishments, zur Wiedervereinigung beizutragen, aus dem Gedächtnis zu verdrängen, sollten wir besser Lehren daraus ziehen.

Wir stehen heute wieder in einem Richtungsstreit um den Wert und die Zukunft der eigenen Nation. Unser Volk bekennt sich je nach geistigem und geographischem Standort von positiv über indifferent bis ablehnend zu sich selbst. Die Argumente von heute sind denen von 1990 ähnlich. Sie sind heute wieder betont atlantisch oder europazentriert bis antideutsch, wie es die Anhänger von „schwarz“ über „rot“ bis „grün“ betonen, oder sie sind im Gegensatz dazu wieder auf Selbstbestimmung und Selbsterhalt gerichtet. Die Mehrheit der Deutschen ist, wenn man es nach den Wahlergebnissen beurteilt, im Westen atlantisch-europäisch orientiert bis hin zu antideutschen Auswüchsen („Scheiß-Deutschland“) bei den Grünen. Eine wachsende Menge bei den Ostdeutschen dagegen bekennt sich dazu, wie schon 1990, vor allem deutsch zu sein. Sie will das Selbstbestimmungsrecht im eigenen Lande gegen den „demographischen Wandel“ in Form einer deutlich wachsenden Mischbevölkerung verhindern. Sie wählt die Alternative zu denen, die man in der DDR die Blockparteien nannte. Sie wählt AfD.

Die Begleiterscheinungen sind denen in der alternden DDR vor 30 Jahren ähnlich. Die neuen Blockparteien von CSU bis zu den Linken haben wieder einen Klassenfeind. Diesmal ist er nicht kapitalistisch sondern nationalistisch. Dabei wird „patriotisch“ und „nationalistisch“ zum Synonym gemixt und heißt im Politik- und Mediendeutsch „völkisch-nationalistisch“ oder nur noch verkürzt „radikal“ und „Nazi“. Es muss schon auffallen, dass die Politiker der neuen Blockparteien die Worte „Deutschland“ und „Deutsche“ in ihren Reden und in den Medien vermeiden, als wären sie Tabuworte wie „Zigeuner“ oder „Neger“. Statt Deutschland heißt es „dieses Land“. Und aus den Deutschen sind die „Menschen in unserem Land“ geworden. Auch in der DDR war das Bekenntnis zur Einheit der Nation und zum deutsch-Sein seit Honeckers Machtantritt zugunsten des sozialistischen Internationalismus nicht mehr erwünscht. Viele Bürger in den neuen Bundesländern haben deshalb nicht vergessen, dass sie sich vor 30 Jahren erst unter sehr hohem, persönlichem Risiko mit dem Ruf „Wir sind ein Volk“ ihre deutsche Identität und ihr nationales Selbstbestimmungsrecht erstreiten mussten. Sie wollen nicht in die Fremdbestimmung eines sich abzeichnenden europäischen Zentralstaats geraten. Sie wollen nicht zurück in einen diffusen Internationalismus unter den Etiketten „bunt“ und „Vielfalt“ und mit der Aussicht, ab 2050 zur nationalen Minderheit auf eigenem Territorium zu werden. Sie sehen, wie stark die Tendenzen in den neuen Blockparteien sind, auf Assimilation und deutsche Leitkultur für unsere Zuwanderer zu verzichten. Sie sehen, wie die große Mehrheit der deutschen Medien als Schallverstärker der neuen Blockparteien diese Tendenzen fördern und die negativen Folgen der genannten Entwicklungen kleinreden oder gar verschweigen. Und sie beobachten mit Argwohn, wie unsere Regierungen in Bund und Ländern immer wieder großsprecherisch und dennoch ohnmächtig diesen Tendenzen und negativen Sachverhalten gegenüberstehen. Die „Wessis“ haben diese Erfahrungen selbst nicht mehr erlebt. Sie liegen schon ihr ganzes Leben lang in sicheren und warmen Betten, dass sie getrost weiterschlafen. Dabei hätten sie auch schon längst an Libyen, Syrien und dem Libanon beobachten können, wie „friedlich“ Mischbevölkerungen bisweilen miteinander leben.

Andere Sorgen, wie die um Arbeitsplätze, drohende Altersarmut, Mieten- und Energiepreise, Weltfrieden und Weltklima, sind vermutlich in Ost und West gleich stark oder schwach vertreten. Sie tragen offensichtlich nicht zu einer Spaltung der Deutschen in beiden Hälften Deutschlands bei. Selbst der Unmut der „Ossis“ über ungleiche Löhne in Ost und West und die unausgewogene Repräsentanz der Mitteldeutschen in Großkonzernen und Spitzenämtern regt vermutlich nicht so weit auf, dass er zu einem signifikant anderen Wählerverhalten in Ost und West führt.

Was 30 Jahre nach der Wiedervereinigung die Deutschen in Ost und West zunehmend spaltet, ist der Umgang der „Mächtigen“ mit dem eigenen Volk, seiner Identität, seiner Selbstbestimmung und seiner indigenen Substanz. Wenn ein knappes Viertel der Mitteldeutschen mit steigender Tendenz 30 Jahre nach der Wiedervereinigung alternativ wählt, muss das zu denken geben. Bisher hat die deutsche „Politik“ falsch darauf reagiert. Der Herr Bundespräsident, die Vertreter der Kirchen, Gewerkschaften, Medien und Parteien rufen zu Toleranz, Offenheit, Gesprächen, Transparenz, gegenseitigem Respekt und was nicht alles auf und tun permanent das Gegenteil. Sie beschimpfen AfD-Wähler und Mitglieder. Sie schließen sie von der politischen Mitarbeit, wo das nur geht, aus. Es kommt flächendeckend zu Hetzkommentaren durch Medien und Kirchenvertreter, zu Mobbing, zu Boykottaufrufen, Kontoschließungen, Kündigungen, Laufbahnnachteilen im Öffentlichen Dienst und zur Zensur im Internet durch die linksradikale NGO „Antifa“ und das mit stiller Billigung von Regierungs-und Justizbehörden. Und wenn die Medien das mit ihren Fakten-Checks „widerlegen“, ist das wie der sprichwörtliche Ruf des Diebs „Haltet den Dieb“. Toleranz und Gespräche sehen anders aus.

30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es wieder die „nationale Frage“, die unser Volk in Ost und West spaltet. Das Bekämpfen, Diffamieren und Ausschließen der patriotisch-nationalen Bürger ist da keine Lösung. Und das Bilden von „Resteverwertungskoalitionen“ der Wahlverlierer, wie sie jetzt als Abwehr der AfD auf Landesebene üblich geworden sind, ist auch keine Lösung für die Zukunft. Wer das deutsche Volk in Ost und West zusammenführen will, muss sich erneut der „deutschen Frage“ stellen. Wollen wir ein Mischvolk unter einer EU-Zentralregierung werden oder wollen wir ein deutsches Volk mit dauerhaft indigener deutscher Mehrheit als souveräner Staat in einem EU-Staatenbund bleiben?

Kohäsion oder Diffusion ist hier die Frage.

Generalmajor a.D. Gerd Schultze-Rhonhof

Gerd Schultze-Rhonhof wurde am 26. Mai 1939 in Weimar geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums und Abitur in Bonn trat er 1959 in die Streitkräfte ein und wurde zum Panzeroffizier ausgebildet. 1964 und 1965 unternahm er eine halbjährige Studienreise durch Namibia und Südafrika. Nach dreijähriger Verwendung als Chef einer Panzerkompanie absolvierte er die Generalstabsausbildung. Dem folgten Einsätze als Generalstabsoffizier im NATO-Hauptquartier der Armeegruppe NORTHAG, in der Truppe, im Verteidigungsministerium und eine Verwendung als Kommandeur eines Panzerbataillons. Danach bildete Schultze-Rhonhof selbst vier Jahre lang angehende Generalstabsoffiziere an der Führungsakademie der Bundeswehr aus, ehe er nacheinander Kommandeur einer Panzergrenadierbrigade, der Panzertruppenschule, der 3. und der 1. Panzerdivision und des Wehrbereichs Niedersachsen/Bremen wurde. Als letzte Dienstaufgaben leitete Generalmajor Schultze-Rhonhof die erste „Partnership for Peace“-Übung der NATO in Ungarn und nahm als Beobachter an einem ägyptisch-amerikanischen Manöver in der Libyschen Wüste teil.

Schultze-Rhonhof schied 1996 auf eigenen Antrag aus der Bundeswehr aus, weil er die Mitverantwortung für die Folgen einer unangemessenen Verkürzung der Wehrdienstdauer auf 10 Monate nicht mittragen wollte. Seitdem hat er 1997 das Buch „Wozu noch tapfer sein?“ , 2003 das Buch „1939, Der Krieg, der viele Väter hatte“ und 2008 das Buch „Das tschechisch-deutsche Drama 1918-1939″ und weitere Buch- und Zeitungsbeiträge geschrieben. Als letztes hat er 2013 das amerikanische Buch des Authors J.V. Denson “ A Centrury of War“ ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel “ Sie sagten Freiden und meinten Krieg“ herausgegeben.

Er hat außerdem zahlreiche Vortragsreisen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, der Türkei, Italien und Peru unternommen. 1996 wurde Schultze Rhonhof mit dem Freiheitspreis der Stiftung „Demokratie und Marktwirtschaft“-München und dem Couragepreis des „Verbandes der privaten Wohnungswirtschaft“-Hannover, 2012 mit dem Kulturpreis der Landsmannschaft für freie Publizistik ausgezeichnet.

Gerd Schultze-Rhonhof ist verheiratet, hat drei verheiratete Töchter und neun Enkelinnen und Enkel, und er lebt in Haldensleben bei Magdeburg.

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