von Hanno Borchert
Die Birkler singen Balladen, Minnelieder und Volkslieder
Vom Hohen Mittelalter bis in die Gegenwart
Deutschlands Lieder der Heimat und des Volkes sind sozusagen ein musikalisches Handbuch der eigenen Kulturgeschichte, damit auch ein Spiegelbild der politischen Geschichte. Sie sind darüber hinaus eine vielfach gegliederte Landeskunde in Wort und Ton. Volkslieder stellten immer das unmittelbare Leben so dar, wie es im Volk empfunden wurde und waren somit immer authentische Stimmen der Menschen. Und so haben alle Zeiten, die „guten“ wie die „schlechten“, ihre Spuren hinterlassen. Das wußte schon Johann Gottfried Herder, der übrigens den Begriff „Volkslied“ prägte. Aus seiner Sammlung „Stimmen der Völker in Liedern“ sind folgende Zeilen entnommen:
„Euch weih ich die Stimme des Volkes, der zerstreueten Menschheit, ihren verhohlenen Schmerzen ihren verspotteten Gram; und die Klagen, die niemand hört, das ermattende Ächzen des Verstoßenen, das Niemand im Schmuck sich erbarmt. Laßt in die Herzen sie dringen, wie wahr das Herz sie hervordrang, laßt sie stoßen den Dolch in des Entarteten Brust.
Aber ich weih´ Euch auch die Liebe, die Hoffnung, und den geselligen Trost, und den unschuldigen Scherz, und den fröhlichen Spott und die helle Lache des Volkes, über erhabnen Dunst, über verkrüppelnden Wahn; Weih die Entzückung Euch, wenn Seel´ an der Seele sich anschließt, und sich wieder vereint, was auch die Parze nicht schied; Weih´ Euch die Wünsche der Braut, der Eltern zärtliche Sorge, was in der Brust verhallt, was in der Sprache verklingt.“
Johann Gottfried Herder

Entsprechend seiner Devise „Zurück zu den Quellen“, in der die „Natur“, das „Originale“, das Genie der Völker“ liege, war es Herders Anliegen, die Lieder der Jahrhunderte dem Volke wieder zugänglich zu machen. Denn zwischen den Zeilen der Lieder des Volkes erklingen so wichtige Fragen wie „Was sind wir? Wo kommen wir her, und wo gehen wir hin?“ Das erzeugt eine besondere Aufmerksamkeit für das spezifisch Volkskulturelle und damit auch nach der Frage der eigenen Identität. Damit aber sind Volkslieder im Kern revolutionäre Lieder. Ist das vielleicht ein Grund, warum wir heute in Deutschland kaum mehr Volkslieder singen oder zu hören bekommen? Unverkennbar ist doch, daß sie de facto aus den Schulen, den Landesfunkanstalten, ja überhaupt aus dem öffentlichen Leben verschwunden sind. Und trotzdem ist das Volkslied nicht tot, im Gegenteil, es gibt vielerorts wieder Ansätze, sich dem Volkslied zu widmen, da das Interesse vieler Menschen für ihre Heimat, gerade angesichts der allgemein um sich greifenden Entfremdung, wieder geweckt worden ist.
So auch bei den „Birklern“, vierzehn jungen Menschen, aus dem „Bündischen“ kommend, die nach ihrem CD-Debüt „Hörst Du nicht die Bäume rauschen“ mit ihrer nachfolgenden Scheibe „Nur der Himmel und der Wald“ erneut die Vielfalt, Kraft und Poesie von Volksliedern erklingen ließen. Dazu wurde, wie der Begleittext zur CD Auskunft gibt, „tief in den Liederbüchern gegraben“. Und so spannt sich der Bogen der zu hörenden Balladen und Lieder vom Mittelalter bis in die Gegenwart.
„Under da linden“, einer der ältesten Texte dieser Zusammenstellung, stammt aus dem 12. Jahrhundert vom wohl bedeutendsten deutschen Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, und wurde in den 20er Jahren ganz im Stile des Minnesangs neu komponiert, da nur der Text die Wirren der Jahrhunderte überdauerte.
Da ist die „Ballade von Hester Jonas“, Ehefrau des Peter Meurer, die am 24. Dezember 1635 an der Windmühle zu Neuss als Hexe verbrannt wurde. „Hester Jonas ist eine der alten Weisen, die das inhumane volksfeindliche Treiben der katholischen Kirche im Mittelalter thematisieren. Die Hexenverfolgung hatte ihren Höhepunkt in der Zeit von 1490-1650, als die katholische Kirche, die erste geistliche und weltliche Macht, durch die Reformation und die Bauernkriege ins Wanken geriet. Auch die „Ballade vom Hexenhammer“ erinnert an die schweren Zeiten, insbesondere für nonkonforme Frauen, und wurde 1974 vom linken Liedermacher Walter Moßmann geschaffen, der damit gleichzeitig geistige Parallelen zwischen dem „Radikalenerlaß“ der Innenminister von 1973 und dem Hexenhammer-Leitfaden der katholischen Kirche des Mittelalters herzustellen wußte.
Die Weberaufstände 1844 in Schlesien wurden zum Symbol des Aufstandes gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Diese endeten jedoch im Blute der Aufständischen und nicht der Unterdrücker, was Heinrich Heine dazu bewog, das Lied „Im düsteren Auge keine Träne“ gegen Ausbeutung und Unterdrückung mit dem dreifachen Weberfluch auf Gott, König und das Vaterland zu schreiben. „Ein Fluch dem falschen Vaterlande, wo nur gedeihen Schmach und Schande, wo jede Blume früh geknickt, wo Fäulniß und Moder den Wurm erquickt. Wir weben, wir weben!“
Es ist manchmal wirklich erstaunlich, wieviele Aussagen von Volksliedtexten in erschreckendem Maße auf die heutigen Verhältnisse übertragbar sind.
Weiter begegnen wir auf unserer musikalischen Reise den Romantikern Joseph von Eichendorff (Text) und Friedrich Glück (Weise) mit dem Lied „In einem kühlen Grunde“. Angeblich soll es dieses Volkslied sein, das die „deutsche Volksseele“ am meisten anspricht. Anfang der 30er Jahre erlangte es über diese hinaus durch die Vertonung der phantastischen „Comedian Harmonists“ Weltruhm.
Völlig anderer Natur ist der aus der wilhelminischen Ära stammende Hamburger plattdeutsche Gassenhauer „An der Eck steiht´n Jung mit´n Tüdelband“. Frisch und unbekümmert wird der jüngere Hörer mit einem längst vergessenen, jahrhundertealten Kinderspiel, dem Tüdelband, bekannt gemacht. Die etwas Älteren unter den (zumindest norddeutschen) Hörern werden sich sicherlich an den Holz- bzw. Eisenring erinnern, den man mit ein paar schnellen Schlägen mit einem Stock zum Rollen brachte und ihn damit möglichst lange durch die Straße(n) trieb.
Viele weitere der insgesamt 21 Lieder wären zu nennen, so wie z.B. „Es wollt ein Meyer meyen“ von der Gruppe „Zupfgeigenhansel“ oder das in bündischen Kreisen beliebte „Was ließen jene“ von Olka, geschrieben auf eine wunderbare barocke Lautenmelodie. Dazu gesellen sich einige Volksweisen aus Finnland.
Eine Reise nicht ausschließlich, aber vorwiegend durch die deutsche Volksliedgeschichte also, und gar manchen Dichter lernt man von einer ganz anderen Seite kennen, als es zumindest noch die Schulbücher der älteren Generation zu erzählen wußten. Für viele wird es bestimmt die erste Begegnung sein.
Die Birkler haben mit ihrer klingenden Sammlung einen kostbaren Liederschatz, abseits vom allgemeinen Kulturbetrieb, liebevoll zusammengetragen. Aus der reichhaltigen Auswahl der Instrumente seien hier nur die „Exoten“ wie Harfe, Tinwhistle oder Drehleier genant, die die Intonierung so reizvoll und trotzdem nicht aufdringlich erscheinen lassen.
Hervorzuheben bleibt, daß aus der Gruppe heraus zwei eigene Weisen entstanden sind. Die eine davon, „Das Fähnlein im Wind“ (Text siehe unten) geht sowohl textlich als auch musikalisch weit über den klassischen Volksliederrahmen hinaus und greift ein wohl zu allen Zeiten aktuelles Thema auf: den Opportunismus der Menschen. In treibendem Rhythmus, mit mehrstimmigem Chorsatz, getragen von Trommel und Klavier, kristallisiert sich hier ein eigenständiger faszinierender Stil heraus, der für die Zukunft noch einiges von der Gruppe erwarten läßt. Einfach Klasse! Solche Lieder sind es, die den Hörer mitreißen können und dazu angetan sind, den revolutionären Geist einer vielleicht neuen Musikszene zum Leben zu erwecken. Angesichts der Tatsache, daß die Menschen meist nur noch mit Massenkonfektion Marke „Volksdümmliche Hitparade“ abgespeist werden, was bezeichnenderweise nicht als Musikkultur verkauft wird, sind die Birkler genau der richtige Kontrapunkt.
Das Fähnlein im Wind
Es riss ihn hinauf in schwindelnde Höh’n
zu den Spitzen der Berge, und er fand es schön.
Es zog ihn immer höher zum Lichte der Sonne,
weit über den Wolken schwebt er voll Wonne.
Und der Wind dreht sich, er muß sich entscheiden:
Eine Fahne im Wind oder den Absturz erleiden.
Zunächst wankte er, dann gab er sich auf.
Er ließ sich treiben in die Höhe hinauf.
Dann ein and’rer Wind, er dreht sich bald,
vergaß sich selber, ihm wurde es kalt.
Und der Wind dreht sich, er muß sich entscheiden:
Eine Fahne im Wind oder den Absturz erleiden.
Er ließ sich ziehen im Strome der Winde,
war ein fallendes Blatt, das dem grünen Baum entschwindet.
Da wacht‘ er auf wie ein willenlos Kind,
vor der sengenden Hitze, bevor das Leben verrinnt.
Und er hat sich entschieden, als die Sonne ihn stach,
dem treibenden Wind zu entsagen,
und das Fähnlein im Winde zerbrach.
Worte und Weise: Björn Adam

„Nur der Himmel und der Wald…“ Balladen, Minnelieder, Volkslieder
Hanno Borchert
Hanno Borchert, Cuxhavener Jung von der Elbmündung, Redakteur der alten wie neuen „wir selbst“, zwischendurch Redakteur der „Volkslust“. Ausgebildeter Handwerker mit abgeschlossenem Studium der Wirtschaftswissenschaften, der gerne liest, wandert, musiziert, malt und sich mit der Kunst des Graphik-Designs beschäftigt. Aktiver „Alter Herr“ der „Landsmannschaft Mecklenburgia-Rostock im CC zu Hamburg. Parteilos. Ist häufig auf Konzerten quer durch fast alle Genres unterwegs. Hört besonders gerne Bluegrass, Country und Irish Folk und darüber hinaus derzeit u.a. Gerhard Gundermann, Herbert Pixner Projekt, Andreas Gabalier, Rammstein, Delvon Lamarr Organ Trio, Jefferson Airplane, Velvet Underground, Hannes Wader, Jimmy Rosenberg und den Nachwuchskünstler Tom Mouse Smith.