Die Kritik an einer weiteren Zuwanderung nach Europa ist kein Rassismus!

von Generalmajor a.D. Gerd Schultze-Rhonhof

Kommentar zur Entschließung des EU Parlaments vom 26. März 2019 zu den Grundrechten von Menschen afrikanischer Abstammung in Europa

Ich bin nicht fast vier Jahrzehnte Soldat der deutschen Bundeswehr und der NATO zum Schutz meines Landes gewesen, um nun widerspruchslos mit anzusehen, wie verantwortungslose Politiker und Interessenvertreter eine ausländische Landnahme durch die Hintertür hinnehmen und sogar fördern.

Wie ich schon 2018 zum UN Abkommen vom 11. Juli 2018 zur Regelung von Zuwanderung, nämlich zum „Welt-Pakt über sichere, geordnete und reguläre Migration“ kommentiert habe, bedeutet das wiederholte Nachschieben von solchen formal als unverbindlich ausgegebenen Abkommen und Entschließungen doch real einen politisch wirksamen Meinungsdruck zur Legalisierung und Förderung von Einwanderung jedweder Art. Mit der damaligen Kommentierung hatte ich durchaus recht. Nun ist es das Europäische Parlament, das uns mit seiner „Entschließung vom 26.März zu den Grundrechten von Menschen afrikanischer Abstammung in Europa“ ein Dokument mit ähnlicher Zielrichtung präsentiert. Nach langen „Rechtfertigungen“ fordert es, wie schon das o. a. UN Abkommen, die Einreise von Migranten, Flüchtlingen und Asylbewerbern auf legalen Wegen. (Ziff. 23). Neben berechtigten Schutzforderungen für Menschen afrikanischer Abstammung fordert es aber auch Sonderrechte, die unterschiedslos für legale und erwünschte Einwanderer und illegale und unerwünschte Einwanderer gelten sollen.

Bleiberecht und kein Bleiberecht

Deutschland hat immer in seiner Geschichte eine limitierte Einwanderung von qualifizierten Neubürgern aus fremden Ländern, aber aus dem eigenen Kulturkreis, erlebt und gefördert. Diese Zuwanderer haben sich in wenigen Generationen assimiliert und sind deutsch geworden.

Jetzt aber wird Deutschland vor allem mit schulisch und beruflich unqualifizierten und zum Teil nicht anpassungsbereiten Menschen aus fremden Kulturkreisen geflutet. Diese Art von Zuwanderung wird in Folge der Bevölkerungsexplosion in den Herkunftsländern weiter zunehmen und in Folge ihrer hohen Geburtenrate in Deutschland in zwei Generationen die politisch bestimmende Bevölkerungsmehrheit bilden. Die zu erwartende Bevölkerungszunahme allein in Afrika wurde vom UN Kommissariat für Flüchtlingsfragen vor einiger Zeit mit 1,2 Milliarden zusätzlichen Afrikanern bis 2050 prognostiziert.

Ich lehne diese Art von weitgehend unqualifizierter und zum Teil nicht anpassungswilliger Einwanderung strikt ab und fordere von den politisch Verantwortlichen in Deutschland und in der EU-Administration die radikale Beendigung dieser Art von Zuwanderung. Ich bin nicht fast vier Jahrzehnte Soldat der deutschen Bundeswehr und der NATO zum Schutz meines Landes und eines freien Westens gegen eine ausländische Landnahme in Deutschland gewesen, um nun widerspruchslos mit anzusehen, wie verantwortungslose Politiker und Interessenvertreter eine ausländische Landnahme durch die Hintertür hinnehmen und sogar fördern.

Deutschland und mehrere andere EU Staaten brauchen nur qualifizierte Zuwanderer nach eigenen nationalen Auswahl- und Bedarfskriterien. Auch das inzwischen „ausgebeulte“ deutsche Asylrecht, das in unzähligen Fällen als Hintertür für unerwünschte Zuwanderung missbraucht wird, muss reformiert werden. Daneben ist es eine Selbstverständlichkeit, dass afrikanische Studenten in Deutschland während ihrer Studienzeit willkommen sind, genauso wie afrikanische Touristen, Geschäftsleute und Dienstbeschäftigte. Ebenso selbstverständlich ist, dass Deutsche afrikanischer Herkunft vor jeder Art von Diskriminierung oder anderer Benachteiligung zu schützen sind.

Die neue „Entschließung des Europäischen Parlaments zu den Grundrechten von Menschen afrikanischer Abstammung in Europa“ zielt letztendlich ebenfalls wie der o. a. UN-Migrationspakt auf die Öffnung Europas für die Einwanderung afrikanische Migranten nach Europa. Sie ist im Internet zu finden unter: Entschließung zu den Grundrechten von Menschen afrikanischer Abstammung in Europa

Die Entschließung besteht aus drei Teilen:

  1. Aus 21 „Hinweisen“ auf 21 Dokumente, Resolutionen und Ähnliches, die die Forderungen des EU Parlaments in u. a. Teil 3 legitimieren sollen. Sie sprechen in ihrer Summe für meine Behauptung, dass ein wiederholtes „Nachschieben“ von Resolutionen mit gleicher Zielrichtung der Masseneinwanderung den Weg ebnen soll, und zwar durch die Beeinflussung der „politischen Klasse“ und der öffentlichen Meinung.
  2. Aus 20 „Erwägungen“, die sich fast ausschließlich  mit dem Rassismus, der Diskriminierung, der Fremdenfeindlichkeit, der Ungleichbehandlung, der Entwürdigung und der Afrophobie der Weißeuropäer gegenüber den Menschen afrikanischer Abstammung befassen. Diese Erwägungen sollen die nachfolgenden Aufforderungen und Ermahnungen an europäische Gesellschaften und Staaten rechtfertigen.
  3. Aus 28 Aufforderungen und Ermahnungen, zum Beispiel:
  • Rassismus, Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit, Ungleichbehandlung, Entwürdigung und Afrophobie zu unterbinden,
  • Menschen afrikanischer Herkunft sozial, wirtschaftlich, politisch und kulturell zu beteiligen, um ihre Inklusion in Europa zu gewährleisten (Pkt.2)
  • Nationale Strategien für die Inklusion und Integration von „Menschen afrikanischer Abstimmung“ zu entwickeln. (Pkt.3)

Kritik an der EU-Parlamentsentschließung

Die „Hinweise“ und „Erwägungen“ sind unvollständig, wenn sie die nachfolgenden „Aufforderungen und Ermahnungen“ an europäische Gesellschaften und Staaten rechtfertigen sollen. Bei Unvollständigkeit fehlt oder mangelt etwas. Die „Hinweise und Erwägungen“ sind also genau genommen fehlerhaft oder mangelhaft. Sie sind in der bisher vorliegenden Form ausschließlich eine Sammlung von Vorwürfen gegen die weißen Völker und Staaten der EU in der Vergangenheit und heute zur Rechtfertigung der im 3. Teil gestellten Forderungen an die Staaten der EU. Zu einer realistischen und gerechten Beschreibung des Verhältnisses der weißen EU-Bürger und Staaten zu den Menschen afrikanischer Abstammung gehörten aber auch „Hinweise“ und „Erwägungen“ über das Verhalten der afrikanischen Gesellschaften und Staaten in der Vergangenheit und heute.

Die o. a. 20 „Erwägungen“ enthalten jedoch ausschließlich berechtigte Klagen über Benachteiligungen und Diskriminierungen von Menschen afrikanischer Herkunft in europäischen Staaten, ohne die gleichzeitigen Fehlleistungen afrikanischer Menschen, Gesellschaften und Staaten mit zu berücksichtigen. Die o. a. 20 „Erwägungen“ sind deshalb lediglich ein „Sündenregister Europas“, das sich wie eine einseitige Publikumsbeschimpfung ausnimmt. Eine gewisse und angemessene Kritik an „Menschen mit afrikanischer Herkunft“ und an ihren Herkunftsländern in den „Erwägungen“ würde verständlich machen, dass das zum Teil schlechte Ansehen von Afrikanern und damit auch teilweise ihre Diskriminierung nicht allein durch Europäer verursacht ist. Es würde auch erklären, dass viele Menschen afrikanischer Abstammung ihre Bildungs-, Aufstiegs- und Wirtschaftsnachteile aus ihren Herkunftsländern mitgebracht haben und mitbringen und dass nicht jede allgemeine Kritik an Afrikanern ein Ausdruck von Rassismus ist.

Um einer unangemessenen Verallgemeinerung vorzubeugen, wäre es hilfreich, vorn in den „Erwägungen“ in deren Sprachduktus folgendes zu vermerken:

  • in der Erwägung, dass sich Menschen nordafrikanischer Abstammung weitgehend von den Menschen mittel- sowie südafrikanischer Abstammung unterscheiden und dass sich beide Gruppen in vielerlei Hinsicht deutlich von den Menschen europäischer Abstammung unterscheiden. Das trifft auf ihr Rechtsempfinden, ihr Demokratieverständnis, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Einstellung zur Arbeit, zur öffentlichen Ordnung und ihr Verantwortungsempfinden für ihre eigene Bevölkerungsexplosion zu.
Afrikanische Völker, aus: Meyers Konversationslexikon (1885–90)

Diese Erwägung wird auch nicht dadurch gegenstandslos, dass es zwischen den Menschen afrikanischer Abstammung aus verschiedenen Regionen und Völkern ebenfalls erhebliche Unterschiede gibt.

Weiterhin muss hinzugefügt werden:

  • in der Erwägung, dass zahlreiche afrikanische Staaten südlich der Sahara einen erheblichen Anteil ihrer eigenen öffentlichen und staatlichen Aufgaben sowie ihrer eigene Infrastruktur nicht vollumfänglich selbst finanzieren, sondern in dieser Hinsicht dauerhaft von China, den USA oder EU-Staaten abhängig sind. Und dies, obwohl ihre Entkolonialisierung durchschnittlich 55 Jahre zurückliegt und obwohl etliche von ihnen reich an Bodenschätzen sind.
  • in der Erwägung, dass die Völker Afrikas ihre eigene Bevölkerungsexplosion nicht beherrschen und selbst keine Verantwortung für die damit entstehenden Dauerprobleme übernehmen. Mit der Bevölkerungsexplosion wachsen offensichtlich schneller neue Armut als neuer Wohlstand nach. (Nigerias Bevölkerung z. B. ist in den letzten 20 Jahren von 100 Millionen Menschen auf 200 Millionen gewachsen.)  
  • in der Erwägung, dass die bald sechs Jahrzehnte zurückliegende Zeit der europäischen Kolonialherrschaft in Afrika nicht nur eine Periode der Ausbeutung und Unterdrückung afrikanischer Menschen war, sondern auch eine Zeit der Förderung von modernen Landwirtschaftsmethoden, Handwerksfähigkeiten und Industrieansiedlungen, von ersten Demokratisierungen und der Einführung moderner Rechtsgebräuche, kurz gefasst, es war auch eine Zeit erster Entwicklungshilfe.
  • in der Erwägung, dass Menschen und Völker in Afrika seit sechs Jahrzehnten materielle, finanzielle und geistige Entwicklungshilfe durch die „Menschen europäischer Abstammung“ erhalten.

(Wenn diese Ergänzungen Wiederholungen enthalten, entsprechen sie dem Stil der EU-Parlaments-Entschließung.)

Solche Erwägungen würden eine verständliche Kritik an Menschen afrikanischer Herkunft erklären, die man nicht als Ausdruck von Rassismus fehldeuten darf. Die Erwägung unter dem Buchstaben O in den EU-Parlaments-Entschließungen sollte dem Dokument ganz entnommen werden. Dort heißt es:

  • in der Erwägung, dass Menschen afrikanischer Abstammung im Laufe der Geschichte erheblich zum Aufbau der europäischen Gesellschaft beigetragen haben.“

In der späteren Ziffer 5 ist sogar von „gewaltigen Errungenschaften“ in diesem Zusammenhang die Rede. Das ist, wenn man vom Einfluss der Araber während der Renaissance absieht, Quatsch.

Kritik an Teil 3 der Entschließungen:

Die 28 Aufforderungen in Teil 3 beziehen sich prinzipiell auch auf alle afrikanischen Migranten, Flüchtlinge und Asylbewerber, da ihre Einreise auf legalen Wegen gefordert wird (Ziff. 23), und da sie sich dem Text nach auch unterschiedslos auf die Millionen illegal in Europa lebenden Migranten und ausreisepflichtigen Afrikaner beziehen. Darin liegt die besondere Brisanz des gesamten Papiers. Da die unterschiedslose Einreise aller dieser Personengruppen nicht von allen EU-Staaten gebilligt wird, ist es erstaunlich, dass offensichtlich auch EU Parlamentarier aus diesen Staaten auch allen unerwünscht ins Land kommenden Afrikanern die Rechte und Privilegien gewähren wollen, die in den Aufforderungen aufgeführt sind. Auch ich lehne diese Rechte und Privilegien für unerwünscht nach Deutschland einreisende Ausländer ab.

Zahlreiche Aufforderungen betreffen Privilegien, die weißhäutige Europäer in vergleichbaren Lagen nicht haben, zum Beispiel:

  • die Förderung von Auftritten von Afrikanern in Fernsehsendungen (Ziff. 11),
  • die Aufnahme von afrikanischem Geschichtsunterricht in die Lehrpläne der Aufnahmeländer (Ziff. 20),
  • die Einführung von „Monaten der schwarzen Geschichte“ (Ziff. 5)  und
  • das Begehen eines „Jahrzehnts der Menschen afrikanischer Abstammung“ (Ziff. 6)

Mehrere Aufforderungen betreffen die Gleichbehandlung von Menschen afrikanischer Herkunft und europäischer Herkunft, was in Bezug auf eingebürgerte afrikanische Einwanderer angemessen ist. Eine solche Gleichbehandlung unter den wohlklingenden Rubriken „Inklusion“ und „Integration“ würde nach den unterschiedslosen Aufforderungen der „Entschließung des EU Parlaments“ aber auch unerwünschte Migranten, Asylbewerber „im Wartestand“ und Flüchtlinge mit befristetem Status betreffen. Das sind nach dem EU-Papier: die Versorgung mit angemessenem Wohnraum (Ziff. 22), die Integration in den Arbeitsmarkt (Ziff. 25), Förderung von Unternehmertum (Ziff. 21) und die politische Beteiligung (Ziff. 26).

Wenn solche maßlosen Forderungen in den Herkunftsländern afrikanischer Migranten bekannt werden, verstärken sie den Sog, den das Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika ohnehin ausübt. Sie werden als Verheißung verstanden, und es werden sich weitere Millionen Afrikaner aus dem ständig weiter übervölkerten Afrika auf den Weg nach Europa begeben. 

Rechte der Menschen afrikanischer Abstammung contra Rechte der Menschen europäischer Abstammung

Etliche der beabsichtigten Schutzrechte für Menschen afrikanischer Abstammung – also der Gäste – beschneiden etliche der Individual- und Gemeinschaftsrechte der Menschen europäischer Abstammung – also der Gastgeber.

Sie beschneiden de facto das Recht der freien Meinungsäußerung. Das Papier erwähnt 22mal die Worte „Rassismus und Rassendiskriminierung“ und kein einziges Mal das Wort „Kritik“. Es zeigt nicht einmal einen Ansatz, Rassendiskriminierung und Kritik zu unterscheiden. Auch die Äußerung von Missbilligung weiterer Zuwanderung ist eine Meinungsäußerung und Ausdruck einer legitimen Auffassung. Nach derzeitigem Amts- und Mediengebrauch in Deutschland würde der rigorose Gebrauch des Rassismus-Begriffs aber bedeuten, dass auch berechtigte Kritik an Menschen afrikanischer Abstammung und ihren Herkunftsländern als Rassismus untersagt würde. (So wie es in Deutschland oft mit berechtigter Kritik an anderen Minderheiten praktiziert wird.)

Sie beschneiden das Recht der EU Staaten, ihre Außengrenzen zweckmäßig zu sichern und bei Einreisekontrollen mit Täterprofilen zu arbeiten (Ziff. 17 und 19).

Sie beschneiden das Recht der EU Staaten, ihre Territorien präventiv gegen Störungen und Verbrechen zu sichern und dazu Daten aufgrund ethnischer Herkunft zu erheben (Ziff. 10).

Abschließendes Urteil

Das hier behandelte Papier ist janusköpfig. Nach vorn zeigt es die löbliche Absicht, die Menschen afrikanischer Abstammung in Europa vor Hass und Benachteiligungen zu schützen. Die Rückseite des Januskopfs zeigt die Absicht des EU Parlaments, die weitere Einwanderung von Afrikanern in die Staaten der EU zu fördern.

Ein solches Papier ohne vorherige – oder zumindest nachherige – mediale Veröffentlichung zu beschließen, zeigt nicht nur die Bevölkerungsferne des EU Parlaments, sondern auch die Gefahr des Missbrauchs, die einer repräsentativen Demokratie innewohnt, wenn die handelnden Parlamentarier in einer „Blase“ leben.

Es schmerzt, zu lesen, dass das Parlament, welches das noch weiße Europa zu vertreten hat, in seiner o. a. „Publikumsbeschimpfung“ ausschließlich die Interessen der Zuwanderer vertritt, und mit keiner einzigen Bemerkung und keinem Hinweis auf die Belange der gastgebenden EU Staaten und ihrer Völker eingeht.

Die Frage, die zum Schluss bleibt, ist, wen vertritt das EU Parlament eigentlich?

Abschließende Bemerkung

Es sei mir eine abschließende Bemerkung erlaubt. Ich habe mir meine obige Stellungnahme aus eigener Anschauung erlaubt. 1962 habe ich an einem Seminar im Auswärtigen Amt teilgenommen, wo uns jungen Teilnehmern dieselben optimistischen Entwicklungsaussichten für Afrika vorgetragen worden sind, wie sie heute aus dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit verbreitet werden. Welchen Fortschritt hat das Afrika südlich der Sahara in den vergangenen 58 Jahren gemacht? 1964 habe ich im heutigen Namibia als einziger Weißer unter eingeborenen Arbeitern im Straßenbau gearbeitet und einen Einblick in die Arbeitsphilosophie meiner dortigen Mitarbeiter gewonnen. 1965 bin ich mit einem Entwicklungshelfer durch die Transkei gepilgert und habe mir alle seine Frusterlebnisse bei seinen Aufbaubemühungen angehört. Ich habe Angola, Süd-West-Afrika (heute Namibia), Südafrika, Nordrhodesien (heute Sambia), und Südrhodesien (heute Simbabwe) zu Ende der Kolonialzeit bereist; einige davon 25 Jahre später noch einmal.

Alle von mir besuchten Länder hatten nach dem Ende der Kolonialherrschaft die Chance, sich auf dem Fundament ihres damaligen Entwicklungsstandes eine Zukunft aufzubauen. Das damals wirtschaftlich blühende Sambia zum Beispiel ist heute bis zur öffentlichen Armut heruntergewirtschaftet. Aus etlichen Berichten von Entwicklungshelfern weiß ich, dass ihre einst fertig übergebenen Projekte fünf Jahre später Schrottwert hatten. Das mögen vielleicht die sprichwörtlichen Ausnahmen gewesen sein. Ich habe im letzten Jahrzehnt Kontakt in das Umfeld der Afrikanischen Union gehabt und dort erfahren, dass die AU und die afrikanischen Staaten, trotz umfangreicher eigener Bodenschätze so gut wie keine nennenswerten, eigenfinanzierten Anstrengungen zur Entwicklung ihres Kontinents unternommen haben.

Kommentare hierzu von Afrika-Touristen und Patenschaftsbesuchern und Konferenzteilnehmern in Afrika werden mir wahrscheinlich nicht zu neuen Einsichten verhelfen.

Generalmajor a.D. Gerd Schultze-Rhonhof

Gerd Schultze-Rhonhof wurde am 26. Mai 1939 in Weimar geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums und Abitur in Bonn trat er 1959 in die Streitkräfte ein und wurde zum Panzeroffizier ausgebildet. 1964 und 1965 unternahm er eine halbjährige Studienreise durch Namibia und Südafrika. Nach dreijähriger Verwendung als Chef einer Panzerkompanie absolvierte er die Generalstabsausbildung. Dem folgten Einsätze als Generalstabsoffizier im NATO-Hauptquartier der Armeegruppe NORTHAG, in der Truppe, im Verteidigungsministerium und eine Verwendung als Kommandeur eines Panzerbataillons. Danach bildete Schultze-Rhonhof selbst vier Jahre lang angehende Generalstabsoffiziere an der Führungsakademie der Bundeswehr aus, ehe er nacheinander Kommandeur einer Panzergrenadierbrigade, der Panzertruppenschule, der 3. und der 1. Panzerdivision und des Wehrbereichs Niedersachsen/Bremen wurde. Als letzte Dienstaufgaben leitete Generalmajor Schultze-Rhonhof die erste „Partnership for Peace“-Übung der NATO in Ungarn und nahm als Beobachter an einem ägyptisch-amerikanischen Manöver in der Libyschen Wüste teil.

Schultze-Rhonhof schied 1996 auf eigenen Antrag aus der Bundeswehr aus, weil er die Mitverantwortung für die Folgen einer unangemessenen Verkürzung der Wehrdienstdauer auf 10 Monate nicht mittragen wollte. Seitdem hat er 1997 das Buch „Wozu noch tapfer sein?“ , 2003 das Buch „1939, Der Krieg, der viele Väter hatte“ und 2008 das Buch „Das tschechisch-deutsche Drama 1918-1939″ und weitere Buch- und Zeitungsbeiträge geschrieben. Als letztes hat er 2013 das amerikanische Buch des Authors J.V. Denson “ A Centrury of War“ ins Deutsche übersetzt und unter dem Titel “ Sie sagten Freiden und meinten Krieg“ herausgegeben.

Er hat außerdem zahlreiche Vortragsreisen in Deutschland, Österreich, der Schweiz, der Türkei, Italien und Peru unternommen. 1996 wurde Schultze Rhonhof mit dem Freiheitspreis der Stiftung „Demokratie und Marktwirtschaft“-München und dem Couragepreis des „Verbandes der privaten Wohnungswirtschaft“-Hannover, 2012 mit dem Kulturpreis der Landsmannschaft für freie Publizistik ausgezeichnet.

Gerd Schultze-Rhonhof ist verheiratet, hat drei verheiratete Töchter und neun Enkelinnen und Enkel, und er lebt in Haldensleben bei Magdeburg.

Autor des Buches:

Die Deutschen Burschenschaften

von Klaus Kunze

Die Deutschen Burschenschaften

Rettungskapseln freien Denkens

Die allgemeinpolitische Bedeutung von Burschenschaften und anderen Studentenverbindungen tendiert heute gegen null. Ihre Funktion als Rückzugsort freier Gesprächskultur und demokratischer Willensbildung ist aber unersetzlich.

Wenn es eine Tradition der Burschenschaften gibt, besteht sie im Verbotenwerden. Verboten wurden sie mit den Karlsbader Beschlüssen von 1819, und 1935 wurden sie gleichgeschaltet. Sie mußten als „Kameradschaften“ Teil des NSDStB werden. Heute stehen sie wiederum unter massivem Druck, der von Linksextremisten in SA-Manier ausgeht und sich auch deren Methoden bedient.

Immer waren es das freie Denken und die innere Demokratie, die für ihre Gegner unerträglich waren. 1819 forderten Burschenschaften ein geeintes Deutschland mit Rede- und Pressefreiheit und vieles anderes, das heute unsere demokratische Grundordnung bildet. Weil aber die Zensur und die Kleinstaaterei zum Kernbestand fürstlicher Herrschaft zählten, wurden Burschenschaften rigoros verfolgt und ihre Mitglieder oft eingekerkert.

Es bedurfte der Revolution von 1848, um schwarz-rot-gold als Farben der Deutschen Burschenschaft und der Einheitsbewegung zu legalisieren. Das Frankfurter Paulskirchenparlament 1848 wurde von Burschenschaftern dominiert. Aus dieser Tradition und diesen Farben konstituierte sich 1949 die Bundesrepublik Deutschland.

Germania, 1848 (Philipp Veit 1793-1877)

Die Germania ist ein Gemälde, das Philipp Veit (1793–1877) im März 1848 als Nationalallegorie Deutschlands geschaffen hat. Während der Frankfurter Nationalversammlung hing es in der Paulskirche vor der Orgel auf der Empore. Auf dem Gemälde trägt die Personifikation Germania die deutsche Fahne (Schwarz-Rot-Gold als Symbol deutscher Einheit), einen Eichenlaubkranz (Treue), das Reichsschwert (Wehrhaftigkeit) sowie einen Hanf-Zweig (als Friedenssymbol). Auf Germanias Brust ist der Doppeladler in Schwarz auf Gold des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation abgebildet, der seit der Regierungszeit Kaiser Sigismunds in der Form verwendet wurde. Die hinter ihr aufgehende Sonne soll eine neue Zeit symbolisieren und ihr Blick ist in eine unbestimmte Zukunft gerichtet. Links befinden sich zu ihren Füßen gesprengte Fesseln, ein Symbol für die Freiheit. Heute befindet sich das Gemälde im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Eine Kopie davon findet man im Haus der Geschichte in Bonn: Die Germania ist seit Jahrhunderten die nationale Personifikation Deutschlands.

Ein vierfarbiger Druck des Gemäldes im Format 29,7 x 42 cm (DIN A3) kann beim Lindenbaum-Verlag bestellt werden: https://www.lindenbaum-verlag.de/contents/de/d39.html#p130

Auch ab 1933 war das Prinzip gleicher Stimme im Konvent, also der Mitgliederversammlung der jungen Burschen, unvereinbar mit dem nun geforderten Führerprinzip. Offen zu sprechen wurde überall zum Risiko. Band und Mütze als traditionelle Abzeichen der Studentenverbindungen waren wieder einmal verboten. Viele trugen ihr Burschenband unsichtbar unter der Pflichtuniformierung. Man traf sich heimlich, wenn man ein offenes Wort reden wollte.

Wann immer ein kleinkarierter Zeitgeist die Geistesfreiheit größerer Geister durch Zensur und Strafdrohungen unterdrückte, bildeten Burschenschaften und andere Studentenverbindungen geistige Widerstandszellen. Emotionaler Nukleus der Widerborstigkeit war und ist eine unbändige idealistische Freiheitslust. In Wilhelm Baumbachs Burschenschafterlied von 1879 heißt es bezeichnend;

Freiheit duf’tge Himmelsblume,

Morgenstern nach banger Nacht!

Treu vor deinem Heiligtume

steh’n wir alle auf der Wacht.

Was erstritten unsre Ahnen,

halten wir in starker Hut;

Freiheit schreibt auf eure Fahnen,

für die Freiheit unser Blut!

Wilhelm Baumbach, Burschenschafterlied, 1879

Und auch heute bilden Burschenschaften wieder Fluchtburgen der bedrohten Geistesfreiheit. Hier kann man auch heute noch ein freies Wort reden, jede Meinung vertreten, auch mal ins Unreine reden, vielleicht nach langer Diskussion den eigenen Standpunkt verändern und neue Gesichtspunkte kennenlernen.

Hier gelten keine Paragraphen gegen verbotene Behauptungen und Meinungen, hier herrscht kein sozialer Druck, lieber den Mund zu halten und droht kein Karriereknick, wenn man einmal doch ein Wörtchen zuviel gesagt hatte. Wer als patriotischer Student Wert legt auf lebenslange Freundschaft und einen Ort geistiger Freiheit, geht zur Burschenschaft – wohin auch sonst? Für religiös oder weltanschaulich anders ausgerichtete Studenten gibt es ihnen entsprechende Studentenverbindungen.

Wenn die Geistesfreiheit bisher in Deutschland bedroht wurde, dann vom Staat selbst und direkt. Dieser hatte sich 1949 geschworen und verpflichtet:

Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz

Sie findet inzwischen doch wieder statt. Nur ihre Methoden haben sich gewandelt. Art.5 GG regelt nur eine Selbstverpflichtung des Staates im juristischen Sinne. An andere mögliche Zensoren dachte man 1949 nicht. Früher fand freie Rede in Versammlungen statt und wurde in Druckwerken verbreitet. Das Grundgesetz verbietet deren staatliche Vorzensur: Man muß Gedrucktes nicht dem Staat zur Vorprüfung vorlegen.

Im digitalen Zeitalter ist das alles Schnee von gestern. Heute findet Zensur mit der Löschtaste von Facebook & Co statt. Der Staat hat seine Leute. Wie im Iran nicht der Staat selbst gegen Abweichler vom rechten Glauben vorgehen muß – die schiitischen Revolutionsgarden erledigen das Nötige für ihn – muß auch unser Staat nicht gegen den Buchstaben seiner Verfassung verstoßen, um Meinungen zu unterdrücken. Es waren auch am 20.Mai 1933 nicht staatliche Einsatzkräfte, als Gewerkschaftshäuser gestürmt und besetzt wurden. Der Staat unter seinem neuen Kanzler mußte sich die Finger gar nicht selbst schmutzig machen. Das erledigte gern die SA als seine Parteiarmee für ihn.

Meinung wird heute weit überwiegend digital gebildet und verbreitet. Die Gewerkschaftshäuser und der Stammtisch haben als relevante soziale Phänomene ausgedient. Es sitzt auch kein Herr im Schlapphut mehr an einem Nebentisch und macht sich Notizen. Noch 1974 mahnte mein Verwandter mich in der HO-Gaststätte in Groitzsch zum leiseren Sprechen, weil einer am Nebentisch „von der SED“ sei.

Dafür gibt es heute ein Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Es wird zur Zeit verschärft und verpflichtet Internetanbieter, permanent Heerscharen juristisch unbedarfter kleiner Zensoren zu beschäftigen. Wegen Bußgelddrohungen des Staates in Millionenhöhe löschen diese, was das Zeug hält, und zwar meistens ohne Sinn und – juristischen – Verstand. Die absehbare Folge sind inzwischen zahllose Gerichtsurteile, durch die Facebook verpflichtet wurde, gelöschte Beiträge wieder zuzulassen.

Diese Art von Meinungszensur ist heute umfassender als historische Zensur jemals sein konnte. Sie greift nämlich tagtäglich schwerwiegend in das wichtigste soziale Kommunikationsmedium ein. Damit sie einzuschüchtern vermag, werden gewisse, die Meinungsfreiheit eingrenzende Strafbestimmungen immer weiter ausgedehnt, so daß es hoher juristischer Kunst bedarf, zu prognostizieren, ob eine beabsichtigte öffentliche Äußerung noch erlaubt oder schon verboten ist. Selbst am Ende vor Gericht sind sich die Instanzen da nicht immer einig.

1825: „Wie lange möchte uns das Denken wohl noch erlaubt bleiben?“

Der staatlich erwünschte Effekt besteht darin, daß immer mehr Menschen davor zurückschrecken, offen ihre Meinung zu publizieren. Entsprechende Meinungsumfragen erhärten diese Feststellung. Gegen alle diese staatlichen Umtriebe ist eine Studentenverbindung machtlos. Sie vermag aber geistige Rückzugsorte zu bilden für junge Menschen, die sich noch nicht völlig haben einschüchtern lassen und die ihre Meinungen nicht bei ARD und ZDF abholen.

Wie in einem totalitären Staat will unsere Obrigkeit genau wissen, wer es ist, der sich geäußert hat, und was er sonst noch so treibt, schreibt oder denkt:

In ihrem Entwurf für ein Gesetz gegen Rechtsextremismus und Haßrede hat die Bundesregierung sich auch auf einen neuen Behördenanspruch auf Paßwörter zu Onlinediensten geeinigt. Das geht aus einem am Freitag vorgestellten Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums hervor. Künftig können demnach Behörden unter bestimmten Voraussetzungen von Diensten wie Google oder Facebook verlangen, Paßwörter zu Kundenkonten zu erlangen.

Hendrik Wieduwilt, FAZ, 15.12.2019

Wie sich bestimmte Erreger in einem Organismus abkapseln und sich  jederzeit bei besserer Gelegenheit wieder vermehren können, bilden Verbindungshäuser heute oft Samenkapseln geistiger Unabhängigkeit gegen alle Versuche einer Meinungsgleichschaltung. Nicht jeder Verbindungsstudent ist zwar intellektuell ein großes Licht. Es gingen aber aus solchen Verbindungen immer wieder im Düstern noch leuchtende Lichter hervor: Lichter der Freiheit und der geistigen Unabhängigkeit.

Darum sind sie allen Verfechtern „ewiger Wahrheiten“ auch verhaßt bis aufs Blut und werden von den staatlich nicht verbotenen Anti-Körpern eines angeblichen Anti-Faschismus immer wieder gewaltsam angegriffen. Einzelne Burschen werden körperlich angegriffen, Autos brennen ab, Häuser werden beschmiert und beschädigt.

Aber an persönlichem Mut und an Standhaftigkeit hat es Burschenschaftern bekanntlich nie gemangelt.

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

NEU:

Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Hier erhältlich!

Klaus Kunze: Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen. Von der Vormundschaft zum Genderismus. Hier erhältlich!

Die Birkler singen Balladen, Minnelieder und Volkslieder

von Hanno Borchert

Die Birkler singen Balladen, Minnelieder und Volkslieder

Vom Hohen Mittelalter bis in die Gegenwart

Deutschlands Lieder der Heimat und des Volkes sind sozusagen ein musikalisches Handbuch der eigenen Kulturgeschichte, damit auch ein Spiegelbild der politischen Geschichte. Sie sind darüber hinaus eine vielfach gegliederte Landeskunde in Wort und Ton. Volkslieder stellten immer das unmittelbare Leben so dar, wie es im Volk empfunden wurde und waren somit immer authentische Stimmen der Menschen. Und so haben alle Zeiten, die „guten“ wie die „schlechten“, ihre Spuren hinterlassen. Das wußte schon Johann Gottfried Herder, der übrigens den Begriff „Volkslied“ prägte. Aus seiner Sammlung „Stimmen der Völker in Liedern“ sind folgende Zeilen entnommen:

„Euch weih ich die Stimme des Volkes, der zerstreueten Menschheit, ihren verhohlenen Schmerzen ihren verspotteten Gram; und die Klagen, die niemand hört, das ermattende Ächzen des Verstoßenen, das Niemand im Schmuck sich erbarmt. Laßt in die Herzen sie dringen, wie wahr das Herz sie hervordrang, laßt sie stoßen den Dolch in des Entarteten Brust.

Aber ich weih´ Euch auch die Liebe, die Hoffnung, und den geselligen Trost, und den unschuldigen Scherz, und den fröhlichen Spott und die helle Lache des Volkes, über erhabnen Dunst, über verkrüppelnden Wahn; Weih die Entzückung Euch, wenn Seel´ an der Seele sich anschließt, und sich wieder vereint, was auch die Parze nicht schied; Weih´ Euch die Wünsche der Braut, der Eltern zärtliche Sorge, was in der Brust verhallt, was in der Sprache verklingt.“

Johann Gottfried Herder
Johann Gottfried Herder, Gemälde von Anton Graff, 1785, Gleimhaus Halberstadt

Entsprechend seiner Devise „Zurück zu den Quellen“, in der die „Natur“, das „Originale“, das Genie der Völker“ liege, war es Herders Anliegen, die Lieder der Jahrhunderte dem Volke wieder zugänglich zu machen. Denn zwischen den Zeilen der Lieder des Volkes erklingen so wichtige Fragen wie „Was sind wir? Wo kommen wir her, und wo gehen wir hin?“ Das erzeugt eine besondere Aufmerksamkeit für das spezifisch Volkskulturelle und damit auch nach der Frage der eigenen Identität. Damit aber sind Volkslieder im Kern revolutionäre Lieder. Ist das vielleicht ein Grund, warum wir heute in Deutschland kaum mehr Volkslieder singen oder zu hören bekommen? Unverkennbar ist doch, daß sie de facto aus den Schulen, den Landesfunkanstalten, ja überhaupt aus dem öffentlichen Leben verschwunden sind. Und trotzdem ist das Volkslied nicht tot, im Gegenteil, es gibt vielerorts wieder Ansätze, sich dem Volkslied zu widmen, da das Interesse vieler Menschen für ihre Heimat, gerade angesichts der allgemein um sich greifenden Entfremdung, wieder geweckt worden ist.

So auch bei den „Birklern“, vierzehn jungen Menschen, aus dem „Bündischen“ kommend, die nach ihrem CD-Debüt „Hörst Du nicht die Bäume rauschen“ mit ihrer nachfolgenden Scheibe „Nur der Himmel und der Wald“ erneut die Vielfalt, Kraft und Poesie von Volksliedern erklingen ließen. Dazu wurde, wie der Begleittext zur CD Auskunft gibt, „tief in den Liederbüchern gegraben“. Und so spannt sich der Bogen der zu hörenden Balladen und Lieder vom Mittelalter bis in die Gegenwart.

„Under da linden“, einer der ältesten Texte dieser Zusammenstellung, stammt aus dem 12. Jahrhundert vom wohl bedeutendsten deutschen Lyriker des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, und wurde in den 20er Jahren ganz im Stile des Minnesangs neu komponiert, da nur der Text die Wirren der Jahrhunderte überdauerte.

Da ist die „Ballade von Hester Jonas“, Ehefrau des Peter Meurer, die am 24. Dezember 1635 an der Windmühle zu Neuss als Hexe verbrannt wurde. „Hester Jonas ist eine der alten Weisen, die das inhumane volksfeindliche Treiben der katholischen Kirche im Mittelalter thematisieren. Die Hexenverfolgung hatte ihren Höhepunkt in der Zeit von 1490-1650, als die katholische Kirche, die erste geistliche und weltliche Macht, durch die Reformation und die Bauernkriege ins Wanken geriet. Auch die „Ballade vom Hexenhammer“ erinnert an die schweren Zeiten, insbesondere für nonkonforme Frauen, und wurde 1974 vom linken Liedermacher Walter Moßmann geschaffen, der damit gleichzeitig geistige Parallelen zwischen dem „Radikalenerlaß“ der Innenminister von 1973 und dem Hexenhammer-Leitfaden der katholischen Kirche des Mittelalters herzustellen wußte.

Die Weberaufstände 1844 in Schlesien wurden zum Symbol des Aufstandes gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit. Diese endeten jedoch im Blute der Aufständischen und nicht der Unterdrücker, was Heinrich Heine dazu bewog, das Lied „Im düsteren Auge keine Träne“ gegen Ausbeutung und Unterdrückung mit dem dreifachen Weberfluch auf Gott, König und das Vaterland zu schreiben. „Ein Fluch dem falschen Vaterlande, wo nur gedeihen Schmach und Schande, wo jede Blume früh geknickt, wo Fäulniß und Moder den Wurm erquickt. Wir weben, wir weben!“

Es ist manchmal wirklich erstaunlich, wieviele Aussagen von Volksliedtexten in erschreckendem Maße auf die heutigen Verhältnisse übertragbar sind.

Weiter begegnen wir auf unserer musikalischen Reise den Romantikern Joseph von Eichendorff (Text) und Friedrich Glück (Weise) mit dem Lied „In einem kühlen Grunde“. Angeblich soll es dieses Volkslied sein, das die „deutsche Volksseele“ am meisten anspricht. Anfang der 30er Jahre erlangte es über diese hinaus durch die Vertonung der phantastischen „Comedian Harmonists“ Weltruhm.

Völlig anderer Natur ist der aus der wilhelminischen Ära stammende Hamburger plattdeutsche Gassenhauer „An der Eck steiht´n Jung mit´n Tüdelband“. Frisch und unbekümmert wird der jüngere Hörer mit einem längst vergessenen, jahrhundertealten Kinderspiel, dem Tüdelband, bekannt gemacht. Die etwas Älteren unter den (zumindest norddeutschen) Hörern werden sich sicherlich an den Holz- bzw. Eisenring erinnern, den man mit ein paar schnellen Schlägen mit einem Stock zum Rollen brachte und ihn damit möglichst lange durch die Straße(n) trieb.

Viele weitere der insgesamt 21 Lieder wären zu nennen, so wie z.B. „Es wollt ein Meyer meyen“ von der Gruppe „Zupfgeigenhansel“ oder das in bündischen Kreisen beliebte „Was ließen jene“ von Olka, geschrieben auf eine wunderbare barocke Lautenmelodie. Dazu gesellen sich einige Volksweisen aus Finnland.

Eine Reise nicht ausschließlich, aber vorwiegend durch die deutsche Volksliedgeschichte also, und gar manchen Dichter lernt man von einer ganz anderen Seite kennen, als es zumindest noch die Schulbücher der älteren Generation zu erzählen wußten. Für viele wird es bestimmt die erste Begegnung sein.

Die Birkler haben mit ihrer klingenden Sammlung einen kostbaren Liederschatz, abseits vom allgemeinen Kulturbetrieb, liebevoll zusammengetragen. Aus der reichhaltigen Auswahl der Instrumente seien hier nur die „Exoten“ wie Harfe, Tinwhistle oder Drehleier genant, die die Intonierung so reizvoll und trotzdem nicht aufdringlich erscheinen lassen.

Hervorzuheben bleibt, daß aus der Gruppe heraus zwei eigene Weisen entstanden sind. Die eine davon, „Das Fähnlein im Wind“ (Text siehe unten) geht sowohl textlich als auch musikalisch weit über den klassischen Volksliederrahmen hinaus und greift ein wohl zu allen Zeiten aktuelles Thema auf: den Opportunismus der Menschen. In treibendem Rhythmus, mit mehrstimmigem Chorsatz, getragen von Trommel und Klavier, kristallisiert sich hier ein eigenständiger faszinierender Stil heraus, der für die Zukunft noch einiges von der Gruppe erwarten läßt. Einfach Klasse! Solche Lieder sind es, die den Hörer mitreißen können und dazu angetan sind, den revolutionären Geist einer vielleicht neuen Musikszene zum Leben zu erwecken. Angesichts der Tatsache, daß die Menschen meist nur noch mit Massenkonfektion Marke „Volksdümmliche Hitparade“ abgespeist werden, was bezeichnenderweise nicht als Musikkultur verkauft wird, sind die Birkler genau der richtige Kontrapunkt.

Das Fähnlein im Wind

Es riss ihn hinauf in schwindelnde Höh’n
zu den Spitzen der Berge, und er fand es schön.
Es zog ihn immer höher zum Lichte der Sonne,
weit über den Wolken schwebt er voll Wonne.

Und der Wind dreht sich, er muß sich entscheiden:
Eine Fahne im Wind oder den Absturz erleiden.

Zunächst wankte er, dann gab er sich auf.
Er ließ sich treiben in die Höhe hinauf.
Dann ein and’rer Wind, er dreht sich bald,
vergaß sich selber, ihm wurde es kalt.

Und der Wind dreht sich, er muß sich entscheiden:
Eine Fahne im Wind oder den Absturz erleiden.

Er ließ sich ziehen im Strome der Winde,
war ein fallendes Blatt, das dem grünen Baum entschwindet.
Da wacht‘ er auf wie ein willenlos Kind,
vor der sengenden Hitze, bevor das Leben verrinnt.

Und er hat sich entschieden, als die Sonne ihn stach,
dem treibenden Wind zu entsagen,
und das Fähnlein im Winde zerbrach.

Worte und Weise: Björn Adam

„Nur der Himmel und der Wald…“ Balladen, Minnelieder, Volkslieder

Hanno Borchert

Hanno Borchert, Cuxhavener Jung von der Elbmündung, Redakteur der alten wie neuen „wir selbst“, zwischendurch Redakteur der „Volkslust“. Ausgebildeter Handwerker mit abgeschlossenem Studium der Wirtschaftswissenschaften, der gerne liest, wandert, musiziert, malt und sich mit der Kunst des Graphik-Designs beschäftigt. Aktiver „Alter Herr“ der „Landsmannschaft Mecklenburgia-Rostock im CC zu Hamburg. Parteilos. Ist häufig auf Konzerten quer durch fast alle Genres unterwegs. Hört besonders gerne Bluegrass, Country und Irish Folk und darüber hinaus derzeit u.a. Gerhard Gundermann, Herbert Pixner Projekt, Andreas Gabalier, Rammstein, Delvon Lamarr Organ Trio, Jefferson Airplane, Velvet Underground, Hannes Wader, Jimmy Rosenberg und den Nachwuchskünstler Tom Mouse Smith.

Ökologie, Naturschutz und Nachhaltigkeit

von Florian Sander

Ökologie, Naturschutz und Nachhaltigkeit als konservative Grundwerte

Für den Paradigmenwechsel zu einer unitarischen Ethik

Ist aktuell von Ökologie, Nachhaltigkeit, Umwelt- und Naturschutz die Rede, ist der Gedanke an Klimawandel und Klimaschutz nicht fern. Nicht erst seit Greta und den einschlägigen sozialen Bewegungen, die das Thema ganz nach oben auf die politische Agenda gerückt haben, dominiert die Klimaschutzfrage die Gemüter, und schafft neue inhaltliche Trennlinien zwischen den Staaten, politischen Parteien und anderen politischen Akteuren. Auch innerhalb konservativer Parteien wie der AfD sorgt die neue Debatte für reichlich Diskussionsstoff. Eine diskursive Einengung, im Zuge derer der – eigentlich sehr notwendige – Fokus auf andere Bereiche und Fragen des Umwelt- bzw. Naturschutzes mehr und mehr verloren geht. So kann es nicht weitergehen.

Denn: Egal wie man nun zu der Frage steht, wie hoch der menschliche Anteil am Klimawandel und damit auch wie groß dessen Verantwortung für eine Bekämpfung dessen ist, ist festzustellen, dass der menschliche Umgang mit der Natur auch heutzutage alles andere als sorgsam oder rücksichtsvoll ist. Das Problem beginnt, wenn man es genau nimmt, bereits bei der Semantik: Geht es denn nun um Umweltschutz – oder nicht eher um Naturschutz?

Naturschutz statt lediglich Umweltschutz

Betrachtet man den Begriff der Umwelt einmal genau, so wird man feststellen, dass er durch und durch anthropozentrisch ist. Wer die Natur, den Planeten, den Kosmos semantisch zur Umwelt transformiert, der reduziert sie damit genau genommen auf ihre Rolle für uns, für den Menschen, der immer noch und weiterhin im Zentrum der Betrachtung steht und um den sich alles dreht, wie sich für die Dogmatiker früherer Zeiten die Sonne um die Erde drehte. Im Zentrum der Mensch – in christlicher Auslegung: Die „Krone der Schöpfung“, die sich „die Erde Untertan“ machen solle. Um ihn herum: Alles andere. Die Umwelt.

Der Begriff des Naturschutzes ist genau genommen der respektvollere und wertfreiere: Unbeeinträchtigt von der christlichen Dogmatik stellt er auf den Schutz der Natur ab, zu der der Mensch in gleicher Weise gehört wie der Baum oder das Insekt, in der er weder eine untergeordnete noch eine herausgehobene Rolle gegenüber anderen Erscheinungen des Lebens einnimmt. Eine Dichotomie im Sinne von „hier der Mensch, da die Umwelt“ bzw. „hier wir, da alles andere“, wie sie der Umwelt-Begriff impliziert, gibt es so eben nicht. Was es gibt, ist eine Natur, eine einzige, die nicht nur regional, nicht nur global, nicht nur irdisch ist, sondern in der Tat kosmisch und als solche schützenswert, da sie Leben bedeutet und beinhaltet.

Politisch resultiert aus diesen Überlegungen die grundsätzliche Frage, wieso man überhaupt ökologische Politik betreiben solle, was eigentlich das Leitmotiv, die primäre Intention dahinter ist. Wer sie auf den reinen Umweltschutz reduziert, der erklärt damit de facto die Notwendigkeit ökologischer Politik aus egoistischem Denken: Es gilt, die Umwelt zu schützen, um den Lebensraum des Menschen nicht zu schädigen. Wer hingegen Naturschutz betreiben will, der will die Natur um ihrer selbst willen schützen: Sie hat demnach als solche ihren Wert, ob sie nun menschlicher Lebensraum ist oder nicht, ob sie für den Menschen eine Funktion erfüllt oder nicht. Leben ist als solches wertvoll – ob menschlich oder nicht.

Eine unitarische Ethik der Ökologie

Hinter dieser Einsicht steht der notwendige Paradigmenwechsel von einer christlichen hin zu einer unitarischen ökologischen Ethik, welche die Natur als Teil der Unitas, der All-Einheit, als Trägerin des Göttlichen als schützenswert ansieht, anstatt dem Menschen eine „krönende“ Sonderrolle im Rahmen einer göttlichen „Schöpfung“ zuzugestehen, die aber im Grunde nur als diesseitiges „Jammertal“ gesehen wird, welches dem paradiesischen Jenseits gegenübersteht.

Während die anthropozentrische christliche Auslegung stets gut mit dem wachstumsorientierten Neoliberalismus harmonierte – insbesondere in der protestantischen Interpretation, deren Korrelation zum „Geist des Kapitalismus“ von keinem Geringeren als Max Weber aufgezeigt wurde – neigte die konservative Auffassung, die im deutschen Idealismus, in der Romantik, im mystischen Denken wurzelt, seit jeher eher zur Ganzheitlichkeit. Hier wird die Natur um ihrer selbst willen gedacht und nicht auf ihre biologische – oder gar nur ökonomische – Funktion für den Menschen reduziert. Konservatismus bedeutet, ein ökologisches Bewusstsein um der Natur selbst willen zu haben, es nicht rein „pragmatisch“ zu verstehen.

Diese zunächst sehr philosophisch-ethisch-theoretisch anmutende Unterscheidung birgt durchaus viele sehr praktische Implikationen für ökologische Politik. Ist etwa vom notwendigen Schutz der Regenwälder vor Rodung und Abholzung die Rede, so reicht es eben von dieser Warte her nicht aus, auf die natürliche Funktion der Flora für die Sauerstoffbildung zu verweisen. Die Flora ist eben stattdessen um ihrer selbst schützenswert. Der jeweilige südamerikanische Baum hat eben selbst, als solcher ein Anrecht auf Leben, und nicht nur weil er „der Umwelt dient“. Genauso wenig lässt sich der Wert des Hambacher Forsts auf „den Klimawandel“ reduzieren – vielmehr ist er zunächst einmal um seiner selbst willen existenzberechtigt! Eine Position, die für manche allzu „schöngeistig“ oder idealistisch erscheinen mag, die aber im tiefsten Sinne des Wortes konservativ ist, da sie auf die Bewahrung des Bewahrenswerten setzt.

Biodiversität und Artenschutz

In diesem Kontext ist auch das Stichwort der Biodiversität relevant. So wie Konservative etwa auch die Vielfalt der Kulturen und souveränen Nationen in Europa zu schätzen wissen, hat auch die Artenvielfalt der Natur einen Eigenwert – egal, inwieweit der Mensch nun beispielsweise auf einen bestimmten Insektenbestand angewiesen ist oder nicht. Daher ist politisch auf ihre Bewahrung hinzuwirken.

Und auch diese Erkenntnis und Positionierung gilt völlig unabhängig von der oft diskutierten Frage des menschengemachten Klimawandels. Durchaus seriöse, des Lobbyismus unverdächtige Quellen sprechen bei 14.000 Wirbeltier-Populationen von einem Rückgang der Bestände um fast 60 % während der letzten 40 Jahre. Besonders Amphibien und Süßwasserfische sollen hier betroffen sein. Auch die teils drastischen Entwicklungen im Insektenbestand (u. a. Bienensterben) sind weitläufig bekannt. Und auch AfD-Vertretern stünde es durchaus gut zu Gesicht, auf den Schutz von Insekten und Vögeln nicht nur zu sprechen zu kommen, wenn es um Argumente gegen Windräder geht.

Als Ursachen für die beschriebenen Missstände werden u. a. die bereits oben problematisierte Abholzung und Rodung von Wäldern, (wodurch auch immer verursachte) Klimaveränderungen, Stickstoffbelastungen von Gewässern und erhöhte Kohlendioxid-Konzentration in der Atmosphäre genannt. Auch der vorletzte Punkt sollte aufhorchen lassen, da eben solche Stickstoffbelastungen auch durch Autoabgase zustande kommen. Es braucht also wahrlich keinen menschengemachten Klimawandel, um Autoabgase als ökologisch problematisch einzustufen. Ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs zwecks Minderung des Individualverkehrs etwa ließe sich also durchaus auch als konservative Position verstehen.

Die Notwendigkeit des Schutzes der Fauna manifestiert sich nicht nur in der Frage der Biodiversität und der Artenvielfalt, sondern auch im Tierschutz mit Bezug zur Tierhaltung in der Landwirtschaft. Jeglicher Form der Tierquälerei, sei es nun in Form entsprechender Nutztierhaltung oder gar von Tierversuchen, gilt es auch politisch energisch entgegenzuwirken, um den Schutz der Tiere selbst willen. Auch hier wird der Zusammenhang zu konservativen Positionen deutlich, wenn man etwa an den Brauch des Schächtens denkt. Leidensfähiges Leben gilt es vor allen menschlichen Handlungen zu bewahren, die ein eben solches Leid bewirken können.

Nachhaltiger Konsum und Zero Waste

Auch mit Blick auf die Schädigung unseres Ökosystems durch Müll – insbesondere Plastik – ließen sich schnell konservative Positionierungen herausschälen, die aber bisher alles andere als deutlich genug artikuliert worden sind. Und auch hier geht es eben nicht nur darum, dass lediglich „die Landschaft verschandelt“ wird – auch derlei Formulierungen stellen wieder primär auf das ästhetische Empfinden des Menschen ab, anstatt die Beeinträchtigung der Natur selbst in den Blick zu nehmen. Anders gesagt: Es geht bei der notwendigen Vermeidung von Müll eben nicht nur darum, dass dem Menschen nicht der wohlige Anblick der Natur beim Waldspaziergang verdorben wird, sondern um den Schutz der Natur selbst.

Einer der wesentlichsten Unterschiede zwischen Konservatismus und Neoliberalismus manifestiert sich in der Ablehnung der Konsumgesellschaft durch ersteren. Konservativ leben bedeutet eben gerade die Ablehnung der Vorstellung grenzenlosen Wirtschaftswachstums und zügellosen Lebensstils, die Ablehnung von Dekadenz, Konsum und ökonomisiertem Materialismus, zugunsten einer ganzheitlichen, disziplinierten, bewussten Haltung, im Rahmen derer sich der Mensch eingebettet weiß in eine Natur, die nicht nur seinen Lebensraum darstellt und seine Heimat symbolisiert, sondern die eben auch, ohne jede Übertreibung, eine Manifestation des Göttlichen ist.

Hier gilt es sich von neokonservativen Autoren à la Tichy, Maxeiner und Miersch etc. zu lösen, die dem Leser Neoliberalismus als Konservatismus zu verkaufen versuchen. Der Konsumwille des Individuums kann in einer Welt, in der es um das Wohl von Flora und Fauna genauso geht wie um das des Menschen, nicht mehr der Maßstab aller Dinge sein. Daher können auch liberale Allergien gegen politische Einmischungen in den individuellen Lebensstil nicht zur Entscheidungsgrundlage bei ökologischen Fragen werden. Anders gesagt: Es ist durchaus legitim, wenn sich der Staat zum Ziel setzt, seinen Bürgern etwa korrekte Mülltrennung oder nachhaltigen Konsum näherzubringen. Fatalistisches Schulterzucken, während der konsumfreudige, vollgefressene Teenager seine leeren McDonalds-Tüten ins Gebüsch wirft, gehört in die Welt der 80er-Jahre-Yuppies, aber nicht ins 21. Jahrhundert.

Um derlei Missständen zu begegnen, können und sollten gerade auch konservative Kräfte Positionen aufgreifen, die man keineswegs den Grünen überlassen muss, welche diese durch ihren elitären Habitus und ihre gesellschaftspolitischen Positionen ohnehin unglaubwürdig machen. Die Grundgedanken der sogenannten Zero-Waste-Bewegung etwa verkörpern nahezu in Gänze konservative Werte, denn sie implizieren einen disziplinierten, konsumkritischen und nachdenklichen Lebensstil in Harmonie mit der Natur, ein im positiven Sinne einfaches Leben, wie es schon zu Zeiten der Lebensreformbewegung angestrebt worden war. Wer Müll vermeidet, tut etwas für sich, vermutlich auch für seine Gesundheit, für die Natur, für die Gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund wären etwa auch wirtschaftliche Innovationen wie die sogenannten verpackungsfreien Läden zu fördern.

Nicht nur ein ökologischer Fortschritt

Der Nutzen all dessen wäre offenkundig – nicht einmal lediglich aus ökologischen Motivationen heraus, sondern auch aus gesamtgesellschaftlichen. Wer ökologisch lebt, lebt reflektierter, bewusster, verantwortungsvoller. Ein solches Bewusstsein dürfte sich, wenn es erst einmal vorhanden ist, mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf andere Lebensbereiche und politische Felder ausdehnen – hin zu mehr gegenseitigem Respekt, Werteverständnis, Rücksichtnahme, Disziplin und Solidarität. Mehr können sich gerade Konservative schwerlich wünschen.

Florian Sander

Florian Sander, M. A., hatte zunächst einen nebenamtlichen Lehrauftrag (2013 – 2015), danach eine hauptamtliche Dozentur (2016 – 2019) an einer Fachhochschule inne, lehrte dort Sozialpsychologie, Soziologie und Politikwissenschaft und arbeitete auch als Verhaltenstrainer. Er ist aktuell Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS), Universität Bielefeld.
Von 2009 bis 2014 war er Mitglied des Rates der Stadt Bielefeld. Seit 2018 betätigt er sich als Mitglied der Landesprogrammkommission und des Landesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik der AfD NRW sowie als Leiter des Arbeitskreises Kommunalpolitik der AfD Bielefeld, deren stellvertretender Kreissprecher er seit 2019 ist. Er war Autor für den Blog Le Bohémien (2010 – 2017), für das Online-Magazin Rubikon (2017 – 2018) und für die Linke Zeitung (2017 – 2018) und schreibt seit 2018 für das Kultur- und Lifestyle-Magazin Arcadi sowie seit 2019 auch für den Blog des Jungeuropa-Verlags, für die rechtsintellektuelle, vom Institut für Staatspolitik (IfS) herausgegebene Zeitschrift Sezession und für das Zentralorgan des Bundes Deutscher Unitarier e. V., Glauben und Wirken.

Die Auflösung des deutschen Volkes

von Klaus Kunze

Die Auflösung des deutschen Volkes

Das deutsche Volk befindet sich in heller Auflösung. Diese Auflösung wurde von langer Hand geplant und wird jetzt quasi generalstabsmäßig durchexerziert. Das ist keine Verschwörungstheorie, sondern das nüchterne Resultat eines Blickes auf die Fakten und auf die politischen Absichten der maßgeblichen Akteure.

Das deutsche Volk ist ein mehrdeutiger Begriff. Ursprünglich hatte es sich nicht zwingend mit Verwandtschaft zu tun. Zum folc gehörte in althochdeutscher Zeit, wer dem Kriegsvolk „folgte“. Einem wandernden Volk schlossen sich in der Völkerwanderungszeit vielerlei Leute an. Im Laufe der Jahrhunderte verband sich das Wort Volk aber fest mit dem Begriff des deutschen Volkes. Zu ihm zählte man alle Menschen deutscher Muttersprache.

Die harten Fakten und ihre Gründe

Bekanntlich lebten niemals alle Deutschen in einem Staat zusammen. Den verschiedenen deutschen Staaten haben immer auch Menschen angehört, die nicht deutsch sprachen. Volkszugehörigkeit ist ein faktischer Zustand, Staatsangehörigkeit ein rechtlicher. Daß die Staatsangehörigen der Bundesrepublik weniger würden, läßt sich nicht feststellen. Es können ausreichend Pässe nachgedruckt werden.

Der Unterschied war früher auch gesetzlich völlig klar:

„Deutscher Volks­zu­ge­hö­­riger im Sinne die­ses Gesetzes ist, wer sich in seiner Heimat zum deut­schen Volks­­tum bekannt hat, so­fern dieses Bekenntnis durch be­stimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erzie­hung, Kultur bestätigt wird“ 

§ 6 Bundesge­setz über die Ver­­triebenen und Flücht­linge (BGBl. I 1971, 1563 ff., und die Neu­fas­sung vom 2.Juni 1993, BGBl.1993, 829 ff. sowie andere Ge­set­ze.

Die Deutschen als Volk halbieren sich aber von Generation zu Generation. Das hat strukturelle Gründe und wird von einem mächtigen ideologischen Druck flankiert. Daß dieser spezifische Druck nicht die alleinige Ursache ist, zeigt uns ein Vergleich mit Nachbarländern, in denen der weltanschauliche Rückblick auf die Jahre vor 1945 zu einem positiven Verständnis der nationalen Identität führte und die trotzdem nicht dem Phänomen des anhaltenden Geburtenschwundes entgangen sind.

Die historische Demographie und die Genealogie weisen übereinstimmend auf, daß es seit Beginn schriflicher Aufzeichnungen über Geburten einen Sog vom Land in die Städte gab. Nie haben Städte ihre Einwohnerschaft aus sich selbst heraus reproduziert. Sie empfingen immer Zuzug vom Land. Bevölkerungsüberschuß auf dem Land, aber Bevölkerungsschwund in den Städten, das ist eine Gesetzmäßigkeit, deren Gründe gut erforscht sind. Stadtbürgern brachte Kinderreichtum häufig Armut, dem Landvolk fleißige Hände und eine Art Altersvorsorge.

Eine industrielle Massengesellschaft ist städtisch. Sie benötigt zu ihrem Bestandserhalt fortwährenden Zuzug. Heute leben die wesentlichen Teile der deutschen Bevölkerung in solchen Verhältnissen. Kinderreichtum wird wirtschaftlich nicht belohnt, sondern durch Absinken des Sozialstatus bestraft.

Die weichen Fakten und ihre Gründe

Wollen die Deutschen überhaupt noch ein Volk sein? In politischer Hinsicht ist das ihre Existenzfrage.

„Da­­durch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, ver­schwin­det das Politi­sche nicht aus der Welt. Es ver­schwin­det nur ein schwaches Volk.“

§ 6 Bundesge­setz über die Ver­­triebenen und Flücht­linge (BGBl. I 1971, 1563 ff., und die Neu­fas­sung vom 2.Juni 1993, BGBl.1993, 829 ff. sowie andere Ge­set­ze.

Die ohnehin ablaufenden Notwendigkeiten und Ursachenketten der industriellen Massengesellschaft wurden und werden in Deutschland massiv verstärkt durch eine volksfeindliche Ideologie. Diese ist tendenziell kosmopolitisch und sublimiert damit auf geistiger Ebene die materiellen Erfordernisse globalen Wirtschaftens. Das Volk wurde begrifflich seit den 1970er Jahren von der Bevölkerung verdrängt. Der Perspektivenwechsel begann in der Soziologie, wo „die Bevölkerung“ einer von mehreren Parametern ist. Vom Linksradikalismus wurde er begierig aufgenommen, verallgemeinert und auch angewandt, wo an sich das gesamte Volk im Gegensatz zu Nachbarvölkern gemeint sein müßte.

In Deutschland breitete sich vom linksradikalen Spektrum aus eine haßerfüllte Grundhaltung gegen alles aus, was unser Schicksal ausmacht, Deutsche zu sein. Wie der Soziologe Helmut Schoeck anhand von Schulbüchern der 1970er Jahre bereits aufgezeigt hat, wurden Schulkinder schon damals planmäßig neurotisiert:

„Wie ein riesiger Staubsauger, der, einem Tintenfisch gleich. mit Dutzenden von Schläuchen aus der Seele des Kindes jeden Winkel absaugt, in dem noch ein Rest Sinn verborgen sein könnte, sind die linken Lernziele und Schulbücher bzw. vom Lehrer selbst zusammengebauten Unterrichtseinheiten ein wohlüberlegtes Instrument zur Abtötung jedes Erlebnisses von Sinn.“

Helmut Schoeck, Kinderverstörung, 1987, S.128.

Die damalige neurotisierte Jugend nähert sich heute bereits dem Ruhestand, nachdem sie weitere Generationen von Kindern indoktriniert hat. Was dabei herauskommt, kann man gelegentlich freitags Schule schwänzen sehen: einen Marsch ungebildeter, hirnloser emotionaler Analphabeten, aufgehetzt und hysterisch schreiend balancieren sie täglich auf dem schmalen Grat zwischen selbstverstümmelndem Ritzen und panischer Furcht vor einem Klimatod. In neurotischer Verkürzung der Wunder des Lebens haben sie nur sich zu empören gelernt, und Anti-etwas zu sein ist ihr Lebenssinn. Aus der Empörung

„wird Haß, wird Feindseligkeit gegen die eigenen Bezugspersonen, das eigene Volk und Land, und dieser Haß, so richten es die Schulbuchverfasser ein, muß nun auch noch seine vermeintliche Berechtigung in den Augen des Kindes bekommen: deshalb flößt man ihm den Verdacht ein, die eigene Gesellschaft, die Leute bei uns hätten Hunde ohnehin lieber als Kinder. Jetzt, als verfolgte Minderheit im eigenen Land, kann sich das verstörte Kind mit den fernen Kindern in den Entwicklungsländern voll identifizieren.“

Helmut Schoeck a.a.O. S.108 mit entsprechenden Nachweisen.

Nach diesem Blick in die Kindheit und Sozialisationsgeschichte der heutigen GRÜNEN wird deutlich, warum der geballte Haß des Linksradikalismus der Vorstellung gilt, das deutsche Volk sei etwas Wertvolles, das man vielleicht sogar verteidigen und beschützen sollte. Jahrgang um Jahrgang wurde vorenthalten, welche vielfältige Geschichte unser Volk hat, das man einst als Volk der Dichter und Denker rühmte. Was aber sollen sie lieben an ihrem Volk, wenn man die in Schulen vermittelte Geschichte von tausend Jahren auf zwölf reduziert und die Kinder nur zu Gedenkstätten der Selbstscham schickt?

Selbst die Eiche als deutscher Symbolbaum lebt nicht ewig.

Dadurch wurde das Bewußtsein zentral getroffen, Teil einer überzeitlichen Solidargemeinschaft zu sein, den Vorfahren etwas zu verdanken und eigenen Kindern etwas zu schulden. Doch

„keiner lebt für sich allein. Jeder ist auf Gemeinschaft … in der Abfolge der Generationen an­gewiesen.“

Wolfgang Schäuble, Wie leben aus der Wurzel des Überlieferten, FAZ 25.8.1995.

Zu die­ser Ge­mein­schaft gehören alle, die sich zum

„deut­­schen Volks­tum als national ge­präg­ter Kultur­ge­meinschaft, nicht als an­er­kannter oder nicht an­er­kannter Rechts­in­sti­tution, son­dern als einer rechtlicher Wer­tung a priori vor­gege­be­nen Seins­form, be­­kennen oder nicht be­ken­nen.“

Friedrich Schröer, Deutsche Volkszugehörigkeit von Minderjährigen, Baye­ri­sche Ver­wal­tungs­blät­ter 1973, 148 ff..

Wer sich, von jahrzehnterlanger Charakterwäsche indok­tri­niert und neu­ro­tisiert, sei­ner Wurzeln schämt, gibt seine Identität irgendwann auf. Bereits 1978 stellte der Historiker Hellmut Diwald schon für die Deutschen fest:

Charakteristisch ist daß sie nicht mehr in der Lage sind, sich als Deutsche, als eigenes Volk mit eigentümlichen Merkmalen einzuschätzen.

Hellmut Diwald, Geschichte der Deutschen, 1978, S.123.

Der derzeitige GRÜNEN-Sprecher Robert Habeck steht ganz in dieser Tradition. Mit dem Begriff Vaterlandsliebe kann er nichts anfangen. Das gilt für fast alle großen gesellschaftlichen Akteure: Für die Merkel-CDU gilt es ebenso wie für die großen Kirchen. Wer das deutsche Volk erhalten will, gerät schnell amtlich in den Verdacht, er sei ein Verfassungsfeind. Dabei wird die Liebe zum eigenen Volk mit Chauvinismus oder Kollektivismus verwechselt.

Wenn Sie nicht glauben können, was gesellschaftlich relevante Kräfte mit dem deutschen Volk konkret vorhaben, schauen Sie einfach mal, was ein prominenter Genosse dazu schreibt:

(Twitter) 10.11.2019

Die Vaterlandsliebe

Braucht unser Staat überhaupt ein Volk – und braucht unser Volk einen Staat? Nichts bleibt heute unangezweifelt. Doch was ist „Volk“ überhaupt? Ein noch nicht staatlich verfaßtes Volk

„erwächst aus einer geschichtlich gewachsenen, substantiellen Gemeinsamkeit einer Gruppe von Menschen. Sie verweist und findet ihren Grund in der subjektiv unverfügbaren Vergangenheit: aus gemeinsamer Geschichte, Schicksal, Sprache, Kultur erwächst solidarische Verbundenheit. Ihre aus geschichtlicher Kontingenz geprägte Gestaltung widerstrebt rationaler Erklärbarkeit.“

Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2.Aufl. 2016, S.318.

Ein Staat erwächst einem Volk, sobald es sich Institutionen schafft und diese mit staatlicher Autorität ausstattet: mit umfassenden zwischenmenschlichen Regelungsbefugnissen. Diese staatliche Ordnung benötigt eine Ethik mit gemeinschaftsbildenden Tugenden. Elf Leute sind keine Fußballmannschaft, wenn sie sich nicht an die für alle geltende Spielregeln halten. Wenn sie in alle Himmelsrichtungen auseinanderfliegen, bilden Vögel keinen Schwarm mehr. Ohne Bereitschaft, sich an Regeln zu halten, gibt es keine kollektive Handlungseinheit: keine Fußballmannschaft, auch keinen Staat.

Diese Bereitschaft besteht in der Anerkennung spezifischer Tugenden wie die der Staatstreue, der Vater­landslie­be und der Fami­lien­bin­dung. An eine me­taphysi­sche Reali­tät solcher ge­mein­schaftsbil­denden Wer­te muß nie­mand glau­ben. Wer Gott nur vom Thron stürzt, um sich selbst – in­dividuell oder kol­lektiv – dar­aufzuset­zen und als „gottesebenbildlich“ anzube­ten, hat nicht be­griffen, was Aufklä­rung tatsäch­lich bedeu­tet. Daß es solche Werte aber bei allen Völ­kern und in al­len Kul­tu­ren gibt, läßt den Schluß zu, daß es of­fenbar ei­nen Nut­zen hat, wenn die Mit­­glie­der einer Gruppe ein die Ge­mein­schaft ­­sta­bi­lisie­ren­des Sy­stem von Nor­men an­wen­den.

So verstanden schweben die Werte für eine Ge­­mein­­schaftsord­nung nicht in über­sinn­li­chen Sphären. Sie beein­flus­sen höchst real das mensch­liche Zu­sammenleben, weil viele Men­schen gefühlsmäßig zu ihnen neigen. Es herrscht, wer den Inhalt des Glaubens be­stimmt, auf des­sen Grund­la­ge die in der Staats­­ver­fas­sung kon­kre­ti­sier­te Wert­ord­nung ruht. Es gilt da­her ei­n Sy­­stem von Tu­genden durch­­zu­­­set­zen, das unsere in­­di­­vi­­duel­­le Frei­heit mit dem Be­stand der Ge­­mein­schaft ver­knüpft, der wir alle an­ge­hören und die uns die in­divi­du­elle Freiheit nach innen und au­ßen ga­ran­tieren soll. Diese Nor­­men gibt es in Deutschland tra­di­­tio­nell. Es ist sinnlos, Hirn­ge­spinste aus der in­tellektuellen Retorte zu ziehen. Ra­tio­na­li­stisch aus­ge­­klü­gelte Werte erwär­men niemandem das Herz. Sie kön­nen we­der die nötige soziale Bindungs­kraft ent­fal­ten noch Fol­ge­be­reit­­schaft er­zeu­gen. Nur die in den Gefühlen der Menschen wirk­lich vor­han­denen, überlieferten Werte, Tugenden und Ge­mein­schafts­ideen können dauerhaft sozial funktionieren: die Fa­­mi­lie, das Volk und alle auf sie bezogenen Sekundärtugenden.

Diese empfundene Identität mit meinen mir verwandten und gleichgesinnten Mitbürgern ruft jene eigentümliche Solidarität hervor, die sich mit dem Begriff der Vaterlandsliebe verbindet. Meine Opferbereitschaft richtet sich auf mir verwandte Menschen, mit denen ich mich gleich weiß in ihrer grundsätzlichen Sicht auf die menschlichen Verhältnisse. Mit ihnen bilde ich gern einen staatlichen Bund, eine Solidargemeinschaft, deren personales Substrat immer diese konkreten Menschen sind und nicht abstrakte Begriffe.

Vaterland ist eine Metapher, ein symbolisches Wort für alle lebenden, verstorbenen und künftigen Menschen, die dieses Vaterland gebildet haben, bilden und bilden werden. Sie sind es, die ein Mensch liebt und denen er sich solidarisch verbunden fühlt. Wenn man den Begriff des Volkes nicht als bloße Sam­mel­bezeich­nung für viele einzelne Men­­schen be­trach­tet, kann man nur zu dem Schluß kom­men, daß es Völ­ker nur in unserer Vorstellung gibt: „In mente„, hätte William von Ock­ham ge­sagt: im Gei­­ste. Real vor­han­den sind aller­dings die Ver­wandt­schafts­be­ziehun­gen, die ge­mein­same Spra­che und die gemein­sa­me Ge­schich­te der An­­gehörigen eines Vol­kes. Alle diese Um­stände be­wahren das Phä­­no­­men „Volk“ aber nicht, wenn es als Volk nicht mehr „in mente“ ist: im Bewußtsein sei­ner An­ge­­hörigen also, denn das

„Deutsch­land, wel­ches wir lie­ben und zu sehen be­gehren, hat nie exi­stiert und wird viel­leicht nie exi­stieren. Das Ideal ist eben etwas, das zu­gleich ist und nicht ist. Es ist die im tiefsten Her­­zen der Men­schen leuch­tende Son­ne, um wel­che un­sere Ge­danken“ sich drehen.

Paul De Lagarde, Deutsche Schriften, 1884, zitiert nach Sammlung Diede­richs, Deutsches Wesen, Hrg. Friedrich Daab, 1914, S.83.

Das ideale Deutschland befindet sich in uns. Das reale Deutsch­­­land aber kön­nen nur kon­krete Menschen sein, die Ge­samt­­heit aller Deut­­schen. Wer sich für sie verantwort­lich fühlt und sie zu seiner Her­­zenssache macht, rech­net zu ih­nen die Ge­samt­heit der Le­­ben­den, der Toten und der Ungeborenen. Das ideale heim­liche Deutschland da­gegen trägt je­der nur in sich allein.

Alle Gruppen und Kollektive existieren nur insoweit und auch nur so­lange, wie sie von den handelnden Gruppenmitgliedern als Kollekti­ve tat­sächlich wahrgenom­men werden. Wenn die Einzelmitglieder der Gruppe aufhören, gruppenbezogen zu handeln, wenn der Wille, die Grup­pe zu bilden und die Gruppe bestehen zu lassen, erlischt, dann erlischt die Gruppe über­haupt. Das ist das Ziel aller derer, die das deutsche Volk heute auflösen. Sie lösen es auf, indem sie das emotionalen Zusammengehörigkeitsgefühl und den Willen zerstören wollen, gemeinsam Deutsche zu sein.

Eine Familie kann sich durch Schei­dung auflösen. Eine politische Partei kann durch Verbot aufge­löst werden. Auch die Mitglieder eines Vol­kes können sich zerstreuen. Nachdem die Athener die meli­schen Männer getötet und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft hatten, gab es für den Rest der Weltgeschichte keine Melier mehr. Völker sind eben nicht Gedanken Gottes, sondern handelnde Kollektive von Einzelmenschen, die im Kol­lektiv handeln wollen und das tatsächlich tun. Wenn der Wille zu ge­meinsamem Handeln und damit zur gemeinschaftlichen Existenz er­lischt, endet das Volk über­haupt. Völker sind nicht Gedanken Got­tes, sondern kol­lektive Gedanken vieler Menschen. Das zum Be­wußt­sein seiner selbst ge­kommene Volk bezeichnet die ro­manische Tra­dition als Nation: Nation sei ein tägliches Plebiszit. Die Nation als Wil­lens­ein­heit zusammen­gehörender Menschen erfordert es, die Ent­schei­dung für das Zusammengehören und das gemein­schaft­liche Han­deln täg­lich neu zu treffen.

Zum Schwarm werden die Einzelvögel, wenn sie sich in einer gemeinsamen Ordnung formieren.

Nationen sind daher vergängliche Gebilde und in ihrer Existenz verletz­lich. Ihre Existenz hängt davon ab, den Willen zur Gemein­schaft tagtäglich aufrecht zu erhal­ten. Einer Nation die­sen Willen, die Über­zeugung von ihrer eigenen Identität also, zu nehmen, befördert sie von der präsenten Existenz „in mente“ ins Reich der Schatten, in den Orkus des bloßen Erinnerns, in die reale Nichtexistenz. Finis Ger­­maniae? Das kann uns passieren, liegt aber allein an unserem Wollen. Ob eine

„Nation als politische oder auch kulturel­le Einheit erhal­ten bleibt, hängt nicht von ir­gend­ei­ner unwandelbaren Sub­stanz ab, die ihr inne­woh­­nen soll, sondern von den langfristigen Erfor­der­nis­sen der pla­ne­ta­rischen Lage, ge­nau­er: von der Art und Weise, wie die Ak­teure diese Erfordernisse be­greifen und sich darauf ein­stel­len.“

Panajotis Kondylis, Die Zukunft der Nation, FAZ 26.10.1994.

Es liegt ein irreführender, weil transzendenter Akzent in der For­mu­lie­rung eines Gedichts, man solle an sein Volk und dessen Zukunft glau­ben. Das Volk gibt es, oder es gibt es nicht. Richtig wäre die For­mu­lierung, man solle den Willen, in Gemeinschaft als Volk zu han­deln, nicht auf­ge­ben.

Ein so verstandener Wille zu gemeinschaftlichem und gemein­schafts­­­be­zo­ge­nem Handeln stünde nie in Gefahr ideologischer Verab­so­lutierung, kol­lek­ti­vistischer Totalitätsansprüche oder quasireligiöser Er­weckungs­hoffnun­gen. Als Begründung für das kollektive Phäno­men, das wir je nach Aspekt der Betrachtung als Volk, Na­tion oder Staat bezeichnen, genügt die Einsicht, daß der Gemeinschaftsbezug des Handelns letztlich die Daseinsbedingungen des Einzelnen sichern muß. Am Anfang muß kann nur die Einsicht stehen, daß je­der Einzelne die Na­tion und einen handlungsfä­higen Staat für sein persönli­ches Wohl­er­gehen und das seiner Nachkommen unab­dingbar braucht. Auf der freien Entscheidung für die Nation mag dann eine „säkularisierte“ Welt­anschauung aufbauen, die sich der Liebe zu ihren Nächsten nicht schämt und selbstverständliche Solidarität mit allen anderen Deut­schen ein­schließt.

Handeln in nationaler Solidarität

Das Volk als Solidargemeinschaft von Verwandten hat sich historisch bewährt. An ihm allein muß und kann sich so­zia­les Han­deln ausrichten. Andere Solidargemeinschaften wir religiöse haben sich historisch nicht als dauerhaft und darum als ungeeignet erwiesen (Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.186). Solidarität erfordert differenzierendes Denken in Kategorien menschlicher Ungleichheit, denn die Solidargemeinschaft

„ist wesentlich und legitimerweise Abstammungsgemeinschaft, insoweit sie diejenigen ausgrenzt, die außerhalb der Gemeinschaft stehen, weil sie an deren Gemeinsamkeit nicht teilhaben: die Angehörigen einer Solidargemeinschaft stehen sich einander näher als den Menschen im übrigen, d.h., sie sind im Verhältnis zueinander gleicher als im Verhältnis zu anderen.“

Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2.Aufl. 2016, S.309 f.

Eine typisch juristische Vorstellung besteht darin, eine rechtliche Verpflichtung als unsichtbares Band zu symbolisieren, das einen Menschen mit einem anderen verbindet. So kann man sich vorstellen, daß die realen Angehörigen eines Volkes durch ihr tägliches Handeln eine Art Bund [1] unter sich aufrechterhalten, der wie ein ideelles Band alle Einzelnen miteinander verbindet, berechtigt und verpflichtet.

Überall auf der Welt gab es diese Solidargemeinschaften bereits vor der Geburt jedes heute Lebenden. Man wird in eine Abstammungsgemeinschaft hineingeboren. Niemand kann sich frei aussuchen, mit welchen anderen Menschen er sich staatlich organisieren und ihnen solidarisch sein soll. Eltern und Vorfahren sind bereits da, bevor das Kind in die unkündbare Solidargemeinschaft hineingeboren wird.

„Die Unkündbarkeit des Bundesschlusses verbindet viele Generationen miteinander. Die bündische Gemeinschaft verfügt dadurch über Vergangenheit und Zukunft und ermöglicht dadurch die Statuierung einer Verantwortung des einzelnen vor der Nachwelt.“

Depenheuer a.a.O. (2016), S.313 f.

Die Gemeinschaft miteinander solidarischer und untereinander verpflichteter Menschen ist der einzige rechtfertigende Anlaß für den Einzelnen, gegebenenfalls für andere Menschen große Opfer zu bringen. Das gilt auch für Menschen, die er gar nicht persönlich kennt. Warum akzeptiert ein egoistischer Einzelner, den Ertrag seiner Hände Arbeit durch staatliche Umverteilung zu Bedürftigen wandern zu lassen, die nicht arbeiten? Auf rein persönlicher Ebene wecken die Gefühle der familiären Liebe und Fürsorge solche Bereitschaft. Auf überpersönlicher Ebene kann man sich den Staat als Solidargemeinschaft wie eine große Familie denken. Er institutionalisiert und regelt die Hilfsbereitschaft und Fürsorge in analoger Weise.

Wir akzeptieren das, wenn wir den Gedanken familiärer Solidarität auf unser ganzes Volk übertragen. Sie besagt, daß jeder für den anderen, notfalls mit seinem Leben, einzustehen hat. Diese anderen gelten ihm als seine Angehörigen im weitesten Sinne, mit denen er sich emotional verbunden fühlt aufgrund gleicher Abstammung, gleicher Geschichte und gleichen Schicksals. Der Staat kann nicht sinnvoll nur als unpersönliche Verteilungsanstalt materieller Güter verstanden werden, sonst würde er keine Opferbereitschaft wecken. Er muß darum

„als personenbezogenes Gebilde gedacht werden, dessen Substrat nur das Volk sein kann. Tatsächlich liegt im Begriff des Volkes der Schlüssel zur Beantwortung der Frage nach dem materiellen Grund der staatsbürgerlichen Solidarität. Diese findet ihre Grundlage  in der substantiell durch Volkszugehörigkeit, rechtlich durch Staatsangehörigkeit vermittelten Gemeinsamkeit der Staatsbürger.“

Depenheuer a.a.O. (2016), S.324.

Die Solidarität der Mitglieder einer solchen Solidargemeinschaft untereinander erfordert ein Denken in Gleichheits- und Ungleichheitskategorien. Untereinander gelten sie als gleich. Wer nicht dazu gehört ist Ausländer und damit ungleich. Ihm wird nicht das Maß an Solidarität geschuldet, das einem Inländer zukommt. Schließlich ist er auch seinerseits nicht verpflichtet, notfalls mit seiner ganzen Existenz für einen Staat einzustehen, der für ihn Ausland ist. Es existiert kein Weltstaat und keine globale Solidargemeinschaft. Für radikal kosmopolitisches Denken ist das schrecklich. Es möchte von der Ebene des Individuums die des Staates überspringen und unmittelbare Solidaritätspflichten zwischen allen Menschen begründen.

Kosmopolitisches Denken kann dabei die Frage nicht beantworten, warum ich mich jemandem gegenüber solidarisch fühlen und Opfer bringen soll, der mir nicht angehört und den ich nicht liebe, vielleicht aufgrund seines Verhaltens, seiner Kultur und anderer Eigenheiten auch gar nicht lieben möchte. Wenn ich mich mit jemandem schlechterdings nicht identifizieren kann, mag ich mich auch nicht für ihn aufzuopfern. Je ferner er mir steht, je weniger er mir und den Meinen ähnelt, desto weniger fühle ich mich ihm solidarisch. Ich empfinde zwischen ihm und mir keine substantielle Gleichheit.

„Die staatsbürgerliche Solidarität, d.h. die Identifikation mit der Nation über alle sonstigen Unterschiede und Gegensätze hinweg, ist fundiert durch die unverfügbare  Zugehörigkeit zu einer konkreten Volksgemeinschaft. Der Begriff des Volkes im substantiellen Sinne vermag jene Basis substantieller Gleichheit  der Staatsbürger zur Sprache zu bringen. Im Zentrum des substantiellen Volksbegriffs steht das Volk als ethnische oder kulturelle Größe.

In ihm gründet die politische Einheit des Volkes. Dieser Nationenbegriff ist objektiv: er garantiert die nationale Identität, ohne sie von subjektiven Willensbekundungen  bestimmen zu lassen.“

Depenheuer a.a.O. (2016), S.333.

Kosmopolitisches Denken übersieht aber auch, daß die verschiedenen Solidargemeinschaften nicht nur den Zweck haben, im Sozialleben untereinander solidarisch zu sein. Sie haben auch die Funktion, die Art und Weise des Zusammenlebens gegenüber Bedrohungen von außen zu garantieren. Diese droht potentiell aus Ländern, die im Innern ebenfalls Solidargemeinschaften bilden, aber völlig andere Vorstellungen von gutem Zusammenleben haben. So kann man die Solidargemeinschaft unseres Staates auch betrachten als staatliche Gemeinschaft derjenigen, die in einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung und nicht in einem islamischen Kalifat oder einer asiatischen Autokratie leben wollen.

„Denn jede Gemeinschaft muß eine Grenze zur sozialen Umwelt setzen, sonst kann sie keine kraftspendende Identität gewinnen.“

Udo Di Fabio a.a.O., S.103.

Wer die Kraft aufbringen möchte, die zur Verteidigung unserer Identität notwendig ist, darf niemals schweigen: nicht wenn „Deutschland verrecke“ an Hausmauern geschmiert wird, nicht, wo „Allah ist groß“ gebrüllt wird, nicht, wenn wir Welle auf Welle gegen Afroasiaten ausgetauscht werden, und überall da nicht, wo unser Staat, seine Grundordnung und mit ihr unsere eigemtümliche freiheitliche Lebensweise angegriffen wird.


[1] Ich folge in der Vorstellung des „Bundes“ der überzeugenden Argumentation Otto Depenheuers. In der Sexta A des damaligen Staatlichen Gymnasiums in Köln-Mülheim (heute Hölderlin-Gymnasium) war er mein Freund und Klassenkamerad, seit 1999 Inhaber des Lehrstuhls für „Allgemeine Staatslehre, Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie“ sowie Direktor des „Seminars für Staatsphilosophie und Rechtspolitik“ an der Universität zu Köln.

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

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Ernst Rudorff

Ernst Rudorff
Ernst Rudorff (1840-1916)

von Heinz-Siegfried Strelow

Ein Portrait Ernst Rudorffs, des Begründers der Natur- und Heimatschutzbewegung

»Mächtige moderne Kulturbewegung entfacht«

Die 1913 von dem Lebensphilosophen Ludwig Klages verfaßte Schrift »Mensch und Erde« gilt auch heute noch zu Recht als einer der wichtigsten Meilensteine auf dem Weg zur ökologischen Bewußtseinsbildung. In eben dieser Broschüre findet sich, gewissermaßen als mahnende Begründung für ein sorgsameres Verhältnis zur Natur und zu den ursprünglichen Kulturformen, eine sogenannte »Totenliste«, in der Klages all jene Tier- und Pflanzenarten, Landschaften und Kulturleistungen aufführt,die den »Segnungen der Zivilisation« bereits zum Opfer gefallen sind. Diese Liste schließt mit einem Verweis auf einen Vorläufer in dieser Mahnerrolle: »Dies alles«, schreibt Klages, »wurde ja wieder und wieder, obgleich vergeblich, ausgesprochen, mustergültig schon 1880 durch den trefflichen Ernst Rudorff, auf dessen Aufsatz »Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur« […] wir jedermann ausdrücklich hinweisen wollen.« Klages gehörte, als er diese Zeilen schrieb, dem »Deutschen Bund Heimatschutz« an, jenem Verband, der neun Jahre zuvor auf Betreiben Ernst Rudorffs gegründet worden war. Mehr noch als dieses Engagement hatte freilich das künstlerische Wirken des Komponisten Rudorffs dazu beigetragen, daß sein Name in den letzten Friedensjahren des deutschen Kaiserreiches nicht zu den Unbekanntesten zählte.

Um so erstaunlicher muß daher stimmen, daß Rudorff in unserer verbal-ökologisch so sensibilisierten Zeit fast völlig in Vergessenheit geraten ist. Außer eifrigen Philatelisten, denen die von der Bundespost zu Ehren des 150. Geburtstages Rudorffs herausgebrachte Marke ein Begriff sein mag, dürften die meisten Zeitgenossen nur mit einem Achselzucken antworten, wenn man sie nach dem »Begründer des Naturschutzes«, wie es lapidar auf dem Postwertzeichen heißt, fragt. Wer also war jener Mann, auf den die Wortschöpfungen »Naturschutz« und »Heimatschutz« sowie die damit verbundenen ersten Aktivitäten zurückgehen?

Ernst Rudorff wurde am 18.Januar 1840 in Berlin geboren. Seine Eltern gehörten zu den wohlgebildeten Bürgerschichten Berlins, in denen der Verkehr mit den bedeutendsten Geistern der Romantik selbstverständlich war. Der Vater Adolf Friedrich Rudorff hatte sich als Schüler Savignys und Jurist der »Historischen Schule« Ansehen erworben, während sich das Haus der mütterlichen Linie Pistor zu einem Zentrum schöngeistiger Treffen entwickelte, die auch durch Besuche Goethes, Eichendorffs und der Schleiermachers beehrt wurden. In diesem Fluidum wuchs der kleine Ernst heran. Ihm war es noch vergönnt, in Kindertagen Bekanntschaft mit Achim und Bettina von Arnim, mit Ludwig Tieck und den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm zu machen. Letzterer verehrte dem Knaben eine Ausgabe seiner Märchensammlung, versehen mit der Widmung »ein kleiner Spaß für den kleinen Ernst«.

Man mag die kindliche Zuneigung zu Sagen, Märchen und der Tier- und Pflanzenwelt als etwas Normales im menschlichen Reifungsprozeß ansehen, für den kleinen Ernst Rudorff sollten sie aber dauerhaft im Mittelpunkt seines Lebensgefühls und seiner seelischen Grundstimmung bleiben. Zweifellos hat der frühzeitige Umgang mit der Geisteshaltung der Romantik seinen Anteil daran, jedoch scheint bei dem heranwachsenden Knaben, der sich selbst in seinen Erinnerungen, die bezeichnenderweise den Titel »Aus den Tagen der Romantik« tragen, als ein wenig robustes und sportlich talentiertes Kind beschreibt, auch eine ausgeprägte persönliche Veranlagung vorhanden gewesen zu sein, die Natur mehr als nur oberflächlich zu erschließen und »mit einer Art Ehrfurcht« zu betrachten. In seinen Erinnerungen schildert Rudorff die »bedrückende Abneigung«, die er bei den elterlichen Spaziergängen am Stadtrand von Berlin empfand:

»Mein Vater ging gern einmal gegen Abend aus dem Halleschen Tor ins Freie. Die Stadt hatte mit dem Belle-Alliance-Platz ihr Ende. Die Natur sollte also anfangen. Man sah aber nichts als ein paar vereinzelte häßliche Häuser, magere Kornfelder, eine Reihe von Pappeln, den sogenannten Kreuzberg mit seinem kahlen, gelben Sandabhang und den träge dahinschleichenden Kanal. Mit einem unbesieglichen Trübsinn erfüllte mich jedesmal dieser Anblick. Ich suchte ihm nach Möglichkeit auszuweichen. — Der Heftigkeit solchen Widerwillens stand auf der anderen Seite die enthusiastische Liebe gegenüber, die meine Seele für unser Lauenstein mit seinen Bergen, seinen herrlichen Buchen- und Eichenwäldern empfand. Bis in die Dämmerung frühester Kindheit reicht dieses Gefühl innigster Anhänglichkeit.«

Lauenstein. Dieses kleine Dörfchen im südniedersächsischen Bergland bildete für Ernst Rudorff die eigentliche Heimat. Seine Eltern hatten hier ein stattliches Anwesen, die Knabenburg, erwerben können, die die Vorburg einer älteren Anlage war, von der nur noch die Ruinen oberhalb des Lauensteiner Tals existierten. Hier verbrachte die Familie Rudorff die Sommermonate. Der kleine Ernst durchstreifte dort die Wälder und ließ sich von der Vielfalt der zoologischen und botanischen Eindrücke fesseln, während seine Altersgefährten auf den Straßen des Dorfes herumtobten. So, wie ihn die Natur faszinierte, fühlte er sich auch zu den vielfach noch lebendigen Traditionen der Landbevölkerung hingezogen. Seine Schilderungen, etwa über den Anblick der herbstlichen Kartoffelfeuer auf den vom Abendlicht überfluteten Feldern, sind in gewisser Hinsicht bereits eine Vorwegnahme jenes späteren Denkens und Handelns, in dem Heimatverbundenheit, Romantik und Ästhetizismus zu einem unverwechselbaren Amalgam verschmolzen. Rückblickend hat Rudorff die Tage in Lauenstein als Quell seiner Weitsicht und seiner Betätigungsfelder charakterisiert:

»Der Fleck selbst aber, das Stück Erde, das den Schauplatz gab für all dies menschliche Tun und Treiben, Kommen und Gehen: es ist im wesentlichen dasselbe geblieben in seiner stillen Schönheit, und dieser Boden an und für sich war es auch in jener fernen Zeit vor allem übrigem was auf mein inneres Leben, mein Empfinden und Denken nährend und entwickelnd einwirkte. Hier durfte ich teilnehmen an jenen geheimnisvollen Vorgängen des natürlichen Lebens, des Wachsens und Vergehens, des Blühens und Welkens schon zu einer Zeit, wo die Seele noch halb im Schlaf liegt, und wenn sie da schon träumend Wunderbares empfängt, um wieviel Größeres erlebt sie, wenn sie nun wirklich mehr und mehr zu bewußtem Dasein erwacht.«

Seine ausgeprägte Sensibilität hatte den jungen Ernst Rudorff frühzeitig für musikalische Reize zugänglich werden lassen. Bereits als Zweijähriger soll er »viele Lieder auswendig« gekonnt haben und erhielt daraufhin im Alter von fünf Jahren Klavierunterricht. Mit acht Jahren erfolgten die ersten Kompositionsversuche und spätestens nachdem der jugendliche Rudorff 1854 Clara Schumann kennengelernt hatte, stand für ihn fest: er mußte Musiker werden. Ein erster öffentlicher Auftritt des 17jährigen wurde von der Berliner Presse günstig aufgenommen. Als Rudorff 1859 das Berliner Friedrichs-Gymnasium verließ, mußte er freilich auf Drängen des Vaters ein Theologiestudium antreten, was »ohne die notwendige innerliche Freudigkeit« geschah. Es erfolgte eine Auseinandersetzung mit dem Vater und schließlich konnte Ernst Rudorff durchsetzen, an das Leipziger Konservatorium überzuwechseln, allerdings unter der Bedingung, die theologischen und historischen Studien fort-zusetzen. Von den Vorlesungen Treitschkes abgesehen, hatte der Student jedoch nur Ohren für die Musik. Nach Abschluß seines Studiums schien so eine freie Künstlerlaufbahn vorgezeichnet. Bonn, Hamburg und Köln waren kurzfristige Stationen auf diesem Weg, bis Rudorff 1870 schließlich an der neugegründeten »Königlichen Hochschule für Musik« in Berlin eine dauerhafte Anstellung fand. Als Leiter der Klavierabteilung sollte er hier bis zu seinem Abschied im Jahre 1910 wirken.

Das kompositorische Wirken Rudorffs soll im Zusammenhang dieser Betrachtungen nur am Rande gestreift werden, soweit es für die Skizzierung der Persönlichkeit Rudorffs notwendig ist. Daß sein Gesamtwerk, das neben drei Sinfonien rund 60 Lieder für einzelne Singstimme oder gemischten Chor umfaßt und musikalische Juwele wie den »Gesang an die Sterne« (op. 43) oder die 1866 herausgegebene Partitur zu Webers Oper »Euryanthe« birgt, in gleicher Weise wie sein heimatschützerisches Wirken dem Vergessen anheimgefallen ist, muß aber nachdenklich stimmen. Rudorffs Verhältnis zur Musik entsprach, wie bereits angedeutet, seiner ästhetischen Beziehung zur Natur. Letztlich waren beide Bereiche untrennbar miteinander verwoben. Rudorff vermerkte hierzu 1870 in seinem Tagebuch:

»Im allgemeinen läßt sich wohl der Eindruck der Instrumentalmusik am besten mit der Landschaft vergleichen; es ist kaum Freude und Schmerz zu nennen, was man beim Hören empfindet […] Es ist ebenso unbegreiflich, warum der Schwung einer fernen Berglinie schön ist und das Gemüt ergreift, als die Bewegung der Seele zu erklären und zu benennen ist, die irgendein Musikstück hervorruft. Der eine wird mehr nach der Seite des Erhobenseins, der andere nach der Wehmut durch denselben Eindruck in der Natur berührt, und man kann nicht anders sagen als: Beides liegt darin, beide Gegensätze sind darin beschlossen. Berge, Wolken, Ströme, Bäume, Farben und Schatten sind wie die Motive und Klänge, aus denen ein Musikstück sich zusammenwebt, und das unerklärliche Etwas, was als Harmonie über ihrer Verbindung schwebt, ist das, was hier und dort die Seele bezaubert, fesselt und mit sich fortzieht.«

Einem Menschen, der solche Gefühle hegte, mußten die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in immer stärkerem Maße einsetzenden Umwälzungen in Technik und Landschaftsveränderung als ein schneidender Mißton im harmonischen Zusammenspiel von Natur und Kultur, wie es von der Romantik als Ideal gesehen wurde, erscheinen. Die Folgen der Industrialisierung machten auch vor dem Leinebergland und dem Lauensteiner Tal nicht halt. »Scheu flieht Sage und Brauch vor den Baken der Geometer und dem schrillen Pfiff der Lokomotiven in die entlegensten Walddörfchen« notierte 1860 der südniedersächsische Volkskundler Karl Seifart. Rudorff mag ähnlich empfunden haben. Hand in Hand mit der Verkoppelung sah er nicht nur die Vielgestaltigkeit der natürlichen Landschaft weichen, sondern registrierte mit großer Sorge auch den Prozeß der Abwanderung der Landarbeiter in die großen Städte, von denen wiederum neue Formen des Lebensstils in die Dörfer gelangten. So verschwanden die unbegradigten Bachläufe und Feldgehölze in gleichem Maße wie die plattdeutsche Mundart, die alten Trachten und Bräuche. Für Rudorff war diese Entwicklung allein aus ästhetischen Gründen unerträglich. Allerdings verband er mit diesem Empfinden auch gesellschaftspolitische Sorgen, von denen noch die Rede sein wird.

Im heimatlichen Lauenstein war Rudorff jedenfalls entschlossen, die Auswüchse des Fortschrittsstrebens und der Urbanisierung aufzuhalten. Hierfür scheute er keine Mühen und vor allem keine Kosten. Er kaufte alte Eichenalleen auf dem Stamm und bewahrte sie so vor dem Schlag; er erwarb das Lauensteiner Tal und setzte in zähem Kampf mit den Behörden durch, daß hier die alten Wege, Gebüsche, Feuchtstellen und Waldspitzen unangetastet blieben; schließlich ließ er sich sogar die Burgruine von Lauenstein zuweisen, als bekannt wurde, daß sie einem Ausflugslokal weichen sollte. Natürlich waren dies nur lindernde Maßnahmen, die nichts an der generellen Entwicklung zu ändern vermochten. Und während das Wort »Naturschutz«, das 1888 erstmals in einem Tagebucheintrag auftaucht, noch im verborgenen blieb, wurde im Jahr 1880 der Öffentlichkeit die erste Frucht der eingehenden Beschäftigung mit der Naturzerstörung präsentiert. Schon die einleitenden Zeilen des Aufsatzes »Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur«, der in den »Preußischen Jahrbüchern« abgedruckt wurde, ließen aufhorchen:

»Man feiert die Natur, aber man feiert sie, indem man sie prostituiert (…) Eine wahre Manie hat die Welt ergriffen, die Natur in ihrem eigensten Wesen zu zerstören unter dem Vorhaben, daß man sie dem Genuß zugänglich machen will.«

Die Angriffe gegen den industriellen Fortschritt führt Rudorff in dieser seiner ersten Anklageschrift auf zwei Ebenen durch. Zum einen beklagt er die ästhetische, seinem konservativen Kunstgeschmack konträr laufende Rohheit des Industrialismus, der durch die gerade, rationale und kalte Linie verkörpert wird; zum anderen finden sich aber auch erste Warnungen vor der Belastung der Natur durch industrielle Schadstoffe. Vor allem die Fabrikschornsteine, »die mit ihrem Qualm allen Duft der Poesie längst hinweggeräuchert haben, deren garstige, himmelhoch ausgestreckte Gradlinigkeit allem Malerischen Hohn spricht« fanden seine beständige Kritik. Nicht minder heftig war seine Aversion gegen die Flurbereinigung und Verkoppelung:

»Jede vorspringende Waldspitze wird dem Gedanken der bequemen geraden Linie zuliebe rasiert, jede Wiese, die sich in das Gehölz hineinzieht, vollgepflanzt, auch im Innern der Forste keine Lichtung, keine Waldwiese, auf die das Wild heraustreten könnte, mehr geduldet. Die Bäche, die die Unart haben, in gewundenem Lauf sich dahinzuschlängeln, müssen sich bequemen, in Gräben geradeaus zu fließen. Der Begriff des Feldweges als eines Fußpfades, der sich in ungekünstelter Linie bald zwischen wogenden Ähren, bald über ein Stück Wiese dahinzieht, wie ihn im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte das Bedürfnis hat werden lassen, hört für die Wirklichkeit auf zu existieren. Hermann und Dorothea treffen einander zukünftig auf dem ,Koppelweg‘, d.h. einem endlos in schnurgerader Richtung das ebene oder unebene Terrain durchschneidenden Ackerfuhrweg von 10-20 Meter Breite, dem sein alter ego, der ,Koppelgraben‘ das Substitut für den ehemaligen Wiesenbach, getreulich zur Seite läuft. Bei der rechtwinkligen Einteilung der Grundstücke fallen dann auch alle Hecken und einzelnen Bäume oder Büsche, die ehedem auf den Feldmarken standen, der Axt zum Opfer (…) und so ist dafür gesorgt, daß weder der Wanderer oder Arbeiter einen hübschen, schattigen Platz findet, um auszuruhen, noch der Singvogel eine Stelle, wo er nisten mag.«

In ihrer polemischen Schärfe auch heute noch äußerst lesenswert sind schließlich Rudorffs Ausführungen über die »verlebte, mattherzige Gesellschaft der großstädtischen Salons«, die mit ihren touristischen Ansprüchen auf Naturgenuß eben die letzten Reste unberührter Natur immer weiter zurückdrängte.

»Der Kellner auf dem Rigi fragt: »Wie befehlen Sie? Zuerst Souper und dann Sonnenuntergang, oder in umgekehrter Reihenfolge? Für beide Eventualitäten ist gesorgt.« Der Sonnenuntergang rangiert neben Hummersalat und Champagner, Billardspiel und Conversation als einer der verschiedenen Artikel, die dazu bestimmt sind, dem Menschen auf amüsante Weise die Zeit totschlagen zu helfen. Das erhabene Bild der Alpenkette hat den Rahmen für das elegante Treiben herzuleihen, es wird zur Dekoration herabgewürdigt. Schließlich kommt kaum mehr allzuviel darauf an, ob der Effekt von der Natur produziert oder mit Hilfe von Pappe, Farbentöpfen und allerhand Beleuchtungsapparaten künstlich hergestellt wird.«

Der Aufsatz »Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur« verschaffte Rudorff eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit, und so fühlte er sich 1887 berufen, eine Eingabe an die Regierungen sämtlicher deutschen Bundesstaaten zu richten, in der er den Schutz »hervorragender Baudenkmäler« forderte. Ein Jahr später legte er der Posener Tagung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine einen Nachtrag zu dieser Eingabe vor, der erstmals den Gedanken der Unterschutzstellung von Landschaftsgebieten und einzelner Naturdenkmäler enthält:

»Es ist hierbei«, ergänzte Rudorff seine Ausführungen zum Denkmalschutz, »nicht nur an den Schutz des Menschenwerkes gedacht, sondern zugleich an die Schonung landschaftlicher Eigentümlichkeiten, insofern die Natur als Bedingung alles menschlichen Wirkens unzertrennlich von diesem bleibt, auch in der Schätzung ihrer historischen Bedeutung. Alte Bäume, Baumgruppen und Büsche, Quellen, Bäche, Wasserfälle, Hügel, Felsen, Felskämme sind unverändert und unberührt zu erhalten. Nicht nur die von seiten der Industrie, des Verkehrswesens, der Spekulation der Gastwirte, der Touristenvereine, usw. drohenden Gefahren sind ins Auge zu fassen, es ist auch, zumal bei Verkoppelungen und Gemeinheitsteilungen, die Berücksichtigung der natürlichen und historischen Verhältnisse (…) zu erwirken.«

Rudorffs Antrag wurde abgelehnt. Doch brachte ihn diese erste Schlappe in keiner Weise davon ab, den Gedanken des Natur- und Heimatschutzes weiter zu propagieren. 1892 hielt er einen vielbeachteten Vortrag über den »Schutz der landschaftlichen Natur und der geschichtlichen Denkmäler Deutschlands« vor dem »Allgemeinen Deutschen Verein« in Berlin.

1897 erschien schließlich in der weitverbreiteten Zeitschrift »Grenzboten« jener Beitrag, der Rudorffs Gedanken zum großen Durchbruch verhalf: Heimatschutz«. Rudorff überspringt hier den engeren Rahmen der Schilderung der Natur- und Landschaftszerstörung und geht erstmals eingehend auch auf die gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen des materialistischen Fortschrittsstrebens ein. Hier finden sich einige der ersten scharfen Töne, die im 19. Jahrhundert gegen die »Ausbeutung aller Schätze und Kräfte der Natur durch industrielle Anlagen aller Art« angeschlagen worden sind. Vor allem zieht der Verfasser von »Heimatschutz« den Bogen von der Naturzerstörung zu einer urbanen, naturentfremdeten Lebensauffassung:

»Die Natur ist zur Sklavin erniedrigt, der ein Joch abstrakter Nutzungssysteme, das ihr völlig fremd ist, gewaltsam aufgezwängt, deren Leistungsfähigkeit ausgepreßt wird bis auf den letzten Tropfen (…) Dem entspricht die Gesamtstimmung unserer Zeit, die ohne jedes Verständnis für ideale Bestrebungen ausschließlich in dem Jagen nach äußerem Glanz und Effekt, nach Bequemlichkeit und materiellem Genuß befangen ist.«

Rudorff war kein Maschinenstürmer. Seine Industriekritik formulierte er aus einer konservativen Position heraus. Allerdings erkannte er im Gegensatz zu vielen zeitgenössischen Konservativen, daß sich das Vertrauen in den technischen Fortschritt und die damit verbundene Normierung der Produktion zwangsläufig auch im kulturellen und politischen Sektor niederschlagen mußte. Banal formuliert, sah Rudorff einen unvermeidbaren Zusammenhang zwischen der ökonomischen und sozialen Vermassung. Seine mahnenden Appelle verstand er als Aufforderung, Maß zu halten, auch im Vertrauen in den Fortschritt:

»Wie es niemand einfallen kann, von einer vernünftigen, höhere Rücksichten achtende Nutzung der Bodenerzeugnisse und Naturkräfte abhalten zu wollen, so könnte auch nur ein Narr fordern, die Menschheit oder ein einzelner Staat solle auf Eisenbahnen, auf Elektrizität oder auf Fabriken verzichten. Aber zwischen Gebrauchen und Gebrauchen ist ein Unterschied. Es kommt alles auf das Maß an, das man walten läßt. Den Wald ausroden bedeutet, wie Riehl einmal ausführte, bis zu einer gewissen Grenze Fortschritt und Kultur; über diese Grenze hinaus bedeutet es Barbarei, und zur Kultur wird umgekehrt das Schonen und Ansäen. Mit dem vermeintlich absoluten Fortschreiten, das die sogenannten Errungenschaften der Neuzeit darstellen sollen, steht es gerade so zweischneidig.«

Es ging Rudorff also darum, rechtzeitig jenen point of no return, jenen Scheitelpunkt auf der Kurve zu erkennen, von wo aus weiteres Fortschreiten zum Niedergang führt. Und Rudorff hielt diesen Punkt – bereits vor annähernd einhundert Jahren – für sehr nahe:

»Wer die Gesamtlage überblickt, dem erscheint der Wendepunkt längst überschritten, der Überschuß an negativen Ergebnissen, wie er in unserer sozialen Entwicklung hervortritt, riesengroß.«

Man fühlt sich bei diesen Ausführungen unwillkürlich an die Positionen des Ökologen Herbert Gruhl erinnert, dessen – von ihm selbst übrigens als »naturkonservativ« bezeichnete – Wachstumskritik bei Rudorff eine frühe Vorwegnahme findet:

»Ist man über allen Verwöhnungen,« fragt Rudorff, »die die Fortschritte der Technik der Menschheit gebracht haben, so weichlich geworden, daß man nichts Dringlicheres glaubt zu tun zu haben, als die ganze Welt, alle Lebenskreise ohne Unterschied mit Danaergeschenken zu beglücken? Daß man die alte Wahrheit ganz und gar vergessen hat: »Reich ist nicht, wer viel besitzt, sondern wer wenig begehrt«? Die Wahrheit des Delphischen Apollo lautete: »Nichts zu viel!« Wir aber leiden an künstlich großgezogenen Bedürfnissen, am »zuviel« in allen Dingen vom Größten bis zum Kleinsten. Ahnt man nirgends mehr die unausbleibliche Nemesis, die jedem Zuviel, jeder Übersättigung folgen muß?«

Die »sozialpolitischen« Konsequenzen, die von Rudorff in seinem Heimatschutz-Artikel skizziert werden, folgen im wesentlichen den analogen Auslassungen Wilhelm Heinrich Riehls. Ihr Kernstück ist die Forderung, die Fabrikarbeit zurückzudrängen und dem Handwerk seinen früheren Einfluß im Wirtschaftsgeschehen wiederzugeben. Rudorff hält dies ökonomisch für sinnvoll, vor allem aber für sozialpolitisch unerläßlich, um einer weiteren Proletarisierung vorzubeugen, »[…] weil das Folgenschwerste darin beschlossen liegt, daß dem Arbeiter die Freude an der Arbeit selbst verloren geht, sobald ihm die eigentliche Leistung von der Maschine abgenommen wird. Nimmt man sie ihm, wie sie dem Fabrikarbeiter genommen wird, der sein Tagwerk gleichgültig herunterhaspelt, so bleibt ihm nur der öde Erwerb, und für die eingebüßte Arbeitsfreude sucht er Entschädigung in Genüssen, die jenseits und außerhalb seines Berufslebens liegen. Wie ungeheuer die sittlichen Gefahren sind, die sich mit einem solchen Zustande einstellen müssen, […] das braucht wohl nicht erörtert zu werden; jeder Blick in das Leben der Gegenwart gibt erschütternde Beweise.«

Folglich könne man »nicht eher wieder zu gesunden Zuständen gelangen, bis der fabrikmäßige Betrieb lediglich auf die Dinge eingeschränkt wird, die einzig und allein nur so gemacht werden können. Alles andere […] muß dem Handwerk zu ausschließlicher Behandlung zurückgegeben werden, weil es seiner Natur nach ihm und nur ihm gehört.«

Nicht ohne Pikanterie sind schließlich Rudorffs Ausführungen zum Sinn und Zweck patriotischer Einstellung. So, wie der Heimatschützer und Künstler gegen die Fassadenkunst der historisierenden Stile der Gründerzeit, die »mit den Flicken aller Länder und Zeiten Komödie« spiele, zu Felde zog, so prangerte er zugleich einen Patriotismus an, der die mit der Industrialisierung einhergehende Entwurzelung der Landbevölkerung und die Vernichtung der »unersetzlichsten vaterländischen Besitztümer« in der Natur feiere. Ein solcher Patriotismus drehe sich den eigenen Strick:

»Wir arbeiten den Ideen der roten Internationalen mit unserer Gleichmacherei geradezu in die Hände. Es ist bezeichnend, daß die Vaterlandslosigkeit fast ausschließlich in den Fabrikbezirken aufgezogen wird. Was gibt es auch an vaterländischen Gütern besonderes zu schützen, wofür das Leben einzusetzen wäre, wenn jede Eigenart der Heimat in ihrem landschaftlich und geschichtlich gewordenen Charakter, jede Volkstümlichkeit und Besonderheit in Wesen, Sitten und Erscheinung getilgt wird […] Die elektrisch beleuchteten Mietskasernen, die Fabrikschornsteine, die Hotels und die Pferdebahnen sehen in dem modernen Rom gerade so aus wie in Berlin oder New York. Das Rennen und Hasten nach Reichtum und Wohlleben, die ganze Phrase der zivilisierten Gesellschaft in Tracht und Gewohnheiten ist dieselbe diesseits und jenseits des Ozeans. Wenn es weiter nichts mehr gibt auf der Welt als das, so ist die Frage erlaubt, warum man sich überhaupt noch bemüht, die Barriere aufrechtzuerhalten, die ein Staat dem anderen gegenüber errichtet. Dann ist es doch das klügste, den Vaterlandswahn abzuschütteln und die ungeheure lange Weile des Einerlei mit der Einführung des Volapük als Weltsprache zu besiegeln.«

Nun war Ernst Rudorff keineswegs bereit zu resignieren, auch wenn er mehr als einmal betrübt erkennen mußte, daß »diese Wahrheit gerade auf konservativer Seite noch immer nicht in ihrer vollen Tragweite gewürdigt wird«. Seine durchaus beachtlichen Vorschläge zur Milderung der sozialen Lage in den Städten, für die er die Errichtung von Einzelheimen mit Gartengrundstücken vorschlug, um den Menschen noch eine Verbindung zur Natur zu ermöglichen und sie nicht vollends in die Öde der Mietskasernen hinabsinken zu lassen, wurden freilich nicht zur Kenntnis genommen. Auch für seine Überzeugung, das Heranführen der einfachen Menschen an die Schönheit der Natur und Kultur brächte eine Stärkung ihrer konservativen Grundeinstellung, erntete Rudorff nur in geringem Maße Zustimmung. So hielt Rudorff es schließlich für angebracht, die eigene vornehme Zurückhaltung aufzugeben und eine feste Institution zur Durchsetzung des Heimatschutzgedankens aufzubauen:

»Die kostbarsten Erbgüter der beständigen Gefährdung, der sie durch die Rücksichtslosigkeit des modernen Materialismus preisgegeben sind, zu entziehen, in der Jugend Ehrfurcht und Liebe für sie als für die unverletzlichsten Heiligtümer zu wecken und zu pflegen, das wäre ein solideres Förderungsmittel für Heimat- und Vaterlandsliebe als Feuerwerk und Blumenguirlanden samt allen schönen Reden, mit denen heute patriotische Festtage im Übermaß gefeiert zu werden pflegen (…) Hier zu retten, durch energischen Zusammenschluß, durch Aufrüttelung der Geister, namentlich auch der Jugend, durch rastloses Bemühen, einen Umschwung der allgemeinen Stimmung herbeizuführen und so auch auf die Gesetzgebung Einfluß zu gewinnen, durch Aufbringung großer, bedeutender Geldmittel, mit deren Hilfe allmählich ein Nationalbesitz unveräußerlicher, unantastbarer Heiligtümer der Natur und der Geschichte erworben werden könnte – es wäre die vornehmste Aufgabe für alle, die nicht Parteiatome sind, sondern Menschen mit einem vollen Herzen für die wahre Größe und Hoheit des Vaterlandes.«

Die Jahre nach Erscheinen dieses Aufrufes waren für Rudorff geprägt durch Vorgespräche mit Politikern und Künstlern, die für den Gedanken des Natur- und Denkmalschutzes empfänglich waren. Am 30. März 1904 kam es schließlich zur Konstituierung des »Deutschen Bundes Heimatschutz«. Zu den Unterzeichnern des Gründungsaufrufes zählten so namhafte Persönlichkeiten wie Peter Rosegger, Felix Dahn und Heinrich Sohnrey. Die erste Aktivität des Bundes, die Rettung der Laufenburger Stromschnellen, wurde darüber hinaus auch von Friedrich Naumann, Werner Sombart und Max Weber unterstützt. Auf der Gründungsversammlung in Dresden hatte Ernst Rudorff auf die ihm angetragene Kandidatur zum Vorsitz des Heimatschutzbundes zugunsten des Architekturkritikers Paul Schultze-Naumburg verzichtet; allerdings trägt das Programm des Bundes unzweideutig Rudorffs Handschrift.

In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war so in Deutschland eine natur- und kulturkonservative Bewegung entstanden, die – bei allen Widerständen seitens der Bürokratie und der Großindustrie – auf manche Erfolge verweisen konnte. Der Bund Heimatschutz hatte maßgeblichen Anteil an der Einrichtung von Heimatmuseen und konnte in Sachsen und Bayern sogar an gesetzgeberischen Maßnahmen zu Fragen des Naturdenkmälerschutzes mitwirken. Darüber hinaus reichten die Aktivitäten der einzelnen Verbände von Maßnahmen gegen Gewässerverunreinigung, Ausrichtung von Heimatfesten und dem Kampf gegen überzogene Flurbereinigungen bis hin zur Beratung bei Bauprojekten wie Stauseen und Wasserkraftwerken.

Ernst Rudorff wurde anläßlich seines 70. Geburtstages eine späte Würdigung seiner Arbeit zuteil. Die Berliner Musikhochschule umrahmte einen Festakt mit der Aufführung seiner bedeutendsten musikalischen Werke und die staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Tübingen verlieh ihre Ehrendoktorwürde einem, wie es in dem Diplom hieß, »edlen Menschen, dem feinsinnigen Musiker und ausgezeichneten Lehrer, dem warmherzigen Freund der deutschen Heimat, der […] eine mächtige moderne Kulturbewegung entfacht hat.«

Wie machtvoll diese Kulturbewegung geworden war, zeigte 1912 der internationale Kongreß für Heimatschutz in Stuttgart: Elf Nationen, darunter auch Japan, hatten eigene Delegationen entsandt.

Ernst Rudorff erlebte diesen Kongreß noch. Vier Jahre später, am Silvesterabend des Jahres 1916, schloß er wenige Minuten vor Eintreten der Jahreswende für immer seine Augen.

Die Mahnungen aus seinen wichtigsten Schriften, »Heimatschutz« und »Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur« haben über seinen Tod hinaus Gültigkeit behalten; ja, immer wieder neue Bestätigung erfahren. Er war einer der ersten, die auf den ursprünglichen Zusammenhang von Natur- und Kulturzerstörung, Massenproduktion und Massengesellschaft, sozialer und nationaler bzw. regionaler Entwurzelung hinwiesen und damit Probleme anriß, die auch heute noch ihrer politischen Lösung harren. Und so hat dieser deutsche Begründer des Naturschutzes, jener erste wirkliche »Naturkonservative«, auch heute noch seine Aktualität, wenn er warnt:

»Die Welt wird nicht nur häßlicher, künstlicher, amerikanisierter mit jedem Tag, sondern mit unserem Drängen und Jagen nach den Trugbildern vermeintlichen Glücks unterwühlen wir zugleich unablässig, immer weiter und weiter den Boden der uns trägt.«

Literatur:

  • Ludwig KLAGES: Mensch und Erde. Ein Denkanstoß. Mit einem Vorwort von Prof. Grzimek. Bonn 1980.
  • Ernst RUDORFF: Aus den Tagen der Romantik. Bildnis einer deutschen Familie. Leipzig 1935.
  • —: Heimatschutz. In: Grenzboten, Nr. 2, S.401—414 und Nr. 4, S.455—468. Berlin 1897.
  • —: Heimatschutz. (Broschüre). Leipzig u. Berlin 1901.
  • —: Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur. In: Preußische Jahrbücher, Nr. 45, Jg.1880, S.261—276, Berlin 1880.
  • Walther SCHOENICHEN: Naturschutz, Heimatschutz. Ihre Begründung durch Ernst Rudorff, Hugo Conwentz u.a. Stuttgart 1954.
  • Rolf Peter SIEFERLE: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart. München 1984.

Heinz-Siegfried Strelow

Geboren 1965 in Hannover, Mitgliedschaft in verschiedenen Umweltverbänden. Von 1986 bis 1988 Mitarbeiter Herbert Gruhls im Bundesvorstand der Ökologisch-Demokratischen Partei. Seit 1989 wieder parteifrei publizistisch tätig zu den Themengebieten Ökologie, Heimatpflege und Regionalismus.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen in der wir selbst-Ausgabe 1/1991.

Oimara – Liedermaching von der Alm am Tegernsee

von Hanno Borchert

Oimara

Liedermaching von der Alm am Tegernsee

Mein erster Gedanke nach zwei Gläsern feinstem Montalcino: Diese Mucke muß über Bayerns Grenzen in strahlendem Glanz ertönen (ne, echt!), unbedingt einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Darauf werde ich später zurückkommen. Also jetzt.

Aber erstmal ist Mitternacht durch und an Schlafen vorerst nicht mehr zu denken. Soeben werden mir die Sinne bei meinem regelmäßigen nächtlichen Streifzug durch die Weiten und Tiefen „YouTubes“ auf der Suche nach neuen musikalischen Inspirationen von drei exorbitant coolen Songs geschärft. Ich bin hellwach! „Oimara“ hat mich in seinen Bann gezogen. „Oimara“ alias Beni Hafner von der Alm am Tegernsee im tiefsten Bayern.

Aus dem Musikvideo zu „Stammtisch“, © Oimara
https://www.youtube.com/watch?v=wqDl6SUWP1I

Ok Leute, nun bleibt mal locker. Coole Songs müssen nicht zwingend aus London, New York oder Berlin kommen…

„Oimara“ ist Liedermacher, schreibt und singt seine eigenen Lieder, wenn man so will Volkslieder, keine alten, sondern neue, moderne halt. Seine außergewöhnliche Wortgewandtheit, sein teils frecher Wortwitz und humorvolle Zweideutigkeit kommen in lokaler Mundart daher und werden untermalt von einem feinen Fingerpicking an der Gitarre. Seine charismatische Stimme vermittelt einen schnellen Zugang zu seinen musikalischen Streifzügen durch die Heimat, seinen Betrachtungen und Reflexionen, die der Künstler da, auch in kabarettistischer Art und Weise, mit einem fetten Augenzwinkern seit ein paar Jahren auf Video gebannt hat und bei Live-Auftritten in der Region präsentiert. Diverse Musikgenres werden bespielt, Rockiges zum Beispiel. Bluesiges scheint immer wieder durch, mal mehr, mal weniger, ist sozusagen der musikalische rote Faden, ohne wirklich im Vordergrund zu stehen. Und ein wenig gejodelt wird auch.

Absolute Höhepunkte seines Schaffens und damit Anspieltips auf „YouTube“ sind für mich auf jeden Fall die oben erwähnten Songs „Lederhosn“, „Stammtisch“ und „Bierle In Da Sun“, die mich um meinen Schlaf gebracht haben. Das ist wahrlich meisterlich!

Letzterer Song war auch Namensgeber für das CD-Erstlingswerk im letzten Jahr, welches Beni Hafner zusammen mit seiner Band im Studio eingespielt hat. Die Scheibe vermittelt, ebenso wie die Videos, eine frische, positive und gleichwohl bodenständige Grundstimmung und man spürt beim Zuhören förmlich, daß der Urheber emotional mit seiner Region, seiner Heimat stark verwurzelt ist. Die Poesie seiner Lieder ist eng verbunden mit der Poesie des Lebens.

Aus dem Musikvideo zu „Lederhosn“, © Oimara
https://www.youtube.com/watch?v=W6thq03rec8

„Bierle In Da Sun“ ist ein richtig geiles Volks-Pop-Album voller kleiner Raffinessen und hoher Dichte, wo nicht einmal der Anflug von Tristesse aufkommt.

Es macht große Freude, sich der Musik „Oimaras“ hinzugeben und man kommt nicht umhin, sie auch mit dem Herzen zu hören. Wahrscheinlich, weil die Lieder von Beni auch mit dem Herzen geschrieben wurden.

Bei Beni Hafner stimmt so ziemlich alles. Eine kleine Sensation in der bayerischen Musik- und Kulturwelt. Und hoffentlich bald weit darüber hinaus!

Oimaras Konzerttermine sind seiner Webseite zu entnehmen: https://oimara-musik.de

Die CD „Bierle In Da Sun“ ist auch hier bei seinem Label zu erwerben: https://www.bognermusik.de/search?sSearch=oimara

Hier ein paar Musikstücke zum Anspielen:

Lederhosn

Oimara – Lederhosen

Stammtisch

Oimara – Stammtisch

Bierle In Da Sun

Oimara – Bierle In Da Sun

Hanno Borchert

Hanno Borchert, Cuxhavener Jung von der Elbmündung, Redakteur der alten wie neuen „wir selbst“, zwischendurch Redakteur der „Volkslust“. Ausgebildeter Handwerker mit abgeschlossenem Studium der Wirtschaftswissenschaften, der gerne liest, wandert, musiziert, malt und sich mit der Kunst des Graphik-Designs beschäftigt. Aktiver „Alter Herr“ der „Landsmannschaft Mecklenburgia-Rostock im CC zu Hamburg. Parteilos. Ist häufig auf Konzerten quer durch fast alle Genres unterwegs. Hört besonders gerne Bluegrass, Country und Irish Folk und darüber hinaus derzeit u.a. Gerhard Gundermann, Herbert Pixner Projekt, Andreas Gabalier, Rammstein, Delvon Lamarr Organ Trio, Jefferson Airplane, Velvet Underground und den Nachwuchskünstler Tom Mouse Smith.

Paradies als Heimat, Heimat als Paradies

Der Sonntagsspaziergang, Öl auf Holz
Karl Spitzweg, 1841

von Günther Nenning

Paradies als Heimat, Heimat als Paradies

I. Das Paradies gibt es

Das Paradies gibt es nicht. Doch, das Paradies gibt es. Es gibt die „Heimat, wo wir noch nie waren“ (Ernst Bloch). Es gibt den „Schatten an der Mauer, von Ästen bewegt im Mittagswind, Teilnahme am Himmelsspiel“ (Gottfried Benn). Es gibt „ein seltenes Ankunftsgefühl, verbunden mit dem frischen Rotbraun des gerade umgegrabenen Gartens“ (Peter Handke). Es gibt „beinahe eine Art Festung, in der man sich wohlig geborgen fühlt“ (Friedrich Torberg).

„Du mein Ort, du kein Ort, über Wolken, unter Nacht, über Tag. Ich deine Welle, du meine Erdung“

Ingeborg Bachmann

Oh Gott, was für ein Chor. Bloch, Benn, Handke, Torberg, Bachmann, immer so abwechselnd, immer so weiter, einmal links, einmal rechts, das hab ich absichtlich so ausgewählt. Man muß die Linken ärgern, indem man Rechte zitiert, man muß die Rechten ärgern, indem man Linke zitiert. Die Wahrheit ist nicht links oder rechts, sondern Stücke Wahrheit sind links und rechts und unten und oben.

Heimat ist ein Stück Wahrheit, ein Vordergrund und Hinterhalt, und keiner kommt unbeschädigt dran vorbei. Heimat ist ein Rufzeichen und ein Fragezeichen.

Der letzte erhaltene handschriftliche Satz von Martin Heidegger vor seinem Tod (1975) lautet: „Denn es bedarf der Besinnung, und wie im Zeitalter der technisierten, gleichförmigen Weltzivilisation noch Heimat sein kann.“
Ob und wie? Und ob und wie!

II. Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft

„Schlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!“ – Macht man ernst mit diesem historisch ehrwürdigen Schlag- und Stichwort, muß man auch die postmoderne Gleichung ernstnehmen: Faschismus ist Nationalismus ist Faschismus. Und man muß Faschismus/Nationalismus verfolgen bis in sein neuestes, unverdächtiges Versteck, seine kuschelige Euro-Datscha, am Eingang der Sinnspruch in mehreren Sprachen: „Kam’raden, werdet nicht nervös / Wir legen das alte Gesäß / In neue regionale Falten / Und bleiben doch die Alten.“

Andre Fontaine hat in „Le Monde“, unter dem treffenden Motto „Das Märchen vom absterbenden Nationalismus“ eine Liste von 14 regionalen Konfliktzonen präsentiert, weltweit. Er hält Regionalismus eher für ein Heilmittel gegen Nationalismus, und ich will ihn für meine genau gegenteilige Interpretation nicht einspannen. Mir scheint seine kühn subsu­mierende Liste hilfreich, wenn man Regionalismus einmal nicht verharmlosen, sondern dramatisieren will.

Die Liste, in Fontaines bunter Reihenfolge, lautet (die Schlußfolgerungen sind meine):

  • England, das sich in eine sezessionistische Außenregion der EU verwandelt.
  • Auflösung der Sowjetunion in eine bunte Landkarte von Regionalismen, in Wahrheit Nationalismen mit politischen, kulturellen und ökonomischen Ehrgeizen; das zentrale Rest-Reich versucht sie zu beschwören durch Eingliederung als Regionen. Das ist die gleiche Beschwörung, die die EU versucht.
  • Auflösung Jugoslawiens, wo der in Rußland unternommene Versuch, Nationalismen zusammenzufügen zu Regionalismen unter zentralem Dach, offenkundig und blutig gescheitert ist.
  • Kanada, mit fast gelungener Abspaltung der leidenschaftlich französischen Region Quebec.
  • Spanien, wo eine schwache rechtskonservative Regierung überleben will durch Konzessionen an den eingewurzelten Regionalismus der Katalanen. Der noch stärkere Regionalismus der Basken setzt sich fort mit intermittierendem Terror.
  • Nochmals Rußland, im blutigen Konflikt mit dem tschetschenischen Nationalismus, dessen Zähmung zu Regionalismus bereits mißlungen ist.
  • China, dessen ökonomisch, kulturell und sprachlich sehr diversen Küstenregionen zur Abspaltung neigen, sobald die Zentralregierung nicht stark genug ist.
  • Zerfall der Tschechoslowakei; in der nun selbständigen Slowakei heftiger Regionalismus/ Nationalismus der Ungarn.
  • Rumänien; gleichfalls starker ungarischer Regionalismus/Nationalismus.
  • Frankreich; eingewurzelter Regionalismus/Nationalismus auf Korsika, komplett mit blutigem Bombenterror.
  • Nochmals Britannien; der endlose und endlos blutige irische Regionalismus/ Nationalismus.
  • Belgien; Flamen und Wallonen, Regionalismus/Nationalismus schon bis zur faktischen Zweiteilung des Landes und seiner Hauptstadt; welche ironischerweise die Hauptstadt des vereinten Europa ist.
  • Italien; der lombardisch-venetische Regionalismus/Nationalismus; mit grotesken Zügen, aber politisch und ökonomisch vielleicht ernstzunehmen.

Fontaines Liste ist nicht komplett, aber wahrhaft ausreichend für die Frage: Ist Regionalismus so harmlos wie er im EU-Quacksprech aufscheint? Ist Regionalismus nicht vielmehr die neue Verkleidung des alten Nationalismus?

Nationalismus pflanzt sich fort durch Zellteilung.
Im Schoße der alten Nationalstaaten, deren feste
Fügung nun aufgeweicht wird durch die europäische
Integration, entstehen neue Nationalismen, die von
harmlosen Gemütern als Regionalismen dekretiert
werden, und sogar als Alternativen zum Nationalismus.

In Wahrheit handelt es sich um Nationalismus zum Quadrat: der ökonomisch motivierte Euro-Nationalismus der EU wird gesprengt durch neue Nationalismen in den alten Nationalstaaten; die alten Nationalstaaten werden gesprengt durch den neuesten Nationalismus namens Regionalismus.

Ja, ja, Regionalismus ist EU-konform. Übersetzt aus dem Euro-Quacksprech in der Euro-Realität heißt das: Regionalismus ist Fortsetzung des Nationalismus mit anderen Mitteln, die die gleichen sind, nur EU-gefördert.

III. „Regio“, königliches Land

„Regio“ war zu gewissen Zeiten ein dem „rex“ gehöriges Gebiet, „Königsland’’.
Im frühen Mittelalter bezeichnete dies die Hervorhebung von wesentlichen Besonderheiten eines Landes unter königlicher und insofern zentraler Verwaltung. Aber „königlich“ war nicht nur der administrative Ausdruck von Oberhoheit und Einheitlichkeit; „königlich“ bezeichnet metaphorisch auch die hochrangige Eigenheit der betreffenden Region.

„Königlich“ als höchstes erhältliches Adjektiv bezog sich sowohl auf Rang und Besonderheit der Region wie auf deren Unterworfenheit unter den König. Sie waren gleichwertig, Besonderheit und Einheitlichkeit. Buntheit, Vielfalt und Vielzahl der Regionen waren unerläßlich für Glanz, Wert und Würde einer darüber gebreiteten Einheit des Reiches. Heute ist das umgekehrt. Die Verschiedenheit der Regionen ist störend und ärgerlich für die notwendige Einheitlichkeit des Marktes. Statt Regionaltrachten „United Colors of Benetton“.

Zu Wert und Würde EU-Europas trägt regionale Vielfalt nicht nur nichts bei, sondern sie ist ein Hindernis für die Wertschöpfung. Wenn in jeder Region anders gegessen, anders getrunken, anderes Zeug konsumiert werden will – so muß Regionalismus abgeschafft werden, möglichst rasch und möglichst radikal. Verschiedenheit ist altmodischer Blödsinn.

Freiheit der Wirtschaft heißt: Sie ist frei alles zu beseitigen, was ihrer Freiheit entgegensteht, uns allen immer mehr vom immer Gleichen zu verkaufen. Unser Lohn ist Billigkeit in jeglichem Sinn.

Die Hoheit der Region, die in ihrer Etymologie sich als eine „königliche“ enthüllt, ist in der Demokratie des National- wie des Kontinentalstaates nicht herstellbar. Und zwar genau bis zu dem Zeitpunkt nicht, wo ihre Wiederherstellung nötig wird: nämlich bei Scheitern der zentralisierenden und konzentrierenden Wirtschaftsweise und damit verknüpfter emotionaler Wiederkehr von Halt und Wurzel in einer Heimat.

Das ist Zukunftsmusik. Derzeit ist ernsthafte Autonomie der Regionen zwar wesentlicher Bestandteil wahrer Demokratie, aber nicht realisierbar in der realen Demokratie, mit zentraler Regierung, zentralem Parlament und deren Übermacht über alle denkbaren regionalen Konzessionen.

Wahre Autonomie der Regionen widerspricht den ureigenen Interessen der Zentralinstanzen, vor allem den Interessen der von diesen Zentralinstanzen geförderten zentralisierenden Ökonomie.

Die historische Hauptaufgabe politischer Zentralinstanzen ist die Förderung einer einheitlichen Ökonomie. Dieser ökonomische Zweck war der historische Hauptzweck der Nationalstaaten und ist der aktuelle Hauptzweck des Kontinentalstaates, als welcher sich die Brüsseler Bürokratie etablieren möchte. Die Regionen spielen da nur eine Rolle als verschleierndes Blabla in unzähligen EU-Papieren.

„Integrierte Regionalentwicklung“ heißt: Stört die Integration nicht, ihr kriegt zur Belohnung schöne Worte und vielleicht ein bißchen Geld.

IV. Region, ein Schwindel

„Region“ ist ein Schwindel, ein Kunst- und Heuchelwort. „Region“ ist die Ausrede für alle, die sich nicht getrauen, „Heimat“ zu sagen. Und erst recht für alle, die Heimat redlich hassen. Und zwar sind sie desto gehässiger, je tiefer ihre innerste Sehnsucht ist nach Heimat und Halt.

Mir sind die redlichen Heimathasser lieber als die Vorsichtigen, die „Heimat“ schon sagen möchten, aber „Region“ sagen, um sich keine politischen Verdächte einzuwirtschaften.

Es ist ein Teufelskreis. Weil jene vielen, die „Heimat“ sagen möchten, sich fürchten, „Heimat“ zu sagen, werden jene wenigen, die „Heimat“ trotzdem sagen, desto gehässiger heruntergemacht von den Heimathassern.

Hoch lebe die Region! Sie ist das Zauberwort für Verschweiger und Verharmloser.
Freilich ändert sich das allmählich zum schlimmbesseren. Im Zuge des schleichenden Rechtsrucks wird Heimat ein Modewort im fremdenverkehrsfördemden Talmi-Kulturbetrieb. Wer alles heute wieder von „Heimat“ redet und mit ihr in Wahrheit nichts am Hut hat – das ist arg.

Kein noch so ehrenwerter Veranstalter entgeht gänzlich dem Verdacht Kundiger wie Unkundiger, daß er neben die politisch korrekte „Region“ die unkorrekte „Heimat“ deswegen setzt, weil ma halt scho wieder derf und weil’s vielleicht gut ist für die „integrierte Regionalentwicklung“, wie das im EU-Slang genannt wird. Heimat wird wieder, was auf anglodeutsch „trendy“ heißt.

„Region“ und „Heimat“ stehen in einem Zusammenhang, in welchem kompliziertes Herumreden die bessere Lösung ist, verglichen mit der Wahrheit. In Wahrheit bleibt „Region“ ein Kunstwort zur Behübschung der Integration EU-Europas, sprich: Vereinheitlichung, Konzentration und Zentralisation.

Was immer man hinzufügt zu „Region“, es bleibt ein Krampf. „Integrierte Regionalentwicklung“ ist Gipfel der Heuchelei. Integration ist die Einschmelzung aller Heimaten in eine große Nicht-Heimat; die daraus resultierende Halt- und Rat-, Hilf- und Heillosigkeit, Depression und Desperation der Seelen wird verschlimmbessert durch Konsum, Konkurrenz, Jobangst, Jobverlust, Wachstum, Weltmarkt und andere Borniertheiten.

Gerade darum wird „Region“ immer schwindelhafter, „Heimat“ immer aktueller. Zwecks Gegenwehr kommt es zur Mobilisierung einer ganzen Euro-Brigade von „Regionalwissenschaftem“ zur Unterfütterung der dürftigen Regionalideologie gemäß Maastricht-Vertrag. Auf Wissenschaftsdeutsch heißt Heimatgefühl „kognitive und emotionale Regionalidentitäts­akzeptanz“. Oh Heimat, ich krieg Regionsweh nach dir.
Dürftiges Ergebnis der neuen „Regionalwissenschaft“:

„Regionalidentifikationsakzeptanz“ (Heimatgefühl) läuft über Ästhetik und Geschichte. „So schön wie bei uns ist’s nirgends“.

Und, Zitat vom feinsten: „Ich will nur dort sein, wo schon etwas gewesen ist“ (Ingeborg Bachmann).

Geschichte ist die große Feindin aller Modernität. Vergangenheit ist unausrottbar. Vergleiche mit der Vergangenheit können schiefgehen zuungunsten der Gegenwart und erst recht der Zukunft. Dieses Risiko will Modernität nicht eingehen. Alle Geschichte ist verdächtig; alle Schönheit ist verdächtig. Wer Geschichte schön findet, ist reaktionär. Wer reaktionär ist, findet Schönheit schön. Mehr noch als Geschichte ist Schönheit die Feindin von Gegenwart und erst recht Zukunft. Training auf Häßlichkeit ist Überlebenstraining. Wir müssen das Hexeneinmaleins lernen: Häßlich ist schön, und schön ist häßlich.

Schöne häßliche Zukunft: Unter dem Kommando des sich konzentrierenden Kapitals werden die Regionen eingeebnet. Ihre schönen Idiosynkrasien sind ebenso viele häßliche Hemmnisse für die Einheit des Marktes. Die Vernichtung der Regionen geschieht unter ständigem Absingen von Hymnen auf den Regionalismus.
Natürlich ist die EU, zusammengsetzt aus demokratischen Staaten und selber so ungefähr vierteldemokratisch – nicht zu vergleichen mit totalitären Staaten. Insofern aber schon, als auch in ihr das Regionale eine Art Folklorismus darstellt, zur Tarnung eines in allen wesentlichen Punkten zentralistischen und bürokratischen Gebildes. Unterm kommunistischen Zen­tralismus ist ja gleichfalls das regionale Trachtenwesen, das Volkstänzen und Volkssingen lebhaft gefördert und subventioniert worden bis zum Tode.

Der Schein-Regionalismus ändert nichts am ökonomischen Prozeß, der sich machtvoll in der EU vollzieht. Die EU ist der gewaltigste ökonomische Konzentrationsprozeß in der Geschichte Europas. Die Regionen sind nur Feigenblätter. In Wahrheit ist der EU-Kaiser nackt.

V. Ökonomie statt Heimat

Politik ist Phantasie, Kraft und Kunst zugunsten des Polis. Als solche scheint sie, von Ausnahmen abgesehen, nicht mehr vorfindbar, nicht in den einzelnen EU-Nationalstaaten, nicht in der EU-Zentrale.

Politik hat abgedankt zugunsten Ökonomie. Politik macht nur noch Begleitmusik zur Ökonomie. Und Ökonomie verfehlt immer deutlicher ihre altmodische, wortwörtliche Zieldefinition: OIKONOMIA als Kunst, wie man gut wirtschaftet zugunsten der Menschen im Haushalt wie im Staat.

Adam Smith war, was immer man sonst von ihm halten mag, Professor der Moralphilosophie. Bill Gates ist seine Karikatur, ein Buberl, übersät mit den eitrigen Pusteln des Profits.

In Österreich haben wir einen absterbenden Nachklang der wahren Ökonomie als Akkord von Leben, Arbeit und Nahrung, alle drei sowohl schwierig wie gesund: Der Bundespräsident verleiht an verdiente Landwirte den Titel „Ökonomierat“. Aber immer seltener, denn Landwirtschaft ist ihrem Urgrund gemäß keine Profitwirtschaft.
Derzeitige Ökonomie ist das Gegenteil von gesundem Leben, gesunder Arbeit, gesunder Nahrung. Ökonomie verkommt zum dummdreisten Ersatz von arbeitenden Menschen durch zweckmäßige Maschinen. Ökonomie degeneriert zum reinen Unsinn: Wenn „alle“ keine Arbeit mehr haben, kann „keiner“ mehr was kaufen. Finis mundi capitalistici. Kladderadatsch.

Bis dahin gilt: Ökonomie ist allmächtig. Ob Region oder Heimat, beide verkommen zur zynischen oder nostalgischen Redensart. Beide sind nur noch gut zum Schindluder treiben.

Nur in einem einzigen Punkt kehrt sich das Machtverhältnis um. Weder die Ökonomie noch gar ihre Hure, die Politik, vermögen unserem Leben Sinn zu geben, anderen Sinn als Blödsinn. Heimat kann genau dies. Und zwar unbeschadet jeglichen Schindluders, das mit ihr getrieben wird.

Heimat ist stärker als ihr Mißbrauch. Sie kann Sinn bieten. Halt, Wurzel, Geborgenheit, überhaupt Gefühl – all das, was derzeit weder Politik noch Ökonomie bieten.

Die Gefühlspotenzen von Politik und Ökonomie sind näherungsweise null. Altbewährte Mythen und Verführer wie Konsum, Wohlstand, Leistung landen auf der Mülldeponie der Weltgeschichte, Arbeitslosigkeit wird zur einzig verallgemeinerungsfähigen Zukunft.
Auch die gefürchtete mythologische und ästhetische Potenz faschistischer Politik ist nur noch eine Karikatur der Hitler- und Mussolinizeit.

Je geringer die Gefühlspotenzen von Politik und Wirtschaft zu veranschlagen sind, desto höher steigt der Mythos Heimat. Zumal auch Kultur und Kunst, modern gefaßt oder postmodern, derzeit, von wichtigen Ausnahmen abgesehen, meist keine Gefühlsmacht haben über die sogenannte „breite Masse“. Ebendrum ist dies die Stunde der „Volksmusik“, der schlech­ten wie der guten.

Wir befinden uns in einer Stunde Null, abzulesen am verläßlichen Barometer Literatur. Die neue Gefühlspotenz der Heimat hat sich kaum noch in die Aktualität von neuer Heimatliteratur umgesetzt, gemeint als Literatur, die strengen und strengsten Kriterien standhalten müßte.

Umgekehrt ist auch die Antiheimatliteratur solchen Kriterien nicht gewachsen. Gerade im konservativen Österreich hat die Antiheimatliteratur Karriere gemacht. Sie brachte es zu angeblich oder wirklich internationaler oder wenigstens deutscher Beachtung. Aber das war ein typisch österreichisches Umkehrphänomen: Die Österreicher kommen immer dann in den Rang einer Avantgarde, wenn sie ihr eingeboren Konservatives bedenkenlos auf den Kopf stellen.

Wo Heimat auf reaktionäre Weise geliebt wird, kann sich Heimathaß als fortschrittlich etablieren. Österreichliebe und Österreichhaß sind zwei Seiten der gleichen Heimweh-Medaille.

VI. Geistige Wühlarbeit

Auf die EU schimpfen ist leicht und schön. Aber was soll geschehen?
Die ökonomische Entwicklung zu Größe und Einheit und die zugehörige psychische Entwicklung und vergebliche Feier von Größenwahn und Einheitswahn – läuft allen wesentlichen Interessen der Regionen/Heimaten stracks zuwider. Der EU-Kapitalismus ist eine Entwicklungsphase von großer historischer Dynamik. Man kann sie nicht überspringen oder weg­ dekretieren, vielleicht abkürzen oder mildern.

Nur diesen Trost kann sich aus der Geschichte jeder ihrer Liebhaber holen: Noch so unwiderstehliche Haupttendenzen einer Epoche erzeugen stets Gegentendenzen. Die Haupttendenz arbeitet durch Verallgemeinerung, Ausdehnung und Überdehnung schließlich an ihrem eigenen Untergang. Ebendrum kann und muß man Gegentendenzen fördern, ohne pedantische Beachtung ihrer realen Nullchancen im gegebenen historischen Augenblick.

Untergangsarbeit ist immer zuerst Ideenarbeit. Geistige Wühlarbeit. Die frontal und derzeit unbesiegbare Haupttendenz wird von seitwärts und ins künftig angegriffen, unter- und schließlich begraben. Mit jener mysteriösen Eleganz, die auf Begräbnissen der Weltgeschichte derigueur ist.

Die gegenwärtige Haupttendenz der Ökonomie,
in Richtung auf Übergröße und Übertechnisierung,
zerstört den Arbeitsmarkt und damit zugleich den
Konsumentenmarkt. Sie ist so konsequent blind und
blöd wie ökonomische Tendenzen immer.

Genau dies öffnet das weite Feld der Ideenarbeit. Während die realen Arbeitsplätze schwinden, kriegen die Ideenarbeiter, unbeschadet dessen, daß sie gleichfalls joblos werden, zu tun. Im klassisch-kritischen Aufweis der Dummheit der Ökonomie, und viel wichtiger und munterer: Im Aufbau von gegenständigen Geisterreichen.
Zu den subversiven Geisterreichen gehören: Heimat, ganz allgemein und hervorragend; Österreich, mit all seinen lächerlichen Eigenheiten und Dauerhaftigkeiten; Mitteleuropa, als ein konservatives Gegenreich zum fortschreitenden Westen. Und sonst noch allerhand.

So wenig wir uns die Haupttendenz der gegenwärtigen Geschichtsepoche aussuchen können nach unserer ideologischen Geschmacksrichtung, so wenig können wir dies mit den Gegentendenzen.

Am besten sind wir noch dran mit der ökologischen Gegentendenz zur ökonomischen Haupttendenz. Bei flüchtigem Hinblick kann uns das „Grüne“ als schlechthin fortschrittlich erscheinen. Wir können es entdecken im Zug zum Kleinen und Eigenständigen, das zum Wesen des Regionalen wie Heimatlichen gehört. Und ins „grüne“ Fach können wir auch ein­schlichten das angeblich ökologische Musterland Österreich.

Und Österreich wie Mitteleuropa sind beide natürlich auch „grün“ als Widerstandszentren gegen Giga-Europa und dessen ökonomische und technologische Monstrosität..

Theoretisch bringt das alles nicht viel, aber praktisch wärmt es das Herz. Und Widerstandsarbeit ist nur möglich und lustig als Herzensarbeit.

VII. Heimat wörtlich

Bezeichnenderweise hat das deutsche Wort „Heimat“ keine genaue etymologische Entsprechung in anderen europäischen Sprachen. Auch bedeutungsgeschichtlich steht „Heimat“ isoliert da als typisch deutsche Gefühlsduselei. „Heimat“ und unübersetzbar. Als Fremd- und Spottwort geistert es durch andere Sprachen, wenn Deutsches, Allzudeutsches denunziert werden soll und muß.

Das gilt nur für das emotional und ideologisch aufgeladene Abstraktum „Heimat“. Das schlichte Konkretum „Heim“ hingegen hat sehr wohl seine Entsprechungen in allerlei europäischen Sprachen bis hinauf zum alten Griechischen.

„Heim“ hat als indo-europäische Wurzel KOIM, die sich im Griechischen findet in:
KOME, „Dorf’, eigentlich „Heimstätte“. Es ist das Wort für unkriegerisches, friedliches Siedeln. Im Gegensatz zu POLIS, der befestigten Stadt mit krönender Burg (AKROPOLIS), wo die Organe des Staates ihren heiligen Sitz haben und die ewig kriegführenden Ritter und Militärs. Als Fremdwort gehören hierher: „Polizei“ und „Politik“. POLIS, die Stadt ist politisch; KOME, das Dorf, unpolitisch.

KOMOS, „Festzug, Gelage, Tanz, Gesang“, ursprünglich: „Umzug ausgelassener, angetrunkener Dorfjugend“. Als Fremdwörter gehören hierher: „Komik“ und „Komödie“.
KOMA, „Liegen, tiefer Schlaf, Todesschlaf’. KOIMEMA, „Liegen, Schlafen“, ebenso „Beiwohnen, Beischlaf’. KOIMETERION, „Schlafzimmer“, ebenso „Grabstätte“.
KOIMESIS, „Liegen, Schlaf’, ebenso „Todesschlaf, Heimgang“. In ostchristlicher Theologie und Ikonenmalerei ist dies das Wort für die „Entschlafung Mariens“ und ihre anschließende Himmelfahrt am 15. August. Sie stirbt und steht wieder auf; genaugenommen stirbt sie gar nicht, schläft nur und kommt gleich in den Himmel. Seltsam genug hat Maria den Vorzug vor Jesus, daß sie aufersteht ohne gestorben zu sein.

In dieser sehr reichen Verzweigung läßt sich die Wortsippe „Heim“ trümmerhaft auch in anderen europäischen Sprachen aufspüren.

Übrigens gehört zur Wortfamilie von „Heimat“ und „Heim“ natürlich auch das „Heimchen“, die Grille, die in ihrem Käfig am häuslichen Herde gemütlich ihr Liedchen zirpt, während die gute Suppe brodelt.

Heimat ist, wo es zirpt.
Heimat ist, wo man liegt, sich befindet,
ißt und trinkt, musiziert, tanzt, besoffen ist.
Feste feiert, mit komischem Beigeschmack.
Heimat ist, wo man stirbt, tot da liegt, begraben ist.
Und wieder aufersteht, nach und trotz Todesschlaf.
Heimat ist Dorf, wo man Frieden hat,
während es in der Stadt zugeht.
Heimat ist unpolitisch, steht gegen Stadt und Staat.

Wem dieser Befund nicht reicht, ist hoffnunglos. Es gibt viele Hoffnungslose. Wer hoffnungslos ist, hat keine Heimat. Aber verkappte Sehnsucht. Heimat ist, wo er noch nie war. Und auch angeblich nie hinwill.

Mitleidend stimmen wir mit ihm überein: für einen auch nur einigermaßen fortschrittlichen, liberalen und multinational gesinnten modernen Menschen ist und bleibt Heimat das Letzte. Wort und Begriff, Gefühl und Realität von Heimat liegen ihm stagelgrün auf. Und so tief sitzt der Brechreiz, daß der besorgte Analytiker eben fragen könnte, mit dem notwenigen Quentchen Bosheit: Sitzt nicht ebenso tief wie die Abneigung gegen Heimat die verleugnete Sehnsucht, das Heimweh?
Naja, fragen wird man ja noch dürfen?

VIII. Was ist Zeitgeschichte

Wenn man sich nicht mehr auskennt, soll man die Sprache befragen, seine eigene Sprache, die Sprachen der Welt. Sprache ist Orakel; Geheimnis und Lösung zugleich.
Wort und Begriff „Heimat“ sind verdorben worden in der Nazizeit. Ja. Aber das ganze reiche Wort- und Begriffsfeld „Heimat“, das sich über einen Gutteil von europäischen Sprachen erstreckt und hinabreicht in Jahrtausende – das preiszugeben ist Pseudo-Antifaschismus; Ängstlichkeit statt Mut zum Eigenen und Eigensten. Wer Heimat will, darf nicht zurückwei­chen vor faschistischer Verdrehung.

Aufklärung über Faschismus, auf daß er nie wiederkehre, ist die vornehmste praktische Aufgabe dessen, was „Zeitgeschichte“ genannt wird. Zeitgeschichte ist was typisch Deutsches. Als ob nur unsere Zeit Gegenstand von Geschichte wäre. Als ob nicht alle Geschichte Zeitgeschichte wäre. Zeitgeschichte ist die sehr deutsche Kunst, alle Geschichte verdächtig zu finden, die nicht Geschichte des Faschismus ist.

Gewiß kann man gar nicht genug tun gegen den Faschismus. Aber es gibt einen Antifaschismus, der das von ihm Bekämpfte durch ständige Beschwörung neu hervorzubringen versucht, um es neu bekämpfen zu können durch ständige Beschwörung. Da capo sino al fine.

Zeitgeschichte ist immer zu kurz gegriffen. Zeitgeschichte heißt: Allzutief in die Geschichte will ich mich nicht wagen. Ich bleibe in unserer Zeit, einschließlich kürzlicher Vergangenheit; und wenn ich dann, wegen zu kurzen Griffes, nicht begreife, desto schlimmer – nein, nicht für mich, sondern für die Zeit. Ich denunziere sie, bewältige sie, treibe Vergangenheitsbewältigung als Vergangenheitsvergewaltigung. Ich greife ihr an die Gurgel und rufe: Kusch, jetzt rede ich.

Ja. das ist ein etwas ungerechtes Porträit des Zeitgeschichtlers.

Abhilfe bietet am sichersten das Sich-Hinablassen in die Sprache. Vor Wörtern mit ihren uralten Wurzeln verblassen Phrasen.

Der Marxist und Mystiker Emst Bloch hat „Heimat“ nicht ideologisch abstrakt gefaßt, sondern konkret und architektonisch, als gebaute Heimstätte. Er ist, wie man im Grimmschen Wörterbuch nachlesen kann, im Einklang mit deutschen Mundarten, wo „Heimat“ einfach Haus und Hof, auch bebauter Ackerboden heißt.

Dichter haben das Architektonische von Heimat, das Steinerne, Umbaute, Umschlossene gerne aufgesprengt in alle Richtungen der Windrose. In jeder dieser Richtungen kann Heimat sein, und der ganze Kreis der Schöpfung wird einbezogen in den Begriff. Im Grimmschen Wörterbuch finden sich die folgenden zwei schönen Exempel:

„Und Vögel flogen nach diesen und jenen Richtungen wie nach verschiedenen Heimathen.“

Adalbert Stifter

„Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer, Wie Sprache der Heimat rauscht mir dein Wasser.“

Heinricht Heine

Ja, die deutschen Ideologen hatten den engsten Begriff von Heimat. Aber die deutschen Philosophen und Dichter den ideologiefreiesten, weitesten. Bei Herder reicht der Bogen von Heimat als einige Fußbreit Heimaterde – bis Heimat als die ganze Erde, planetarische Heimstätte für Weltbürger.

Hiermit entschuldige ich mich bei meinen Freunden, den Zeitgeschichtlern. Ich meine halt nur: Sie bedürfen der Ergänzung durch Literatur und überhaupt Sprache.

IX. Heimat, ein Skandal

Ungeheuerlich, daß der Marxist und Mystiker Ernst Bloch sein „Prinzip Hoffnung“ nach mehr als anderthalbtausend Seiten, zehn Jahren Schreibarbeit (1938-1947), beschließt mit einem letzten Wort, das lautet: „Heimat“. Meist wird der Schlußsatz zitiert als: „Heimat ist, wo wir noch nie waren.“ Wie so oft bei Zitaten, die wirklich weiterleben, ist das eine den exakten Wortlaut überflügelnde Vereinfachung, eine Deutlichkeit, deutlicher als der Autor. Der letzte Satz des „Prinzips Hoffnung“ lautet (Subjekt des Satzes ist: „der Mensch“):

„Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Oh, der große Hexenmeister. In seinem Alchemisten-Kolben kocht er Disparates, bis es zusammenschmilzt, krumm oder grad Bloch verkocht:

Aufklärerisches: Der Mensch „erfaßt sich selbst“. Münchhausen zieht sich selbst am Zopf aus dem dumpfen Weltsumpf, ans Licht.

Marxistisches Esperanto: „Entäußerung und Entfremdung“. Durch den Speichel vieler Ideologen-Münder ausgewaschen, in 150 Jahren schal geworden; auch bei Bloch wahrhaft nicht mundfrisch. Entehrt durch die Katastrophe des realen Sozialismus. Und doch. Und doch.

Westliche Demokratie: Bloch war ja verdächtig lang in den USA (1938 – 1949). Der Marxist verzichtet nicht darauf, die Demokratie ernstzunehmen. Er zieht dem Hauptwort ein adjektivisches Kondom über, um sich vor Infektion zu schützen. Nicht Demokratie, täuschende, enttäuschte, aber „reale Demokratie“. Das schon.

Kindheit: Nun der typisch Bloch’sche Salto aus der Fachphilosophie in die Dichtung. Nichts neu zu Bauende, kein Kartenhaus aus Begriffen, nein, etwas deutlich Dämmerndes, ein Konkretes, das wir einst schon fast hatten, „etwas, das allen in die Kindheit scheint“. Revolution ist nicht Vollzug einer unerhörten Zukunft, sondern Vollendung einer vertrauten Vergangenheit. Revolution ist wahrgewordener Kindertraum.

Bei Marx, dem jungen (1843, 25jährig, Brief an Rüge; es ist Blochs Lieblingszitat) träumt den Kindertraum von Revolution die ganze Welt:

„Es wird sich dann zeigen, daß die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewußtsein besitzen muß, um sie selbst zu besitzen.“

Ja, was denn für eine „Sache“? Bloch flippt urplötzlich aus aller linken Orthodoxie und exhibiert sich als Romantiker. Die „Sache“ nennt er nicht Sozialismus, Kommunismus, klassenlose Gesellschaft, sondern schrecklich schlicht, zwei Silben, sechs Buchstaben Heimat.

Ja, Heimat, ein Skandal.

X.

Alle wichtigen politischen Begriffe haben in letzter Instanz religiöse Wurzeln. Wir müssen Heimat nur weit und kühn genug zurückverfolgen und wir landen im Paradies. Religion ist Sehnsucht aus dem Elend des Ist-Zustandes in einen besseren. Draus folgt: Heimat ist eine religiöse Kategorie – freundlich gesagt. Hart gesagt: Heimat ist eine pseudoreligiöse Kategorie. Für Nationen gilt beides erst recht: das Freundliche und das Bittere. Wer Religion für interessant hält (für das Interessanteste überhaupt), muß die unscharfe Welt der Ersatz-Religionen einbeziehen, und zwar, insofern die Religion daran Anteil hat, auf freudliche Weise.

Heimat ist sowohl das vergangene
Paradies wie das künftige.
Das längst Vergangene
und das längst noch nicht Kommende
finden zu einer rührenden, rührseligen,
authentisch seligen Einheit und Einfalt.

Im Paradies waren wir noch nie, und doch kennen wir es, an Hand des unverwüstlichen Modells „Heimat“. Es ist Himmelsgefühl (Benn), und doch waren wir noch nie im Himmel, Ankunftsgefühl (Handke), und wir sind doch noch nie dort angekommen. Es ist Mauer und Garten, Festung und Geborgenheit (Torberg) Erde und Wasser, Mein-Ort und Kein-Ort (Bachmann).

Das Paradies hat seine Grenzen, sonst wäre es überall und nicht nur in der Heimat. Natürlich ist die Heimat aller Völker aller Weltgegenden schön, vielleicht schöner als unsere eigene Heimat, jede fremde Heimat hat nur den einzigen Makel, daß sie nicht meine Heimat ist.

Wer sagt: „So ein Blödsinn, Heimat ist überall“ –
hat ganz recht.
Heimat ist überall, nur meine Heimat ist hier.

Das Paradies hat seinen Namen davon, daß es umgrenzt ist. Das Wort kommt aus dem alten Persischen (Awestischen). „pairi daeza“ ist das „Um-mauerte“. Der „hortus inchusus“, „der verschlossene Garten“ ist in der lauretanischen Litanei das Schmuckwort für die Jungfrau Maria, die im Paradiesgärtlein sitzt, umgeben von Tieren und Pflanzen, Kräutern und Bäumen, Wiesen und Gewässern.

Pison, Ghihon, Hidechel und Euphrat benennt die Bibel die vier Flüsse, die unterm Paradiesbaum entspringen. In den Paradiesen der anderen Weltregionen fließen andere Flüsse, aber das Prinzip ist das gleiche; in jeder Heimat fließen Flüsse. Auch sonstiges Paradies-Inventar und -Personal wechselt je nach Religion. Im buddhistischen Paradies, so auf dem Wandgemälde eines Tempels von Bangkok, wimmelt es von wunderbaren Elefanten, weißen, rosaroten, grasgrünen.

Daß alles Unmögliche möglich ist, gehört zu Erkennungsmerkmalen eines jeden Paradieses. Friedrich Heilr, in seiner ungeheuer detailreichen Studie „Erscheinungsformen der Religion“ nennt als die Hauptmerkmale aller Paradiese der Weltreligionen: Nahrungsfülle, Leidlosigkeit, Gottesnähe.

Damit kann kein irdisches Paradies konkurrieren, außer als Gegenstand der Sehnsucht und Zukunft. Aber das immerhin haben das himmlische Paradies wie die irdische Heimat gemeinsam, daß sie von der sehnsüchtigen Seele nach den gleichen architektonischen Prinzipien gebaut werden. Ernst Bloch, natürlich wieder er, fragt und antwortet:

„Wie kann menschliche Fülle in Klarheit wieder gebaut werden? So beginnt mit Extrovertiertheit zum Kosmos, doch in Zurückbiegung seiner zum Lineament einer Heimatarchitektur insgesamt ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat… das Umschließende gibt Heimat.“

Nun, „das Umschließende“ ist die etymologisch exakte Übersetzung von „Paradies“ (persisch) ins Deutsche. Daß der Linke Bloch sich einläßt auf Heimat, ist und bleibt ein Skandal, wiederum im etymologisch exakten Wortsinn:

Griechisch „skandalon“ ist das Wort für die Falle, die der Jäger stellt (wahrscheinlich ein uraltes Lehnwort aus dem vorderen Orient). „Skandalon“ ist speziell das Fallholz, jener entscheidende Bestandteil der Falle, an die das Tier mit der schnuppernden Schnauze anstößt, das Fallholz fällt, die Falle schnappt zu.

Heimat, süße Falle, die zuschnappt, Paradieses Vorausglanz.

Manuskript zum Vortrag von Günther Nenning am 15.2.1997 auf Burg Ludwigstein bei einer Veranstaltung der Unabhängigen Ökologen Deutschlands. Mit Genehmigung des Autors zuerst erschienen in der Druckausgabe der Zeitschrift wir selbst, Ausgabe 1/1998.

Wir werden auch in Zukunft einzelne Artikel aus älteren wir selbst-Ausgaben, sofern sie für unsere neue Internetplattform programmatischen Charakter haben, neu und wiederholt veröffentlichen.

Günther Nenning

Dr. Dr. Günther Nenning (1921-2006) war Journalist, Autor, Fernsehmoderator (Club 2) und Religionswissenschaftler. Er galt als „wendiger, intellektueller Vor- und Querdenker der Alpenrepublik“, als „Wahrheitssucher im Kostüm des Anarchisten“. Als Sozialist und Mentor der GRÜNEN während der Gründungsphase in Österreich engagierte er sich gegen das AKW Zwentendorf und wurde schließlich aus der SPÖ geworfen. Er bezeichnete sich selbst als „kulturdeutsch“ und „östereichischnational“. In „Grenzenlos deutsch“ und „Die Nation kommt wieder“ nahm Nenning zur nationalen Frage Stellung.

Die Macht des Symbolischen

Die Macht der Symbole:
Bildmedien haben das Druckmedium symbolisch zur Strecke gebracht (A.Paul Weber)

von Klaus Kunze

Die Macht des Symbolischen

Die Chancen rationaler Politik stehen schlecht. Die Massen-Medien-Demokratie belohnt es nicht, Interessen rational vorzutragen und zu vertreten. Ihre Spielregeln begünstigen Strömungen, die sich emotional geben und diese Gefühle in Form bestimmter Symbole gießen.

Symbolon nannten schon die antiken Griechen ein Wiedererkennungszeichen unter Freunden. Mit dem Verb symballein bezeichneten sie es, wenn ein zerbrochenes Stück wie ein Ring wieder aneinandergehalten wurde. Paßten die Teile zueinander, hatten sich die Richtigen gefunden. Symbole wurden zum festen Bestandteil menschlicher Kultur vom urchristlichen Fisch bis zum modernen Smiley. Sie symbolisieren zusammengehörende Menschen, aber auch ganze Wörter, Sätze, Gefühle oder Glaubensbekenntnisse bis hin zu komplexen Weltanschauungen.

In unserem Medienalltag haben sie das gesprochene Wort verdrängt und ersetzt. Das gilt überall da, wo eine Sendung produziert wird, um Menschen zu beeinflussen: bei der Produktreklame, in Nachrichtensendungen, in Vorabendserien. Bildsymbole erkennt jeder sofort als Symbol. Wer in der Sportschau das Symbol eines konkurrierenden Vereins sieht, schaltet innerlich schnell auf Abwehr.

Viel wirksamer, ja geradezu heimtückisch wirken nicht bildliche Symbole. Das EU-Parlament hat „symbolisch“ den „Klimanotstand“ ausgerufen, ein Minister legt „symbolisch“ einen Kranz nieder, man bildet eine Lichterkette, man ehrt am Volkstrauertag die Toten. Einen festen Ritus erkennen wir noch gut als Symbol.

Der politische Betrieb ist weitgehend ritualisiert und bedient sich feststehender Wortsymbole. Das sind so weitläufig formulierte Begriffe, daß sich eigentlich jeder etwas verschiedenes darunter vorstellen kann. Wenn die kommunistische SED früher die Parole ausgab: „Vorwärts zum Sozialismus!“, bildete dieser Begriff für sich allein bereits ein Symbol. Er stand für ein komplexes Gedankensystem, in dem die Führung des Volkes durch die SED einen zentralen Platz einnahm.

Einem diffus klingenden Wortsymbol einen eindeutigen Kern zu geben, ist ein Akt der Machtausübung. Die Macht hat, wer den Menschen immer dieselben Wortsymbole und Parolen einhämmert und über ihren konkreten Inhalt bestimmt. Dann wird nicht mehr darüber diskutiert, was „Sozialismus“ und all die anderen hübschen Wortsymbole alles bedeuten könnten. Es ist bereits reglementiert und wird vom Staats-Propaganda-Fernsehen täglich tausendfach eingeübt.

Wortsymbole sind wie Etiketten, die man anderen Menschen aufkleben kann, um sie damit zu kennzeichnen. Ein unsicheres Leben hatten im Mittelalter Prostituierte und Juden, oft symbolisch durch farbige Abzeichen beziehungsweise spitze Kopfbedeckungen gekennzeichnet. Auf Kleidung aufnähbare Symbole sind veraltet. Wer seinen Gegner heute stigmatisieren will, benutzt immer dieselben Wortsymbole und Stereotypen und heftet sie dem anderen an, der sie genausowenig mehr loswerden kann wie einen pickligen Ausschlag.

Zum Ketzer wurde ein gläubiger Christ im Mittelalter nicht schon durch ketzerische Ansichten, sondern, indem er zum Ketzer erklärt wurde. Die Acht konnte über jemanden verhängt werden, der angeblich völlig außerhalb des Gesetzes stand. Heute findet gesellschaftliche Ächtung durch Wortsymbole statt. Das derzeitige Universalsymbol für diese Art Ächtung ist das N-Wort. Wie ein Dietrich in jedes Schloß paßt, kann jeder dieses Wort beliebig jedem anheften. Es soll dem Publikum das Nachdenken ersparen, soll stigmatisieren, soll ausgrenzen.

Mit Wortsymbolen schmücken sich die Guten, mit Wortsymbolen stigmatisieren sie die Bösen. Der Welt der Stigmatisierer ist so schlicht wie ein Paintballspiel. Es genügt, den Gegner mit etwas Farbe symbolisch zu bekleckern. Etwas hängen bleibt immer.

Die Spielregeln des politischen Machtgewinns und Machterhalts begünstigen nicht mehr den, der gute Argumente hat und sie wirksam in Worte kleiden kann. Es hört ihm nämlich niemand mehr zu. Worten darf man „keine Bühne bieten“ und stellt sich lieber symbolisch vor das Veranstaltungslokal, um die Worte zu verhindern. Dabei darf man sicher sein, daß die Medien reflexhaft darauf anspringen. Im Fernsehen wird niemand hören, was der verhinderte Redner nicht sagen durfte. Er wird aber die sich entfaltende Symbolik der Bilder verinnerlichen: Blockierer mit entschlossenen Mienen, Transparente mit gutherzigen Parolen, den ganze Ritus einer symbolischen Aufführung.

Diese Bildsymbole haften in den Köpfen von Medienkonsumenten. Die ganze symbolische Schau wäre wirkungslos und in sich sinnlos, würde sie nicht medial transportiert. Die Medien ihrerseits sind meistens unfähig oder unwillig, gesprochene Argumentation zu transportieren und den Zuschauern nahezubringen. Diese klicken nämlich als Medienkonsumenten in kürzester Zeit auf einen anderen Sender, wenn ihnen geistig zu viel und zu lange etwas abverlangt wird. Vom Medienkonsumenten über den von Symbolbild zum Symbol-O-Ton getriebenen Reporter bis hin zu den Symbole schaffenden Akteuren auf der politischen Bühne unterliegen alle denselben Gesetzlichkeiten.

Eine Parole wie ein symbolisches „Wir schaffen das!“ ist eingängiger als eine prägnante Argumentation. Lesen ist anstrengender als Symbolbilder anzuschauen. Die Verweildauer des Auges auf einem Objekt wird kürzer. Die Aufmerksamkeitsdauer vieler Menschen sinkt. Sie können sich nicht mehr so lange auf einen Text konzentrieren. Merken Sie es auch schon?

So konnte das Zeitalter der Symbole anbrechen. Da wäscht ein Papst drei Landstreichern symbolisch die Füße. Die scheinbare Demut und Nächstenliebe versinnbildlicht seine Deutungshoheit darüber, was Demut ist und was Nächstenliebe erfordert. Ein neuer Minister ruft auf zum „Kampf gegen Rechts“ und erhebt damit symbolisch den Machtanpruch, behördlich verbindlich zu bestimmen, was rechts ist und welche Konsequenzen das im einzelnen haben soll. Der Bundestag debattiert darüber, symbolisch als „Kinderrechte“ ins Grundgesetz zu schreiben, was Kinder an Grund- und Menschenrechten sowieso schon haben. Die Koalition zankt sich darüber, wieviel Geld sie den Steuerzahlern aus der rechten Tasche ziehen soll, um sie als Sozialleistungen in die linke zu stecken. Jede Partei möchte sich dem Publikum nämlich symbolisch als diejenige darstellen, die „für Gerechtigkeit“ eintritt.

Politik funktioniert nicht mehr nach Regeln argumentativer, interessengeleiteter Rationalität, sondern danach, wer die passenden, emotional aufgeladenen Bild- und Wortsymbole allgemein durchsetzt und so vielleicht die nächste Wahl gewinnt. Darum spielt reales Handeln eine geringere Rolle als „Zeichen zu setzen“. Nehme ich allerdings bloß mal eben einen Teller und ein Abtrockentuch zur Hand, um symbolisch meinen guten Willen zu zeigen und ein Zeichen zu setzen, bin ich ein schlechter Küchenhelfer. Von den Zeichen setzenden Haltungspolitikern sieht man gewöhnlich nichts mehr, nachdem die Kameras ausgeschaltet sind.

Derweil sondern sich Bevölkerungskreise unter verschiedenen Symbolen voneinander ab, igeln sich ein in Echokammern und medialen Seifenblasen ihres guten Gewissens. Sie kuscheln sich gern zusammen in Internetforen Gleichgesinnter. Hier wollen sie nicht gestört werden durch Menschen mit anderen, abweichenden Ansichten. Die Verwendung emotionaler Paßwörter und ideologischer Schlüsselwörter symbolisiert die Zugehörigkeit zum jeweiligen „Wir“. Wenn man die anderen gar nicht mehr hört und sieht, weiß man natürlich: „Wir sind mehr!“

Der politische Kampf hat sich dahin verlagert, wo Wortsymbole geschmiedet und den Gegnern aufgezwungen werden und wo die des Gegners unterdrückt werden. Es geht schon lange nicht mehr um rationale Erfassung zum Beispiel der deutschen Interessenlage, wenn man mal eben über eine Million Fremder ins Land läßt. Die politische Auseinandersetzung wird geführt, indem Wortsymbole wie „Ausländer“, „illegaler Einwanderer“ und dergleichen vermieden und durch Wortsymbole wie „Flüchtling“ oder „Migrant“ ersetzt werden. Die Entscheidung über Masseneinwanderung mutiert von einer – denkmöglichen – interessengeleiteten, rationalen Entscheidung zu einem symbolischen Akt der eigenen Moralität. Schließlich ist auch das Selbstgefühl, moralisch zu sein, eine symbolische Eigenpositionierung: in einem Gedankenkosmos, der zwischen den strahlenden Höhen des Guten und den schwarzen Abgründen des Bösen keine Grautöne erkennt.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Klaus Kunzes Blog:

http://klauskunze.com/blog/2019/11/28/die-macht-des-symbolischen/

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

NEU:

Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Hier erhältlich!

Klaus Kunze: Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen. Von der Vormundschaft zum Genderismus. Hier erhältlich!

Die russische Ethnos-Theorie

Ilja Jefimowitsch Repin – Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/79/Ilja_Jefimowitsch_Repin_-Reply_of_the_Zaporozhian_Cossacks-_Yorck.jpg

von Dr. Christian Böttger

Die russische Ethnos-Theorie

Kultur versus Ethnos

Seit dem 9. September 2014 hat das „Staatliche Museum für Völkerkunde“ in München einen neuen Namen. Jetzt heißt es „Museum Fünf Kontinente“. Besonders originell ist die Begründung für die Umbenennung, die an Realsatire grenzt: Der Begriff Völkerkunde sei nicht mehr zeitgemäß, weil die Besucher damit nichts anfangen könnten. Sie glaubten, es handle sich um eine Einrichtung von Fachgelehrten für Fachgelehrte. Eine dümmere Erklärung konnte man sich wohl nicht einfallen lassen, denn der Name ist jetzt erst recht verwirrend und verweist eher auf das Gebiet der Geographie als auf das der Ethnologie. Bereits 2001 war das traditionsreiche Frankfurter Museum für Völkerkunde in „Museum der Weltkulturen“ umbenannt worden und trägt seit 2010 auch den Namen „Weltkulturen Museum“. Nach den Umbenennungen der Volkskundeeinrichtungen in den letzten Jahrzehnten sind nun also die völkerkundlichen Museen dran.

Da drängt sich die Frage nach den Ursachen für diese Veränderung auf. Diese Erscheinung läßt sich nur erklären, wenn man sie vor dem Hintergrund der ökonomischen Globalisierung und der Umwandlung von Nationalstaaten in Einwanderungsgesellschaften im Rahmen einer angestrebten „Weltbürgergesellschaft“ betrachtet. Dazu müssen die Angehörigen der einzelnen Völker nicht nur ihrer staatlichen Souveränität und ihrer ökonomischen Selbständigkeit, sondern auch ihres ethnischen Selbstbewußtseins beraubt werden. Zur Unterstützung dieser Globalisierungstendenzen werden seit langem auch die Sozial- und Geisteswissenschaften herangezogen. Sie werden vor allem dahingehend beeinflußt, ein rein mechanistisches Gesellschaftsverständnis zu vermitteln, das eine individualistische Einstellung zu Volk und Staat garantiert.

Welche konkreten Möglichkeiten lassen sich nutzen, um diese destruktiven „Erziehungsziele“ zu realisieren? Zuerst einmal müssen die Verfechter der „Moderne“ alles daransetzten, den ethnischen Volksbegriff aus dem Sprachgebrauch der Medien und Schulen zu entfernen. Dabei greift man auf die Erkenntnisse der Sprachtheorie zurück, die behauptet, daß Begriffe nicht die Wirklichkeit abbilden, sondern sie erst konstruieren. Folglich läßt sich die Wirklichkeit durch veränderte Begriffe ebenfalls verändern. Nach dieser Lesart kann man also durch die Beseitigung des Volksbegriffes auch das Volk als reale Erscheinung beseitigen. Die entstehende Lücke wird meist durch den Kulturbegriff ersetzt.

In den letzten Jahren ist es nämlich zu einer bewußt lancierten Unsitte geworden, von „Kulturen“ statt von konkreten Völkern zu sprechen. Der Kulturbegriff, der einen Ersatz dafür bieten soll, verfügt aber nicht nur über eine geringe Definitionsschärfe, er bietet mit seinem hohen Abstraktionsgrad auch eine Vielzahl von Möglichkeiten der ideologischen Manipulation. Im offiziellen Sprachgebrauch werden die Staaten Europas durch die Einwanderungspolitik nicht etwa in Vielvölkerstaaten verwandelt, was der Realität entsprechen würde, sonder nur kulturell bereichert, wie es so schön heißt. Auf diese Weise kann der wirkliche Prozeß der Umwandlung des Nationalstaates in einen Nationalitätenstaat verschleiert werden. Die Einteilung der Bevölkerung in „Migranten“ und „Einheimische“ dient ebenfalls dazu, von der Volkszugehörigkeit abzulenken. Das kann im Extremfall soweit gehen, daß Heimatvertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten – also nicht nur die Rußlanddeutschen – als „Migranten“ erfaßt werden.

Seit einiger Zeit ist man dazu übergegangen, die Existenz von Völkern ganz in Frage zu stellen. Diese Ethnos-Leugnung ist inzwischen Mainstream geworden und zur Lehrmeinung an den Universitäten aufgestiegen. Vom Institutsleiter des Berliner „Instituts für Europäische Ethnologie“, Prof. Kaschuba, wurde 1999 das Hochschullehrbuch „Einführung in die Europäische Ethnologie“ verfaßt. In ihm wird die Behauptung aufgestellt, zu Beginn des 19. Jahrhunderts sei es zu einer „Erfindung des ethnischen Paradigmas“ gekommen. Die Ethnien wären nicht naturgewachsen, sondern sie seien im intellektuellen Diskurs im Verlauf der Modernisierung hergestellt worden. An dieser ‚Erfindung‘ wären Volkskunde und Völkerkunde in jener Zeit maßgeblich beteiligt gewesen. Die Prozesse der Entdeckung und Erforschung des Ethnischen, die vielerorts mit dem Erwachen des ethnischen Selbstbewußtseins einhergingen, werden neuerdings also als „Erfindung“ ausgegeben. Besonderer Kritikpunkt – der Merkmalskatalog, an dem sich der Volksbegriff festmachen läßt und der damit Abgrenzung erst ermöglicht.

Sieht man einmal von der rein eurozentrischen Betrachtungsweise, dem Mangel an ethnologischem Wissen über außereuropäische Völker ab, so zeigen diese wenigen Ausführungen, worum es wirklich geht, nämlich um das Problem der Abgrenzung mittels eines Merkmalskataloges in einer sich scheinbar entgrenzenden Welt. Doch existiert kein Gegenstand ohne Merkmale. Wie will man denn einen Gegenstand beschreiben, wenn man ihm keine Merkmale zuordnen darf. Erst durch die Begrenzung ergibt sich bekanntlich die Gestalt, das kann man an jedem Körper erkennen. Wer die Begrenzung beseitigen will, zielt in Wahrheit auf die gesamte Gestalt. Aus dieser Position resultiert dann eine weitere Problematik. Wenn es nämlich keine realen Ethnien gibt, sondern nur „Ethnizität im Menschen“ wie diese Kulturwissenschaftler neuerdings behaupten, dann kann es auch keinen Ethnozid geben. Der Begriff des Ethnozids erübrigt sich, wird mit solchen Positionen zum Paradoxon. Logischerweise muß deshalb die Ethnos-Leugnung dem Ethnozid vorausgehen. Raffinert, aber durchschaubar, vielleicht nicht für alle Akteure. Hier verflechten sich ideologische Motive, Klassenauftrag und pseudo-wissenschaftliche Vorstellungen. Die vordergründige Absicht der Ethnos-Leugner ist klar: die panische Angst vor dem Scheitern des Konzeptes der sog. „multikulturellen“ Gesellschaft, die man in der BRD unter dem Gesichtspunkt der Antithese zum Nationalsozialismus zu errichten trachtet.

Diese Ethnos-Leugnung könnte aber durchaus auch eine rechtliche Dimension besitzen. Ethnozidale Bestrebungen sind eben kein Kavaliersdelikt. Dessen sollten sich die Verneiner des Ethnos immer bewußt sein. Auch führende Nationalsozialisten wollten kurzerhand aus den Sorben und Wenden der Lausitz „wendisch-sprechende Deutsche“ machen. Sie leugneten also die Existenz des sorbischen Ethnos. Heute würde das niemand mehr wagen. Im Gegenteil. Die „Stiftung für das sorbische Volk“ erhält immerhin eine jährliche Zuwendungssumme von mehreren Millionen Euro vom Bund und von zwei Bundesländern.

Lausitzer Musikgruppe, Fotograph: Józef Burszta (1914-1987)
Lausitzer Musikgruppe, Fotograph: Józef Burszta (1914-1987)
Festiwal Folkloru Łużyckiego, Budziszyn, Mai 1972
Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/1/1b/Grupa_w_strojach_%C5%82u%C5%BCyckich_%28kapela_i_dziewczyna%29_-Budziszyn-_000676s.jpg

Das zentrale Instrument zur wissenschaftlichen Demontage des Volksbegriffes bildet die sog. „amerikanische Kulturanthropologie“. In den vergangenen Jahrzehnten konnte man das allmähliche Einsickern ihrer Methoden und Grundmuster in den gesellschaftlichen Diskurs recht gut verfolgen. Dieses Einsickern erfolgte auf unterschiedlichen Wegen und unter ganz verschiedenen Namen, so daß die dahinterstehende Absicht nicht so leicht zu durchschauen war.

Die Anfänge für diese verhängnisvolle Entwicklung liegen weit zurück. Ausgangspunkt dieses tiefgreifenden Umbruchs in den ethnologischen Wissenschaften war u. a. der Volkskunde-Kongreß in Detmold 1969. Hier wurde von jungen Vertretern des Fachs im Zusammenhang mit der damaligen Studentenbewegung der „Abschied vom Volksleben“ verkündet und mit dem Hinweis auf die jüngere deutsche Geschichte der Name des Faches überhaupt in Frage gestellt. Philosophische Grundlage für diesen Neuansatz bildete der Neomarxismus der sog. „Frankfurter Schule“. Niederschlag fand diese geistige Strömung zuerst am Ludwig-Uhland-Institut in Tübingen, wo sich dann die Deutsche Volkskunde in Anlehnung an die amerikanische Kulturanthropologie als „empirische Kulturwissenschaft“ etablierte. Das soziale Leben von Kulturen und Teilkulturen mit ihren Konflikten zu beobachten, zu beschreiben und zu interpretieren stand von nun an im Mittelpunkt. Zu Beginn der 70er Jahre war also an die Stelle der deutschen Volkskunde eine Spielart der amerikanischen Kulturanthropologie getreten, die mit ihren Grundmustern und Termini wie geschaffen schien für westliche „Einwanderungsgesellschaften“.

An Anfang der amerikanischen Kulturanthropologie standen nämlich Forschungen zur Integration und kulturellen Assimilation von Einwanderern in die USA. Kern war zunächst das politische Dogma des Aufgehens ethnischer Minderheiten wie Indianer und Afro-Amerikaner sowie neu zugewanderter Europäer in der euro-amerikanischen Gesamtgesellschaft. Der „American Way of Life“ wurde einfach als moderne Gesellschaft ausgegeben und eine Anpassung an diese Lebensweise mit anschließender Assimilation als unausweichlich betrachtet. Erst in einer späteren Phase begann man die Frage der Assimilation differenzierter zu betrachten und durch „Akkulturationskonzepte“ zu ersetzen. Seit den 1960er Jahren wird sogar die Idee des Schmelztiegels ganz in Frage gestellt.

Gemeinsam ist allen kulturanthropologischen Konzepten, daß sie ihre Methodik an Einwanderungsgesellschaften herausgebildet haben. Einwanderungsgesellschaften zeichnen sich aber dadurch aus, daß die Entwicklung der Menschen durch einen Bruch gekennzeichnet ist, der mit der Einwanderung beginnt. Die kontinuierliche Entwicklung einer einheitlichen ethnischen Gemeinschaft ist unter diesen Bedingungen nicht mehr gegeben. Und siehe da, schon gerät man in ein ganz anderes Fahrwasser. Mit den Einwanderungsgesellschaften als Entwicklungsrahmen gelang es den Forschungsgegenstand „Volk“ durch das Forschungsfeld „Kultur“, im Sinne von „Alltagskultur“ und Werteordnung usw. zu ersetzen. Nicht mehr die Träger der Kultur als Kollektiv, sondern das Getragene und seine individuelle Widerspiegelung standen jetzt im Mittelpunkt. Das hat Folgen! Das Getragene ist veränderlich in seiner räumlichen und zeitlichen Dimension. Ein Veränderliches, vom Kollektiv, vom Volk abgekoppeltes, wird auf diese Weise zum Gegenstand der Betrachtung. Das soll nicht heißen, daß die kulturelle Seite eines Volkes als unveränderlich, als konstant zu betrachten ist. Was aber die Angehörigen eines Volkes verschiedener Zeitalter miteinander verbindet, ist die Tatsache, daß die Generationen mit ihrer Kultur aufeinander folgen, aufeinander wirken, daß die kulturellen Entwicklungen der früheren Zeitalter die der späteren Zeitalter mitbestimmen. Genau das Ausklammern dieser historischen Dimension nutzen heute die ideologischen Wegbereiter der Globalisierung, um jene fixen kollektiven Identitäten in Frage zu stellen, die sich in Völkern, Rassen und fest umrissenen Kulturkreisen manifestieren und ein Zusammengehörigkeitsgefühl zulassen. Dieses auch Abgrenzung und Ausgrenzung beinhaltende Zusammengehörigkeitsgefühl gilt es nach Meinung der Globalisten zu eliminieren. Die Globalisierungsideologen mußten deshalb eine spezifisch gelagerte Kulturdefinition finden, die „Kulturen“ nicht mehr als fest umrissene, konstante Größen auffaßt. Erreicht wurde dieses Ziel durch die Wahl des sog. „weiten Kulturbegriffs“, der die gesamte Lebensweise als Kultur begreift. Indem man auf diese Art die gesamte, sich jeden Augenblick verändernde Lebensweise als Kultur betrachtet, läßt man sie ins Gestaltlose zerfließen, denn erst durch die Begrenzung ergibt sich bekanntlich die Gestalt. Mit diesem kulturanthropologischen Taschenspielertrick kann man problemlos alle kollektiven Identitäten von Völkern, Rassen und Kulturkreisen verschwinden lassen.

Ein solches Denksystem – Kultur als Lebensweise – bietet den Globalisten ungeahnte Möglichkeiten der Manipulation. Das Ziel dieser Sichtweise besteht also in der Auflösung jener fixen kollektiven Identitäten, die sich u. a. in Völkern manifestieren, denn diese könnten der „Weltbürgergesellschaft“ der „One World“ im Wege stehen. Erreicht wird dieses Ziel durch die Konstruktion eines abstrakten kulturellen Systems, dessen Inhalt keinen Gemeinschaftsbezug und keine Abgrenzung zuläßt. Abgrenzung und damit Vielfalt werden als etwas Verwerfliches verstanden. Dabei wird außerdem die Gesamtkultur nur als Summe von Teilkulturen und ihren Bestandteilen betrachtet. Wechselbeziehungen und Rückkopplungen von Kulturkomponenten bleiben außen vor, denn sie könnten schon wieder Umrisse sichtbar machen, neue Gestalten erzeugen.

Worin besteht aber nun der Grundirrtum der westlichen Kulturanthropologen? Nach ihrer Auffassung verfügt das konstruierte kulturelle System über bestimmte Teilbereiche wie z. B. religiöse, soziale und ethnische. So gesehen ist die ethnische Dimension nur eine von mehreren Dimensionen der „Kultur“ und zwar eine mit sinkender Bedeutung. Während sich der Volksbegriff auf eine konkrete Gemeinschaft von Menschen bezieht, also demographisch an eine ganz bestimmte Population gekoppelt ist, stellt der Kulturbegriff nur eine abstrakte Konstruktion dar, die den Volksbegriff nicht ersetzen kann. „Völker“ und „Kulturen“ sind nämlich nicht einfach Synonyme, die man beliebig austauschen kann. Um einmal ein Beispiel zu nennen: ein Sioux-Indianer, der heute in New York in einem Wolkenkratzer seine Heimstatt gefunden hat, über Kühlschrank, Fernsehgerät und Waschmaschine verfügt, also nicht mehr im Tipi wohnt, hat zwar seine Kultur, nicht aber seine Ethnizität verändert. Durch das Ersetzen des Volksbegriffs durch den Kulturbegriff – als ein erster Schritt – und der Gleichsetzung von „Kultur“ mit „Lebensweise“ – als ein zweiter Schritt – gelingt es die Bedeutung des Ethnischen bis hin zur Bedeutungslosigkeit herunterzuspielen und der Manipulation Tür und Tor zu öffnen. Darin besteht der Kern des Taschenspielertricks der Kulturanthropologen.

Weil das Ethnische nach westlicher Auffassung in modernen Gesellschaften nur eine Dimension, ein winziger Teilbereich des Kulturellen ist, wird der Ethnos-Begriff meist nur noch für kleine ethnische Einheiten verwendet. Die Berechtigung dazu leitet man aus den Modernisierungskonzepten ab. Danach verkörpern die ethnischen Besonderheiten der Völker das sogenannte Traditionale, das die Durchsetzung der Moderne erheblich behindert und deshalb beseitigt werden muß.

Doch spätestens seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts konnte man feststellen, daß die Bedeutung ethnischer, religiöser und sprachlicher Faktoren nicht nur im Anwachsen begriffen war, sondern zunehmend auch politische Relevanz erhielt. Entgegen allen Prognosen zeigten sich jetzt statt eines Verschwindens ethnischer Unterschiede Anzeichen für ein Wiederaufleben der ethnischen Eigenheiten. Das mußte sogar der BRD-Star-Philosoph Jürgen Habermas eingestehen.

Die amerikanische Kulturanthropologie ist heute ein fester Bestandteil des Globalismus. Sie bietet den Verfechtern der Weltbürgergesellschaft die Möglichkeit, moderne und rückschrittliche Lebensweisen einander gegenüberzustellen. Damit wird ein Endziel suggeriert, nämlich eine einheitliche Weltzivilisation, die nichts anderes ist, als der American Way of Life. Für Vielfalt ist da kein Platz mehr. Auf diese Weise ist die Kulturanthropologie zu einer destruktiven ideologischen Waffe gegen die Völkervielfalt geworden.

Demgegenüber präsentiere ich in meinem Buch mit der russischen Ethnos-Theorie eine Alternative dazu. Dieser wissenschaftliche Ansatz betrachtet das „Volk“ als ein dynamisches Ganzheitssystem – hier mit dem griechischen Wort „Ethnos“ bezeichnet. Im alten Griechenland hatte dieser Begriff etwa ein Dutzend Bedeutungen; darunter Volk, Stamm, Menschenmenge, Heiden, Herde, Rudel, Sippe usw. Die sprachwissenschaftliche Analyse des Wortes läßt erkennen, daß es sich bei diesem Begriff um eine Gesamtheit von Menschen handelt, die gemeinsame Merkmale aufweisen.

Diese Lehre vom Ethnos ist Ausdruck der typischen mittel- und osteuropäischen Auffassung vom Volk. Der Prozeß der Ethnogenese der Völker Europas verlief auf ehemaligem provinzialrömischem Gebiet anders als in den Gebieten nördlich und östlich des Limes. In Italien, Gallien oder Britannien – um nur drei Beispiele zu nennen – führte die „Invasion der Barbaren“ zu einer völligen Umgestaltung der ethnischen Verhältnisse auf der territorialen Grundlage zumeist der alten römischen Provinzen. In Mittel-, Nord- und Osteuropa entstanden die meisten Völker durch Verschmelzung mehrerer in Sprache und Kultur verwandter Stämme. Dieser ganz andere Typ der Ethnogenese hat das ethnische Selbstbewußtsein dieser Völker nachhaltig geprägt.

Der Begriff Ethnos taucht als Gegenstand der modernen ethnologischen Wissenschaft zuerst in Rußland auf und zwar schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Untrennbar verbunden ist er mit dem Namen Sergei M. Schirokogorow. Es ist kein Zufall, daß eine wissenschaftliche und handhabbare Auffassung von dem, was ein Ethnos, ein Volk, ist, in der ehemaligen Sowjetunion entstand. Aufgrund der Tatsache, daß dort über 100 Ethnien lebten, hatte die ethnische Problematik von je her einen hohen Stellenwert. Die Forschungen zum Ethnos-Begriff gewannen hier seit den 1960er Jahren zunehmend an Bedeutung. Ein Grund warum der Ethnosbegriff als Forschungsgegenstand festgelegt wurde, war die Mehrdeutigkeit des Volksbegriffes in der russischen Sprache. Neben seinem ethnischen Inhalt verfügt er auch über einen sozialen, etwa im Sinne von „werktätige Massen“. In der deutschen Sprache kennen wir diese Mehrdeutigkeit ebenfalls mit der Bedeutung „einfaches Volk“. Ein weiterer Grund lag in dem Bedürfnis der Wissenschaftler, ihren Forschungsgegenstand zu präzisieren und sich damit von den Nachbardisziplinen Kulturwissenschaft und Soziologie unterscheidbar zu machen. Außerdem wollte die Parteiführung die Wissenschaftler verpflichten, die allmähliche Herausbildung eines „Sowjetvolkes“ zu beweisen. Um solche ethnischen Prozesse der Annäherung von Ethnien zu beschreiben, mußte erst einmal ein einheitlicher Begriffsapparat vorhanden sein. Darüber hinaus erforderte die Entwicklung der Völker Asiens und Afrikas nach Beendigung der Kolonialherrschaft eine Beschäftigung mit den sog. ethnischen Prozessen, was ebenfalls diese neue Begrifflichkeit erforderlich machte. Die Zeit zwischen 1964 und 1973 war gekennzeichnet durch einen breiten wissenschaftlichen Meinungsstreit über die Definition und die Merkmale des Ethnos. An dieser Diskussion durften sich auch nicht-marxistische Wissenschaftler wie Lew Gumiljow beteiligen. Das Resultat dieses Meinungsstreites wurde 1977 von Julian Bromlej in dem auch in deutscher Sprache erschienenen Buch „Ethnos und Ethnographie“ zusammengefaßt. Es enthält Erkenntnisse verschiedener Fachkollegen und ist somit durchaus nicht nur „Bromlejs Theorie“, wie es oft kolportiert wird.

Julian Bromlej
Julian Bromlej

Bei der Entwicklung der theoretischen Grundlagen dieser neuen Lehre leitete man zunächst die Merkmale des „Ethnos“ von den Merkmalen der „Nation“ ab. Das war möglich, weil im Gegensatz zu den heutigen westlichen Ländern in Osteuropa die Nation als ein „ethno-sozialer Organismus“ betrachtet wurde und wird. Sie gilt neben Stamm und Völkerschaft als eine Erscheinungsform des Ethnos und zwar als die am höchsten entwickelte. Wenn aber die Nation nur eine spezifische Erscheinungsform des Ethnos ist, dann müssen zumindest einzelne Merkmale der Nation auch identisch mit den Merkmalen des Ethnos sein. Als Richtschnur zur Feststellung der Merkmale einer Nation mag damals die Nationsdefinition von Stalin eine gewisse Rolle gespielt haben. In einer Schrift von 1913 bezeichnete Stalin die Nation als eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamer Sprache, gemeinsamen Territorium, Wirtschaftsleben, und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden gemeinsamen psychischen Wesensart. Diese von Stalin herausgearbeiteten Merkmale bildeten für die sowjetische Forschung auch den Ausgangspunkt für die Diskussionen um die wissenschaftlich exakte Bestimmung des Ethnos-Begriffs.

In einem Aufsatz von 1978 definierte Bromlej den Inhalt des Begriffs „Ethnos“ so:

Unter Ethnos im engen Sinne oder Ethnicos verstehen wir eine historisch entstandene Gruppe von Menschen, die über eine nur für sie charakteristische Gesamtheit gemeinsamer beständiger Züge der Kultur (…), der Sprache und der Psyche sowie über ein Selbstbewußtsein, darunter auch das Bewußtsein ihres Unterschiedes von anderen ähnlichen Gebilden, und eine Selbstbezeichnung (Ethnonym) verfügen.

Julian Bromlej

Das Ethnos ist also ein Ganzheitssystem, das auch Informationen der Vergangenheit speichert und weiterverarbeitet. Bestimmte historisch gewachsene und kollektiv gebildete Eigenschaften und Produkte wie z. B. die Sprache, kulturelle Züge, ethnisches Selbstbewußtsein, psychische Wesensart usw. bilden somit die Systemkomponenten. Diese Systemkomponenten sind aber ausschließlich aus dem ganzen System heraus zu verstehen und dürfen keinesfalls nur als eine Summe aus den Eigenschaften und Produkten der einzelnen Individuen betrachtet werden.

Das ethnische Selbstbewußtsein wird von einigen russischen Ethnologen an den ersten Platz unter den Charakteristika des Ethnos gestellt, da es in erster Linie die Zugehörigkeit eines Menschen zu einem Ethnos bestimmt. Ausschlaggebend dafür ist größtenteils die Vorstellung von einer bestimmten Abstammung, nicht unbedingt die Abstammung selbst. Verändert sich über mehrere Generationen das ethnische Selbstbewußtsein, so hat sich auch die ethnische Zugehörigkeit verändert. Ein Beispiel hierfür bilden die assimilierten Hugenotten in Deutschland. Zu den Besonderheiten des ethnischen Selbstbewußtseins gehört, daß Kinder noch nicht über ein solches verfügen, sondern daß dieses sich erst im Reifungsprozeß des Jugendlichen herausbildet. Wenig ausgebildet ist es auch bei Personen, die wenig Kontakt zu Angehörigen anderer Ethnien haben. Das gilt besonders für die Bauern in der Feudalgesellschaft. Hier herrscht ein lokales oder religiöses bzw. konfessionelles Bewußtsein vor. Die zunehmende Bedeutung des ethnischen Selbstbewußtseins innerhalb des Systems ethnischer Merkmale ergibt sich in der Moderne auch aus dem Zurückgehen der ethnischen Besonderheiten auf dem Gebiet der materiellen Kultur.

Charakteristisch für die osteuropäischen Ethnologen ist der Gebrauch des Ethnos-Begriffs auch für große, viele Millionen zählende Gemeinschaften und die Nationen hochentwickelter Länder. Deshalb sahen sie sich veranlaßt, auch politische und ökonomische Faktoren bei der Herausbildung und dem Funktionieren des Ethnos zu berücksichtigen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die Nation, der höchstentwickelten Erscheinungsform des Ethnos. Das Problem der Wechselwirkungen zwischen Ethnos und politisch-territorialer Gemeinschaft war lange Gegenstand des wissenschaftlichen Meinungsstreits. Zur Beilegung dieses Streites wurde der Begriff des „ethnosozialen Organismus“ geschaffen. Dieser ethnische Organismus ist dann nahezu identisch mit einer Gesellschaft. Er stellt ein ethnisches Gebilde dar, das auf einem kompakten Territorium zu finden ist und eine politische und ökonomische Einheit verkörpert. Die Berechtigung für die Verwendung des Organismusbegriffs in der sozialen Sphäre leitete man daraus ab, daß es sich bei einem Ethnos um die Vorstellung von einer sich selbst reproduzierenden Ganzheit handelt.

Soweit eine skizzenhafte Darstellung zur sowjetischen Ethnostheorie. Wie ist aber die Entwicklung der ethnologischen Forschung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion weiterverlaufen? Was wurde speziell aus der Lehre vom Ethnos?

Um den Stellenwert der Ethnos-Lehre in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu begreifen, gilt es die damalige Situation zu berücksichtigen. Es bestand in dieser Umbruchzeit die Notwendigkeit, die Legitimität dieser Staaten gerade auch ethnisch zu untermauern. „Ethnos“ fand Eingang in offizielle Dokumente und juristische Texte. Das Ideologievakuum nach dem Zusammenbruch des Bolschewismus bot viel Raum für das Ethnische und das Ordnungsmodell „Nation“, verstanden als ein ethno-sozialer Organismus. Das gilt insbesondere auch für die russische Föderation. Über 90 Treffer zum Begriff этнос gibt es allein auf der offiziellen Internetseite des russischen Präsidenten, über eine Million Einträge findet die Suchmaschine google.ru. Die Situation war aber gleichzeitig von dem Bedürfnis nach Distanzierung von der sowjetischen Wissenschaftstradition gekennzeichnet. Die Mehrheit der russischen Ethnologen plädierte so für eine vom marxistischen Unterbau und seinen Begrifflichkeiten befreite Ethnos-Lehre.

Trotz des ungebrochenen Weiterbestehens der Ethnoslehre wurde 1990 Waleri Tischkow (auch Tiškov), ein Kritiker der Ethnos-Theorie, zum Nachfolger Bromlejs im Amt des Institutsdirektors an der Akademie der Wissenschaften gewählt. Tischkow, der sich an westlichen Forschungsansätzen ausrichtet, forderte eine theoretische Neuorientierung. Die Ethnos-Theorie betrachtete er lediglich als eine Variante der marxistisch-leninistischen Nationstheorie. Sein Hauptvorwurf lautet: Bromlej und seine Anhänger interessierten sich für den „Menschen im Ethnos“ und nicht für die „Ethnizität im Menschen“. Ist da ein Unterschied? Aber sicher, ein ganz gewaltiger sogar! In diesem Unterschied spiegelt sich der Gegensatz von Primordialisten und Konstruktivisten wider. Die Primordialisten betrachten Stämme und Völker als uranfängliche, objektiv vorhandene kollektive Einheiten, die durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet sind. Doch das genau bestreiten die Konstruktivisten. Sie behaupten, daß die Welt, wie wir sie wahrnehmen, nicht das Ergebnis eines Abbildes der Wirklichkeit ist, sondern das Ergebnis des Erfindens der Wirklichkeit, wobei das eigene Weltbild den Ton angibt. Auf die Ethnologie angewandt behaupten die Konstruktivisten, daß Völker und Stämme gar nicht existieren, nie existiert haben, sondern reine Erfindungen, Wahrnehmungsstörungen sind. Somit legt man das „Ethnische“ in den Menschen und zwar als Wahrnehmungsstörung. Deshalb ist es auch ein grundsätzlicher Unterschied, ob ich mich für den „Menschen im Ethnos“ oder für die „Ethnizität im Menschen“ interessiere. Bei letzerem interessiere ich mich dann in der Endkonsequenz nur für eine Wahrnehmungsstörung.

Angesichts der großen Bedeutung der Ethnos-Lehre in Rußland muß man sich fragen, wie ausgerechnet ein Wissenschaftler wie Tischkow, der in der russischen Ethnologie fast völlig isoliert ist, in dieses hohe Amt des Institutsleiters aufsteigen konnte, denn ganz offensichtlich fungiert er dort als ein ideologischer Brückenkopf des Westens. Die Antwort liegt auf der Hand. Es geht ganz einfach um westliche Geldgeber, die man bei der Stange halten will. Das heutige Institut kooperiert sehr erfolgreich mit westlichen Sponsoren. Das sind vor allem Stiftungen und – wie könnte es anders sein – NGOs, die berüchtigten „Nichtregierungsorganisationen“, also meist ausländische Agentenzentralen, die in Rußland den Auftrag haben, die als Modernisierung getarnte Verwestlichung voranzutreiben. Es ist also sehr viel Geld im Spiel, um den Primordialismus in der russischen Ethnologie abzulösen und stattdessen den destruktiven völkerzerstörenden Konstruktivismus zur Herrschaft zu bringen. Wo „One World“ propagiert wird, darf es auch nur noch eine Meinung geben.

Besonders beliebt in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ist ein weiterer namhafter Vertreter der Ethnos-Lehre, Lew Gumiljow. Als Opfer des stalinistischen Gulag-Systems stand er nicht gerade auf dem Boden der marxistisch-leninistischen Ideologie. Für ihn glich das Ethnos einem biologischen Organismus, der gesetzmäßige Entwicklungsphasen durchlaufen muß, die mit den verschiedenen Altersstufen eines Menschen vergleichbar sind. Nach der politischen Wende in der Sowjetunion wurde die Ethnogeneselehre Gumiljows besonders von Politikern und Amtsträgern aufgegriffen und als Orientierungshilfe verstanden. Seine Publikationen wurden in hohen Auflagen gedruckt, seine Ideen fanden Eingang in die Lehrbücher. Wissenschaftliche Konferenzen wurden zu seinen Thesen veranstaltet, Universitäten nach ihm benannt und Denkmäler für ihn errichtet.

Lew Gumiljow

Der nahtlose Anschluß an die westliche Wissenschaftslandschaft mit ihrem kulturanthropologischen Dogma ist nicht zu erwarten. Der ethnisch-föderale Staatsaufbau aus der Sowjetzeit nämlich mit seinen Zugeständnissen an die autonomen Gebietseinheiten und Republiken wurde in der Russischen Föderation beibehalten. Er wird permanent dazu beitragen, den Ethnos-Begriff und die dazugehörige Lehre zu reproduzieren. Deshalb sind alle Bemühungen der prowestlichen Kräfte darauf gerichtet, einen Wandel „von Ethnos zu Demos“ herbeizuführen. Das bedeutet weg von der ethnisch definierten Titularnation der Sowjetzeit und hin zu einem staatsbürgerlich, politisch definierten Staatsvolk. Damit würden die im Weltmaßstab vorbildlichen Gebietseinteilungen aufhören, Entwicklungsrahmen für die entsprechenden Ethnien zu sein. Schließlich ist keine noch so kleine ethnische Gemeinschaft in der ehemaligen Sowjetunion vollständig verschwunden und das in einem Zeitraum, wo in anderen Teilen der Welt die Assimilation kleiner ethnischer Gemeinschaften einen Massencharakter angenommen hatte.

Welche Bedeutung hat die in Rußland entwickelte Lehre vom Ethnos für das heutige Deutschland? Worin unterscheidet sie sich eigentlich von den traditionellen deutschen Vorstellungen? Die klassische deutsche Auffassung vom Volk hat viele Wurzeln im deutschen Idealismus bzw. in der deutschen Romantik. Grundlage des volklichen Seins war bei Johann Gottfried Herder das unbewußte Schaffen des Volksgeistes. Darunter verstand Herder eine schöpferische, überindividuelle geistige Wesenheit, die alle kulturellen Schöpfungen des Volkes hervorbringt. Diese Äußerungen des Volksgeistes sollten sich nach den Anschauungen der Romantiker in Lied, Sage, Märchen, Glaube und Brauch manifestierten. Dieser rein philosophisch-idealistischen Sichtweise stellt die russische Lehre vom Ethnos eine historisch-materialistische Sichtweise zur Seite. Die Ethnoslehre zeichnet sich durch ein strenges, geradezu naturwissenschaftliches Herangehen aus, das nur Fakten gelten läßt. Sie sieht im Ethnos nicht ein Produkt des Volksgeistes, sondern in erster Linie ein Produkt der Geschichte. Damit wird eher die physische Seite des Phänomens untersucht als die geistige. Das hat allerdings den Vorteil, daß sich Dank der Einbeziehung der Kybernetik diese physische Seite des Volksorganismus der Öffentlichkeit wesentlich leichter vermitteln läßt als das Wirken eines eher nebulös erscheinenden Volksgeistes. Dennoch findet innerhalb dieser Ethnos-Lehre, in dem von ihr angenommenen System ethnischer Merkmale, die sog. „psychische Wesensart“ ihren festen Platz – allerdings nicht als Ursache, sondern als Produkt der Geschichte.

Die heutigen Gegensätze verlaufen aber nicht mehr vordergründig zwischen idealistischer und materialistischer Betrachtung, haben doch beide Betrachtungsweisen ihre Berechtigung. Schon der große deutsche Philosoph, Soziologe und Anthropologe Arnold Gehlen wies darauf hin, daß die Materiedefinition viel zu ungenau ist, um hier eindeutige Unterscheidungen treffen zu können. Der heutige Gegensatz besteht also vielmehr zwischen den Ethnos-Leugnern im Westen und den Protagonisten des Ethnos im Osten Europas, d. h. zwischen mechanistischer und organischer Weltanschauung. Nicht zufällig verweigern sich gerade die Visegrad-Staaten der Veränderung ihrer ethnischen Struktur durch die Aufnahme von Migranten. Sie haben sich in weiten Teilen ihre organische Gesellschaftsauffassung bewahrt und verteidigen diese. Die Ethnos-Leugner des Westens hingegen sind an Einwanderungsgesellschaften orientiert und folgen im Hinblick auf die großen europäischen Völker den Grundmustern der amerikanischen Kulturanthropologie. Die Kulturanthropologie ist aber durch ein mechanistisches Gesellschaftsverständnis (das Ganze als Summe) gekennzeichnet. Osten und Westen sind somit nicht nur geographische Markierungen, sondern stehen sich also auch als Gesinnungsbegriffe im „Weltkampf um den Menschen“ gegenüber.

Dr. Christian Böttger

Dr. Christian Böttger

Christian Böttger, geb. 1954, Facharbeiterausbildung als Gärtner für Zierpflanzenbau mit Abitur 1974, studierte von 1983-1988 Ethnographie, deutsche Geschichte und Volkskunde an der Humboldt-Universität zu Berlin. Danach arbeitete er bis Ende 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde am Zentralinstitut für Geschichte (Akademie der Wissenschaften der DDR) an einem Forschungsprojekt auf dem Gebiet der Kulturgeschichte sozialer Reformbewegungen in Deutschland um 1900. Ende 1993 promovierte er an der Humboldt-Universität zum doctor philosophiae. Anschließend war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Lexikonprojekten beschäftigt.

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