Von der Sehnsucht nach Unvernunft

von Hans Wulsten

Nein, früher war nicht alles besser. Mit „früher“ meine ich nicht 1887, auch nicht 1933 oder gar 1945. Ich denke gerade so an die Zeit um 1975. Da war ich 26 Jahre alt, voller Kraft in den Lenden und voller Ideen im Kopf. Oder umgekehrt.

Es gab noch kein Internet, aber der Verzicht auf Wikipedia, YouPorn, Google und Facebook schmerzte nicht, es gab so viele andere Möglichkeiten, seinen Tag auszufüllen. In der Deutschen Oper konnte man Gundula Janowitz (Sopran) hören, original und nicht auf YouTube, ebenso Wilhelm Kempff (Pianist) in der Philharmonie und in der Komödie am Kurfürstendamm sah man Boy Gobert (daß er schwul war, interessierte keinen Menschen, man mochte ihn jedenfalls) und im Schillertheater Berta Drews, die Mutter von Götz George.

Die Damen der Abonnementhuster trugen Nerz, wenn sie in die Oper gingen und noch mußten sie keine Angst haben, von wildgwordenen Tierrechtsschützern mit Farbe besprüht zu werden. In der Oper selbst gab es noch manierliche Bühnenbilder, das Studium an der HdK (Hochschule der Künste) hatte sich also gelohnt, allenfalls fuhr in Verdis „Macbeth“ mal ein Panzer über die Bühne, aber das waren Ausnahmen. Auf die Bühne gepinkelt wurde jedenfalls nicht, gottlob, da waren die Hamburger schon weiter.

Irgendwann in dieser Zeit tobten auch kleine Gruppen von Systemveränderern durch die City, grölten „Ho-Ho-Ho Chi Minh“ und probten schon mal ihre antiimperialistischen Revolutionen, anschließend aßen sie bei Aschinger am Zoo eine Bierwurst oder Erbsensuppe. „Enteignet Springer“ hatte sich, meiner Erinnerung nach, schon überlebt, die waren halt da, und sind es bis heute. Meistens lügen sie, manchmal schreiben sie nahe an der Wahrheit, Mainstreammedien eben.

Inzwischen flogen auch keine Eier mehr gegen das Amerikahaus in der Hardenbergstraße, alles überlebt sich, und auch die Hüpfer von heute, die sich so wichtig nehmen, sind bald wieder Geschichte, und Marlene, meine siebenjährige Enkeltochter, wird sich ihrer nicht erinnern. Vermutlich hüpfen in 10 Jahren andere Wichtigtuer, und meine Tochter, jetzt 21 und Studentin, lächelt nachsichtig über die Luisas und Gretas und schlägt das nächste Buch auf. An ihrer Vita wird eines Tages nichts zu deuteln sein, insofern ist Annalena ein warnendes Beispiel, bei der Wahrheit zu bleiben, und auch Luisa wird sich eines Tages Fakten stellen müssen und entweder ihr Studium beenden oder bei ALDI an der Kasse sitzen. Obwohl… so Opportunisten wie Joe Kaeser sterben ja nicht aus, vielleicht hat er doch einen ernsthaften Job für sie.

Am Kurfürstendamm eröffneten die ersten Peepshows, damals trugen die Mädels noch Schamhaare, aber nach einer Blütezeit und zahlreichen Drehtellern in der Innenstadt wurden sie weniger, die Peepshows meine ich, Moralapostel nörgelten immer wieder rum, (einige der Gucklochkabinen hielten sich noch 15 Jahre, dann schloß die letzte) die Schamhaare wurden auch weniger, Epilation setzte sich durch, die glattrasierte Muschi war und ist „in“, naja, bis auf so verklemmte Feministinnen, die da meinen, sich durch den Erhalt der Scham- und Achselhaare bereits emanzipiert zu haben.

An der Gedächtniskirche saßen die Gammler, meistens „friedensbewegte“ Wehrdienstverweigerer aus Westdeutschland, oder Kiffer, in jedem Fall Versager, die die Passanten angingen: „Haste ma ne Mark?“ Mangels Toilette pinkelten sie an die Gedächtniskirche, deren Fundamente sich zersetzen und später aufwendig saniert werden mußten. Noch ein paar Jahre später stieß Helga Goetze dazu und ließ sich mit ihrem selbstgemalten Schild „Ficken ist Frieden und Ficken ist wichtig“ bestaunen. Ach je, war Berlin verrucht.

Im Fernsehen gab es „Dallas“ und den fiesen „J.R.“ Ewing oder „Starsky und Hutch“, die beiden Darsteller sind heute auch schon 78 Jahre alt. Aber ihre geile rotweiße Karre war die totale Unvernunft. Aber herrlich: Die Kiste war 5,40 m lang und 2,14 m breit und wog leer 2,4 Tonnen. Der Motor, ein 375 PS starker 8 Zylinder soff 20 bis 30 Liter. Egal, der Preis pro Galone war, 10 Jahre später, als ich da war, bei 30 Cent die Gallone, das sind 3,78541 Liter, einfach traumhaft. Ich liebe diese kontrollierte Unvernunft, und ich liebe sie bis heute. Je mehr verboten wird, je mehr an „Gemeinsinn“ und das große „Wir“ appelliert wird, desto mehr bereitet es mir geradezu diebische Freude, alles zu unterlaufen: nun gerade. Das hat nichts mit verschleppter Pubertät zu tun oder Mangel an Reife, immerhin bin ich im Spätherbst meines Lebens und kann auf 3 Ehen, 4 Kinder und 4 Enkel verweisen, denen ich ja (seufz) pädagogisches Vorbild sein muß. Nein, es ist das Aufbegehren gegen pseudoreligiöse Dogmen.

Religion, als vergleichende Religionswissenschaft hat mich immer interessiert. Auf unserer, mit unseren schulpflichtigen Kindern einst unternommenen 1632-Tage-Weltreise war ich in ungefähr 250 Kirchen, Domen, Tempeln und Betstätten. Klar waren wir respektvoll und ruhig und achteten die Würde des Ortes. Aber diesen Klima-CO2-Rassismus-Sexismus-LGBTQ-und-weiß-der-Kuckuck-was-Religionen fehlt es an Würde, an Anstand, an Respekt vor den Lebensentwürfen ihrer Mitmenschen. Es sind Nötiger, die uns per Zwang bekehren wollen, und nur wer sich aufs Fahrrad quält (fällt mir jetzt schwer – Rücken), Tofu frißt, dem Zucker entsagt, dem Pelzmantel sowieso und auf den Knien der ideologischen Neu-Kirche zu Kreuze kriecht, dem wird Ablaß gewährt. Endzeithysterie ist den westlichen Totalitaristen inhärent und wer nicht ergriffen dem letzten Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat) lauscht, ist ein Ketzer.

Ein Grund, warum ich einerseits zwar Stromsparbirnen im ganzen Haus habe, andererseits aber am Earth-Day alle Lampen anmache. „You get what you pay for“, und ich bezahle den Strom, also kann ich ihn auch verbraten. Und die Heizung läuft so, daß wir uns wohlfühlen. Wenn dann wirklich das Ende nah ist (schon wieder mal…?), dann haben wir wenigstens nicht gefroren.

Damals gab es noch keine Judith Butler und keine Naomi Klein, die nervten, und überhaupt hatten die Feministinnen noch nicht so eine große Klappe. Eine Margarete Stokowski hätte in meiner Firma nicht mal Kunden einen Kaffee servieren dürfen. Ich liebe übrigens Polen, war da etwa 85 Mal, aber ich muß immer zwanghaft ausblenden, daß die Stokowski eigentlich Polin ist, um meine Liebe zu dem Land nicht zu beschädigen. Ritterlichkeit gegenüber Damen war damals dennoch vorhanden, in der Unterschicht eher nicht, aber auch heute interessieren die sich nicht dafür und lesen keine Kolumne der Stokowski. Ich habe meine Nachbarn gefragt, niemand kennt sie. Es beklatschen sich also immer die Gleichgesinnten. Ach übrigens: Natürlich bin ich ein AWM, ein alter weißer Mann, meine Frau, Diplom- Textil-Designerin und 22 Jahre jünger, ist natürlich eine „alte, weiße Frau“, und selbst unsere Kinder, 25 und 21, sind aus Sicht der Zeitgeistschranzen vorzeitig vergreist.

Den Freundinnen meiner Mutter küßte ich die Hand, sie liebten das und seufzten tief durch. Es war die Generation der Frauen, die Deutschland nach dem Kriege aufgebaut hatte, während die Stokowski-Verschnitte bereits die Zeit und wirtschaftliche Sicherheit hatten, sich „selbst zu finden“. Den wenigsten ist das übrigens gelungen. „Experten“ waren noch keine Quatschköppe und „Aktivist“ kein Beruf. Die Ärzte, Anwälte und Unternehmer, die bei uns zu Gast waren, waren jedenfalls Spezialisten und kannten ihre Materie aus dem FF. Nein, sie waren keine Blender, es waren Männer, es waren Frauen und keine Wesen mit einem stabilisierenden Kleiderbügel im Rücken. Wer da wischi-waschi laberte, wurde gar nicht erst eingeladen, das kam vor, und so ist das bis heute.

Es waren freie Jahre, selbst im geschlossenen West-Berlin. Die Sowjets waren die Sowjets, und auf der anderen Seite der Mauer, irgendwo in den Kasernen, schaute man DDR-Fernsehen. Da hatte man die Wahl zwischen „Willy Schwabes Rumpelkammer“, Volkstanzgruppen aus Baschkortostan oder Karl-Eduard von Schnitzler. Als Westberliner habe ich viel DDR-Fernsehen gesehen, vermutlich einer winzigen Minderheit angehörend. Ich wollte meine Feinde kennen. Das war auch einer der Gründe, warum ich mit einem westdeutschen Zweitausweis zig Mal da drüben rumgondelte und auf den Spuren Fontanes die Mark Brandenburg erkundete. Obwohl, das mit Fontane war etwas später, aber Ostberlin konnte man unsicher machen. Die Herren von der Stasi versuchten, mich zum illegalen Devisentausch zu bewegen, die Geschichte von ihrem Studentendasein war rührend, aber sie hatten alle die gleichen Lederjacken und waren als Studenten zu alt.

Die Sommer waren heiß, die Gewitter gewaltig, die Winter kalt, man nannte das Wetter. Die Regierung erließ Gesetze, aber waren die unvernünftig, unterlief man sie, und der Beifall anderer Genervter war einem sicher. Aber es gab keine gesellschaftliche Ächtung und keinen Ökototalitarismus. Für ein klosettdeckelgroßes Steak auf dem Grill entschuldigte sich niemand. Im Gegenteil, man griff herzhaft zu. 20 Jahre später, als ich öfter in Rußland war, bewunderte ich die russische Mentalität. Die Regierung regierte, und die Bürger machten was sie wollten, so ist das bis heute, leben und leben lassen, bewundernswert. Inzwischen halten die Freunde uns für bekloppt und tatsächlich, von außen gesehen erscheint einem Deutschland als Großklapse. Je weiter man entfernt ist, desto lächerlicher wirkt es. Aus Asien, Neuseeland oder Los Angeles sieht es so winzig aus, wie durch ein umgedrehtes Fernglas geschaut. Bloß unsere Riesenschnauze haben wir immer noch, meinen, andere bei mangelndem Wohlverhalten sanktionieren zu müssen. Größenwahn läßt grüßen. In Rußland, Vietnam oder Ungarn fühle ich mich wohl.

Unsere Nachbarn hießen früher Fritz Schulz oder Karl Meier und nicht Ali, Mohammed oder Aishe. In den Parlamenten machten noch keine Exiliranierinnen, keine Sawsans oder Ceblis auf große Fresse, und nur einige Grüne waren gegen den Ausbau des Autobahnanschlusses an den Berliner Ring nach Hamburg.

Vegetarier gab es, aber extrem selten, etwa so selten wie zweiköpfige Ochsen. Veganer gab es gar keine, niemand wußte was „Gluten“ sind. Es war eine herrliche Zeit, am Ku‘Damm standen an den Vitrinen noch deutsche „Damen“ und warteten auf Kunden und keine Rumäninnen und Bulgarinnen.

Nigeria kannte man nur vom Atlas, Somalia auch und Messer dienten dazu Brot oder Braten zu schneiden und nicht Passanten abzustechen. Dennoch war Deutschland aufgeschlossen. Man hatte sich an die österreichischen Piefkes gewöhnt und mit ihnen Freundschaft geschlossen, man fuhr gerne nach Dänemark, auch wenn die Sprache einer Halskrankheit glich und niemand beschwerte sich darüber, daß man an der Grenze seinen Paß vorzeigen mußte. Die dänischen Ferienhäuser wurden in einem Katalog angeboten (Dansk Feriehuset), sie wurden „Villa“ genannt, aber die Betten waren meist so schlecht, daß man nach dem Urlaub zum Wirbelsäulenspezialisten mußte. Dafür konnte man in der Ostsee baden, und der Strand war nicht von Verschleierten besetzt.

Natürlich war nicht alles besser, es gab noch kein DUODART gegen das Wachsen der Prostata und Psychiater, Psychologen und andere Menschenverhunzer hatten sich noch nicht vermehrt wie die Pilze nach dem Regen. Klar gab es Bekloppte, schon immer, aber inzwischen liegt das halbe Volk auf der Couch. Besonders hat es die Zugewanderten erwischt, die haben halt „Kriegsschäden“, genannt „Traumata“.

Schön, daß meine Eltern nicht so traumatisiert waren, obwohl komplett ausgebombt. Mein Vater jedenfalls hatte schnell das Pfadfindermesser gegen das Skalpell getauscht, und wenn er Leute aufschnitt, dann um sie zu heilen.

Alle, die wir kannten, waren gegen die Nazis, gegen die Kommunisten auch. Die Kommunisten arbeiteten bei der Reichsbahn der DDR und wählten die Sozialistische Einheitspartei Westberlins, und die Nazis kauften die National-Zeitung von Gerhard Frey. Es war der bekloppte Bodensatz, den es in jeder Gesellschaft gibt. Man nahm sie wahr, ging aber zur Tagesordnung über ohne sich ständig in Rassismusgeschrei zu üben. Das dauerhafte Abnudeln von Selbstverständlichkeiten kannten wir nur aus dem Osten, die Wortklaubereien, Spruchtransparente und Ergebenheitsadressen reizten zum Lachen. Heute lacht niemand mehr, bierernst nimmt man bei Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und der Regenbogenwindel Haltung an, alles ist furchtbar todernst, und wehe Du machst Zoten oder Witze.

Dafür konnten sich die Juden recht sicher fühlen, unser Freund Reuven, einziger Überlebender seiner vergasten Familie, später Mitbegründer der EL-Al, wußte nichts von Angriffen zu berichten, er riß Judenwitze, die mir die Schamröte ins Gesicht trieben, aber er durfte das, und wir hörten lieber zu, machten aber selbst nie mit, wir sind ja Deutsche. Einem Juden kann man Antisemitismus schlecht vorwerfen. Die Plastiktaschen nannten wir „jüdisches Taxi“, später „Türkenkoffer“, Reuven auch und niemand fühlte sich diskriminiert.

Die Kinder (aus erster Ehe) bekamen, als sie alt genug waren, eine Cowboyausrüstung, wie ich, ihr Vater, sie auch bekommen hatte, und klar wurden mit dem Meuchelpuffer reihenweise „Indigene“ (so sagt man heute) umgelegt. Die Indigenen nannten wir Indianer, waren gleichaltrig und wenn sie vom Indianerspiel genug hatten, gingen die Cowboys nach „oben“ und schauten „Lassie“. Im Kinderhaus, das hatte meine erste Frau ausgesucht, zogen sich die Kinder nackt aus, bemalten sich mit Farbe, die Kindergärtnerinnen rauchten, quatschten und tranken Kaffee, und ich wurde stinksauer. Von der Summerhill-Pädagogik hatte ich nie viel gehalten, und ich vermißte in Alexander Sutherland Neill’s Pädagogik die Anleitung zum Erlernen von Selbstdisziplin. Also zogen wir die Bremse, die Linken ließen ihre Brut weiterhin in Kreuzberger Kinderläden versauen, und vermutlich sind deren Enkel heute bei der Antifa. Wir erzogen unsere Kinder frei, pluralistisch und nicht prüde, aber an den Werten Respekt, Anstand und Rücksichtnahme orientiert. Toleranz war auch ein Wert, er meinte den Umgang mit dem Nächsten, aber keine Gießkanne, die jeden Idioten bewässern sollte.

Und ja, ich war Sexist, bin ich immer noch, mir gefallen halt schöne Frauen, knackige Ärsche und tiefe Dekolletés. Was mich aber nicht ermuntert, unhöflich oder abschätzend zu Frauen zu sein, im Gegenteil. Meiner Frau und ihren Freundinnen mache ich Komplimente, keine plumpen, aber gelegentlich schon, ähm, aus der Sicht eines Mannes und nicht aus der Perspektive eines geschlechtslosen Weicheis – Diverse kennen wir gar nicht. Ritterlichkeit und Erziehung sind etwas aus der Mode gekommen, und tatsächlich mußte ich mir schon anhören, im Restaurant, wenn eine SIE aufstand und ich auch in die Höhe schnellte, „Warum stehen Sie denn auf?“

Nun ja. Alle meine Frauen sind was geworden, was ziemlich „Gutes“, also erfolgreich, übrigens ganz ohne Quote. Aber sie haben auch keine Quatsch- und Laberfächer studiert, sondern eben was Handfestes oder Kreatives, etwas, was man Beitrag zur Gesellschaft nennen kann.

Wenn wir uns verabredeten, nahmen wir das Schnurtelefon und, so schön und praktisch das Handy auch ist, wenn man dann zusammen war, schauten einem die Frauen noch in die Augen und nicht auf das Telefon. Und sie redeten mehr, ich meine, sie waren kommunikativer, zugewandter. Das war, bevor sie den ganzen Verbalmüll als Sprachnachricht quatschten und nach 2 Minuten ohne Blick auf den Screen Schweißausbrüche bekommen. Whatsapp, Twitter und Konsorten sind Drogen, machen süchtig. Hier zu lesen bereichert weder die Bildung noch mehrt es das Wissen, im Gegenteil, es infantilisiert und preßt einen zum Opfer des Zeitgeistes.

Shitstorm gab es nicht, wenn man jemandem die Meinung geigen wollte, schaute man ihm oben in die Augen und trat ihm unten gegen das Schienbein. Das half, nicht immer, aber manchmal, die Kontrahenten waren nicht anonym, sie zeigten Gesicht. Denunzianten gab es auch, die hämmerten ihr Wissen in die Schreibmaschine und verpfiffen Bekannte, über die sie sich geärgert hatten, ans Finanzamt. Das Anscheißen mag der Deutsche, es stabilisiert sein Selbstwertgefühl, läßt ihn seinen

Minderwertigkeitskomplex vergessen, damals wie heute, ganz unabhängig von der technischen Entwicklung.

Dennoch: Unter dem Strich hatten wir mehr Freiheiten, konnten ungezügelter sagen, was wir wollten, frei von der Leber weg, und die Gefahr, gegen den Zeitgeist zu verstoßen, war relativ gering. Unkonventionelle Ansichten wurden bewundert, waren sie gut begründet, setzte man sich mit ihnen auseinander. Geächtet wurde niemand, politisch inkorrekt gab es nicht (Selbst der SEW-wählende Nachbar war akzeptiert, Nationalzeitungsleser kannten wir nicht), und es gab einen Minimalkonsens, was Respekt, Höflichkeit und Achtung betraf.

Die Grünen waren für die Natur, die Konservativen konservativ und keine „Rechten“, es gab eine vernünftige Opposition und keine gleichgeschaltete Parteiensoße, austauschbar und geschmacklos wie Fertiggerichte.

Schwule waren schwul, und ob das gut war oder nicht, es war IHRE Sache. Jedenfalls war das keine „nationale“ Angelegenheit, keine Symbolpolitik und der Regenbogen war nach einem Gewitter am Himmel, und an seinem Ende wartete der Goldtopf und er hing nicht als Windel am Arm von Fußballspielern.

Alle meine 3 Frauen waren bzw. sind Ausländerinnen und meine Kinder zur Hälfte, die aus erster Ehe leben im Ausland, die Enkel auch. Die jetzigen Kinder sind mit 25 und 21 in 50 Ländern gewesen, oft monatelang und sprechen 3 Sprachen fließend. Aber die Exfrauen und die „aktuelle“, die seit 28 Jahren an meiner Seite ist, sind Ausländerinnen aus unserem Kulturkreis, sie haben sich integriert, sprechen akzentfrei die deutsche Sprache. Sie habe nie Forderungen gehabt, schon gar nicht an den deutschen Aufnahmestaat, waren weder renitent oder auf ihre „kulturelle Andersartigkeit“ pochend. Traumatisiert waren und sind sie auch nicht, und alle unsere Freunde, die ganz ähnliche Gemischtehen führen, teilen letztlich unseren ethnopluralistischen Standpunkt, daß eine Masseneinwanderung kontraproduktiv ist.

Auf unseren uferlosen Reisen fanden wir die verschiedenen Ethnien mit ihren kulturellen Eigenheiten interessant, für die Bildung anregend, einfach toll, so wie sie da waren – wo sie waren, also in ihren Ländern. Das hat unsere ethnopluralistische Auffassung gefestigt, aber sie ist kein Dogma. Für Ehen (keine Scheinehen), für Wissenschaftler, Unternehmer, Künstler etc. muß es Ausnahmen geben, also für alle, die etwas mitbringen, frei sind von Forderungen, Traumata und einem Schock Gören, Cousins und anderen Clanmitgliedern.

Nachdem ich in insgesamt 67 Ländern war, mit meiner Familie in 50, oft monatelang, weiß ich Deutschland zu schätzen. In seiner landschaftlichen Vielfalt, in seiner infrastrukturellen Perfektion, seiner architektonischen Abwechslung, seiner, aus der Geschichte der 247 Fürstentümer herrührenden musikalischen, literarischen, künstlerischen Unterschiedlichkeit. Geistesleben, Wissenschaft, alles WAR überragend, Inspirationen gibt es auch heute noch, wenn auch eher vereinzelt. Wenn ich aufwache, bin ich dankbar dafür, HIER geboren worden zu sein und nicht in

Somalia, im Jemen oder Tasmanien. Deutschland hatte viele Stürme auszuhalten, denken wir zum Beispiel an die Reformation, von den Kriegen will ich gar nicht reden. Nur mit der Nomenklatur und den Medien hadere ich, hadern wir, die Tendenz ist zunehmend. Ab und zu schaue ich etwas neidisch nach Ungarn, wir haben da 7 Monate gelebt, Junior 2 Jahre studiert, Orbán tut etwas für SEIN Land. Beneidenswert.

In jedem Fall war damals die Gesellschaft noch nicht so infantil, es gab keine Hüpfer und die Großfressen waren für ernsthafte Konzernlenker noch keine Gesprächspartner. Und je mehr wir als Gesellschaft degenerieren und uns selbst unserer Würde berauben, desto mehr habe ich Sehnsucht nach praktizierter Unvernunft. Vögeln ohne Ökogedanken, Fernsehen ohne Haltungsheinis, den

Achtzylinder treten, ohne an Emissionen denken zu müssen. Auch in den 70iger Jahren des letzten Jahrhunderts war nicht alles besser, aber der sittliche, intellektuelle und charakterliche Verfall hat sich fliehkraftartig beschleunigt. Im Gegensatz zu den Versprechen der Politik und Medien ist von den „Zuwandernden“, also den Okkupanten, keine Erneuerung zu erwarten. Nicht nur Deutschland, ganz Europa, das Europa der Vaterländer, schlittert in eine zerstörerische Dekadenz. Nehmen wir ein Beispiel: Hitlers Gehirnwäsche der Deutschen dauerte 12 Jahre, seit 1968, dem Anfang des Desasters, sind 53 Jahre vergangen, 2 Generationen, und die Gehirnwäsche, die Entdeutschung, die pseudoreligiöse Verkitschung ist unumkehrbar. Bad Times ahead.

Heute stelle ich mit Entsetzen fest, daß man, sofern man sich nicht politisch zu weit aus dem Fenster hängt (nicht jeder will das, nicht jedem ist das gegeben) in den postsozialistischen Ländern freier und ungezwungener leben kann, die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung vielfältiger sind als bei uns, im dekadenten Westen. Das betrifft auch und gerade Rußland, was ich sehr gut kenne und nach Jahren in den USA (wir kennen 50 Staaten bestens bis auf Alaska) stelle ich mit Bedauern fest, daß die „Europäisierung“, also die „Sozialdemokratisierung“ der Amerikaner, mit Forderungen, Erwartungshaltungen an den Staat etc. geradezu groteske Formen angenommen hat und von den ursprünglichen amerikanischen Werten, der Unkonventionalität und der Improvisationsfähigkeit wenig übrig geblieben ist. Sehr schade.

Kommen wir zurück zu Starsky und Hutch und wie sie im Gran Torino (Tomate mit Streifen) durch das fiktive Bay City heizen. Nicht über alle Gags kann man heute lachen, auch Humor wandelt sich.

Immerhin konnten die noch Sätze raushauen, ohne sie jedes Mal vorher auf „Correctness“ abklopfen zu müssen, und in der Zeit trat auch kein Anzugträger später vor die Kamera, um einen Rückzieher zu machen. Wie es ja überhaupt erstaunlich ist, daß die „Geistesgrößen“ unserer Zeit, in Politik, Medien und Wirtschaft heute etwas sagen und es morgen zurückziehend bedauern. Vorher denken ist nicht mehr. Kann es sein, daß in den 70igern ein Rückgrat noch der Starrachse eines Torino glich und nicht aus Silicon war? Klar, die Autos hatten eine schlechte Straßenlage, waren unökonomisch, gefährlich und nichts für eine deutsche Büroklammer mit Ärmelschonern. Aber sie waren geil, unvernünftig geil. Alle diese Karren hatten ein tolles Design und sahen nicht aus wie ein Stück Flutschseife, so wie die heutigen Autos, die sich alle ähneln. (Ich weiß wovon ich rede, meine Frau ist Designerin).

Der Gran Torino kommt auch im gleichnamigen Film mit Clint Eastwood vor. Übrigens ist der Film ein gutes Beispiel dafür, daß man letztlich auch mit ausländischen Nachbarn in Harmonie und Frieden leben kann. Aber auch Walt Kowalski wurde natürlich nie gefragt, ob er diese Nachbarn überhaupt haben will. Die historisch gewachsene US-Multikulturalität unterscheidet sich eben deutlich von der europäischen Durchmischung. Deutschland war immer ein Land verschiedener Stämme, aber verbunden durch eine Sprache. In den USA habe ich oft Einwohner getroffen, die kein Wort Englisch konnten und sich auch nicht bemühten, so wie die anatolischen Nachbarn hier. Ausnahmen bestätigen die Regel. In der 11. Klasse meiner Tochter waren vor 2 Jahren 80 Prozent Nichtdeutsche, sie sprachen immerhin gebrochen Deutsch, gottlob nicht gegendert.

Der FORD GRAN TORINO steht auch für ein untergegangenes Lebensgefühl, für eine Zeit, als man noch an die Zukunft glaubte. Daß wir den vom Club of Rome prognostizierten Weltuntergang längst als Panikmache erkannt und überlebt haben, sollte uns zu denken geben. Auch das kann man aus der Geschichte lernen.

—————-

P.S: Natürlich kaufe ich mir hier in Deutschland keinen FORD GRAN TORINO…….obwohl…..naja, bis dahin muß es ein DieCast Modell im Maßstab 1:18 tun. Also rauf auf die drehbare Käseplatte, zwei dunkle Kissen dahinter und fertig ist die Illustration.

©, Juni 2021, H.W.

Fotos: Hans Wulsten

Wir danken Hans Wulsten für die Veröffentlichungsgenehmigung.

„Hans Wulsten stammt aus Berlin, war Unternehmer, hat die halbe Welt bereist, schöpft aus Erfahrungen, sieht sich als radikal-paläolibertär und in der Tradition der Österreichischen Schule. Wulsten ist seit 25 Jahren glücklich mit der Russin Svetlana verheiratet und hat mir ihr zwei Kinder.“

Die junge Generation in Deutschland in Gefahr: Schulden und Hypotheken für unsere Nachkommen.

von Generalmajor a.D. Schultze-Rhonhof

Die junge Generation in Deutschland in Gefahr: Schulden und Hypotheken für unsere Nachkommen.

Das Pech der jungen Generation

Junge Leute in Deutschland stolpern heute unvorbereitet und uninformiert in eine sehr riskante Zukunft. Es ist dies erstens die hoch-riskante Zukunft unserer Euro-Währung, die seit den EZB-Finanzmanövern nicht mehr ausreichend gedeckt ist. Ein nicht mehr unwahrscheinlicher Kollaps der europäischen Schuldenblase und ein anschließender Zusammenbruch der Währung könnten die Ersparnisse und die Altersvorsorge der heute jungen Deutschen durchaus noch zu ihrer Lebenszeit auf ein Minimum zusammenschmelzen lassen. Und die „Vergemeinschaftung“ der Schulden aller Eurostaaten kann die heute Studierenden, die jungen Meisterinnen und Meister und Jungunternehmerinnen und Jungunternehmer dereinst die Früchte ihrer heutigen Aufbauarbeit kosten. Es ist zweitens die nicht beendete Masseneinwanderung von mehrheitlich nicht integrationsfähigen Menschen aus der Dritten Welt. Diese Einwandererflut wird in Folge der dortigen Bevölkerungsexplosion absehbar auch kein Ende finden. Und es ist drittens der reale Verlust des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen. Die schrittweise und schon laufende Übertragung unserer Parlamentsrechte und Regierungsaufgaben auf die Instanzen und Behörden der EU und der Verlust der Stimmenmehrheit im eigenen Land führen uns in nur wenigen Generationen dorthin. Die drei Themen Sicherung unserer Geldes und Vermögens, Beendigung der Masseneinwanderung und Behauptung des Selbstbestimmungsrechts werden von den etablierten Parteien und den Medien derzeit mit populären Themen wie Klimarettung, Digitalisierung, Corona und Gerechtigkeit aus den Wahlkämpfen herausgehalten.

Wenn Sie meine Begründungen im Einzelnen interessieren, lesen Sie bitte weiter.

„Die junge Generation in Deutschland in Gefahr: Schulden und Hypotheken für unsere Nachkommen.“ weiterlesen

Der transzendente Wald

von Klaus Kunze

Der transzendente Wald

Der grüne Gott

In ohnmächtiger Wut verteidigen linke Rodungsgegner Forsten wie den Hambacher Forst und vormals manchen anderen. Für nüchtern rechnende Planer schlagen sie ihre Schlachten gegen die Polizei ohne Sinn und Verstand.

Dabei haben sie einen rechten literarischen Vorgänger. Der ostpreußische Kriegsheimkehrer Ernst Wiechert hatte 1922 in der Romangestalt des Henner Wittich sein Alter Ego geschaffen. Hauptmann Wittich war im Felde ein harter Hund. Er kehrt der modernen Welt mit ihrer mechanisierten Menschenvernichtung den Rücken und zieht sich in seinen ostpreußischen Urwald zurück. Wer sich unbefugt hineinwagt, riskiert sein Leben.

„Der transzendente Wald“ weiterlesen

Menschenwürde und der Atomisierungstotalitarismus der Mitte

von Florian Sander

Menschenwürde und der Atomisierungstotalitarismus der Mitte

Der Begriff der Menschenwürde in seiner verfassungsrechtlichen und politischen Bedeutung

Die Menschenwürde ist in aller Munde. Genau genommen war sie dies schon seit Gründung der Bundesrepublik – rekurriert doch eben immerhin Artikel 1 des Grundgesetzes auf jene „Würde des Menschen“ und hebt sie in einen verfassungsrechtlichen Rang höchster Priorität und größtmöglicher Bedeutung. Abseits dieser besonderen Rolle der Schutzfunktion für den Menschen in all seinen im Nachhinein vom Grundgesetz verbrieften Freiheitsrechten ist sie aber mit fortschreitender linksgrüner Transformation des gesellschaftlichen Grundkonsenses der Bundesrepublik seit den 90er Jahren bis heute immer mehr auch zu einem explizit politischen Begriff ausgebaut worden, der nicht mehr, wie zuvor noch verfassungsrechtlich gedacht, dazu dient, eine gemeinsame Ausgangsbasis, einen gemeinsamen Nenner, ein Fundament, ein Grundgerüst für den politischen Wettbewerb in der Demokratie zu schaffen, sondern mit dem aktiv Politik gemacht wird, mit dem politische Programme implementiert, ja mit dem sogar der politische Feind (nicht mehr: Gegner) bekämpft werden soll. Die Menschenwürde ist ein politischer Kampfbegriff geworden – basierend auf der Macht moralischer Aufladung.

Gummibegriff repressiver Staatspraxis

Einer besonderen Beliebtheit erfreut sich der Begriff jüngst bei den Gutachtern des Verfassungsschutzes, die – freilich in politischem Auftrag – danach trachten, der AfD, ihrer Jugendorganisation JA und dem mittlerweile aufgelösten Flügel sowie mehreren Landesverbänden und einzelnen Politikern der Partei eine gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung gerichtete Haltung zu unterstellen. Die Tatsache, daß hierfür ein skandalträchtiger Wechsel an der Spitze des Inlandsgeheimdienstes nötig wurde, zeigt bereits eindrücklich, daß es sich bei dem Schritt hin zur Beobachtung mindestens von Teilen der Partei und ihrer Untergliederungen und ihrer „Verdachtsfall“-Einstufung um eine explizit politische und eben nicht um eine „administrative“ oder „rational-verwaltungstechnische“ Entscheidung handelt.

Besonders aufschlußreich sind hier oftmals die herangezogenen Begründungen, die in den gutachterlichen Beurteilungen als Legitimation für die staatliche Repression gegen die verbliebene Oppositionspartei herhalten müssen. Besonders sticht hier immer wieder der Verweis auf „die Menschenwürde“ hervor, welche durch diese oder jene Positionierung oder Äußerung eines AfD-Politikers verletzt werde. Ein AfD-Vertreter übt polemisch-überspitzte Kritik am politischen Gegner, wie er insbesondere zu Wahlkampfzeiten in der politischen Auseinandersetzung seit jeher bei allen Parteien üblich ist? Eine Verletzung der „Menschenwürde“ dieses oder jenen Altparteien-Politikers. Eine AfD-Untergliederung wendet sich dagegen, soziale Transferleistungen welcher Art auch immer an Ausländer auf dem gleichen Niveau zu halten wie solche an deutsche Staatsbürger? Eine Verletzung „der Menschenwürde“, da ja jeder Mensch vom Staate gleich zu behandeln sei. So läßt sich das Spiel ewig fortführen.

Überspitzt gesprochen könnte man prognostizieren: Will ein AfD-Politiker demnächst einen islamistischen Terroristen ausweisen lassen, so ist auch das dann schließlich eine Verletzung der „Menschenwürde“ des besagten Islamisten, der ja schließlich einen Anspruch darauf habe, im rechtsstaatlichen Verfahren nicht anders behandelt zu werden als deutsche Staatsbürger. Der Begriff der Menschenwürde ist – in seiner politischen Verwendung – allzu oft eine Art Gummibegriff, der so derart interpretationsbedürftig ist, daß ihn jeder im Sinne seiner jeweiligen politischen Ideologie drehen und kneten kann, wie er möchte. Grund genug, sich an dieser Stelle in einer soziologischen Betrachtung des Begriffes zu versuchen, um etwas mehr Klarheit zu schaffen.

Wahrnehmung durch Kontrast

Was „würdig“ ist und was nicht, ist in der Regel eine Frage der Kommunikation und der befriedigten oder eben nicht befriedigten sozialen Rollenerwartungen – an andere wie auch an sich selbst. Die soziologische Bedeutung von Würde läßt sich am ehesten dadurch erschließen, daß wir fragen, was wir als „unwürdig“ oder gar „würdelos“ betrachten. Stellen wir diese Frage, so bemerken wir schnell, daß uns „Würdelosigkeit“ oder eine „unwürdige Existenz“ (beide Begriffe beinhalten bloß unterschiedliche normative Positionierungen zu ein- und demselben sozialen Phänomen – ersterer ist verurteilend, letzterer mitleidig) immer da begegnen, wo soziale Selbstdarstellungen misslingen, sei es gegenüber anderen oder sei es vor einem selbst, aber geboren aus den Maßstäben der sozialen Umwelt.

Armut empfinden wir für gewöhnlich erst dann als Unglück, wenn sie eine gesellschaftliche Ausnahme darstellt. Wenn in der Gesellschaft jedermann arm ist, ist es „normal“, also innerhalb der sozialen Norm, und auch kein Unglück mehr. Begegnen Menschen aus wohlhabenden Industriestaaten zum ersten Mal den Lebensverhältnissen in einem Entwicklungsland – sei es nun als Touristen, in einem Freiwilligendienst oder in anderen Zusammenhängen – so ist oftmals die Überraschung darüber groß, „wie glücklich“ doch „diese Menschen dort“ sind, trotz der großen Armut, während einem daheim, im verregneten Deutschland, angeblich nur missmutige Gesichter und Freudlosigkeit begegneten. Einstufungen wie diese sind nicht nur geboren aus der für Deutsche typischen Idealisierung alles Fremden bei gleichzeitiger Aburteilung des komplexbeladenen Eigenen, sondern enthalten durchaus einen wahren Kern. Und dieser Kern resultiert eben daraus, daß dort, wo „es jedem gleich schlecht geht“, weniger Unglück vorherrscht als dort, wo es den einen gut und den anderen schlecht geht. Die Relation erst schafft die Glücks- oder Unglückswahrnehmung.

Aus dieser Relation heraus wird das Bedürfnis nach Würde geboren. Wer in einem selbstgebauten Haus aus Pappkartons in einer brasilianischen Favela lebt, der wird dies nicht als menschenunwürdige Existenz empfinden, solange es seiner sozialen Umwelt ebenso geht. Erst das Ungleichheitsempfinden schafft die Wahrnehmung und Kategorisierung als menschenunwürdig. Menschenwürde ist ein Begriff, der sozialen Zurechnungen entspringt – und eben kein absoluter, der einen objektiv gegebenen oder gar gottgewollten Zustand beschreibt. Das, was „menschenwürdig“ ist und was nicht, wird determiniert durch soziale Rollenerwartungen.

Gelingende Selbstdarstellung im Rahmen sozialer Rollen

Der Mensch spielt normalerweise dutzende soziale Rollen (sofern er nicht tagelang allein in Quarantänen und Heimarbeit sitzt – derartige, wenn auch monatelange „Ausnahmesituationen“ blenden wir an dieser Stelle einmal theoriepragmatisch aus). Auf gesellschaftlicher Ebene sind wir Arbeitnehmer, Sohn oder Tochter, Vater oder Mutter, Patient, Kunde, Wähler, Sportler, Zeuge, Künstler, Gemeindemitglied, Leser / Zuschauer und vieles mehr. Auf organisationaler Ebene mal Chef, mal Untergebener, mal Kunde, mal Leistungserbringer; auf Gruppen-Ebene mal Freund, mal Feind, mal Moderator; auf Interaktionsebene mal Gesprächspartner, mal Zuhörer oder Beobachter. Die Liste ließe sich fortführen.

An diese sozialen Rollen gekoppelt sind soziale Rollenerwartungen, die wiederum aus sozialen Normen geboren werden. Wir wissen, daß wir als Patient in der Regel erst im Wartezimmer sitzen. Wir wissen, daß wir als Kunde in der Schlange warten müssen und uns nicht vordrängeln dürfen. Wir wissen insbesondere, wie wir uns in unseren (beruflichen oder sonstigen) Leistungsrollen zu verhalten haben. Über die mit dem Erwachsenwerden eintretende Reaktions- und Stimulus-Differenzierung lernen wir, die eine Rolle von der anderen zu trennen; also zu wissen, daß wir uns im einen sozialen System anders benehmen müssen als im anderen, daß wir uns etwa im Beruf anders kleiden als auf dem Sofa und so weiter. Gelingt diese Differenzierung, genügen wir den sozialen Rollenerwartungen und der sozialen Norm, und es gelingt auch die soziale Selbstdarstellung. Gelingt sie nicht, ist unsere Würde geschädigt: Wir sind schlimmstenfalls „gedemütigt“ oder „entwürdigt“ – aus Sicht anderer oder aus unserer eigenen Sicht. Würde ist also nicht objektiv gegeben, sondern wird uns sozial zugeschrieben (vgl. Nettesheim 2005: 91ff.). Sie ist Gegenstand und Resultat sozialer Konstruktion, nicht naturrechtlich-ontologisch vorgegeben (vgl. Böckenförde 2004: 1223).

Kann ein Gesetz etwas für unantastbar erklären, was sozial zugerechnet wird und nicht objektiv gegeben ist? Im soziologischen Sinne: Nein. Nichts bewahrt uns im Zweifel vor Entwürdigung, sei es nun vor uns selbst oder vor anderen – auch nicht der demokratische Staat, denn er kann niemals überall sein, wo wir kommunizieren. Ein Staat kann mit dieser Problematik nun jedoch unterschiedlich umgehen. Aus der liberalen Herangehensweise heraus verstünde er die Menschenwürde – letztendlich und lediglich – als Begrenzung seiner selbst, als Abwehrrecht. Artikel 1 hieße demnach faktisch: „Die Würde des Menschen ist für den Staat unantastbar.“ Hierauf basierte das Rechtsstaatsprinzip.

Dabei allerdings blieb es nicht, sondern die Menschenwürde im grundgesetzlichen Sinne wird zugleich auch als Leistungsrecht verstanden, welches den Staat dazu verpflichtet, Dritte von der Verletzung der Menschenwürde abzuhalten und hierfür entsprechende politische und rechtliche Schritte zu veranlassen. An diesem Punkt begegnet der Staat seiner ihm selbst gesetzten Unmöglichkeit, die aus einem zugrundeliegenden Egalitarismus herrührt. Da ausdrücklich „alle Menschen“ – und eben nicht nur: alle Staatsbürger – adressiert werden (vgl. ebd. 2004: 1222), müssen alle jederzeit in gleicher Weise beglückt werden, egal wer sie sind und vor allem: woher sie kommen. Der Nationalstaat verunmöglicht sich in dieser Auslegung letztendlich selbst, denn wenn jeder, der kommt, unter Berufung auf Artikel 1 genauso behandelt werden soll wie Staatsbürger, führt dies unweigerlich irgendwann zu seiner selbstverschuldeten Überlastung und damit zum Zusammenbruch. So wird die verfassungsrechtliche Menschenwürde in der politischen Praxis zur Paradoxie, denn wo irgendwann kein Staat mehr ist, da kann auch keiner mehr die Menschenwürde schützen.

Menschenwürde in rechtssoziologischer Perspektive

Rechtssoziologisch betrachtet ist das Prinzip der Menschenwürde vergleichbar mit einer Einrichtung der strukturellen Kopplung des politischen Systems und des Rechtssystems, mittels derer sich beide Funktionssysteme wechselseitig beobachten können – mittels derer sie sich aber auch selbst beobachten können (vgl. Luhmann 1990: 201ff.; Luhmann 1995: 440-495; Luhmann 2002: 372-406; Luhmann 2018: 92-120). Das politische System in der funktional differenzierten Gesellschaft weiß (u. a.) durch das Menschenwürde-Prinzip, wie weit es mit seinen politischen Steuerungsambitionen gehen darf und wie weit nicht, während das Rechtssystem (u. a.) durch es weiß, ab wann es dem politischen System Grenzen aufzuzeigen hat. Zugleich ist es aber eben auch die Anleitung zum politischen Programm, also zu konkreten politischen Schritten, welche die Rolle einer bloßen verfassungsrechtlichen Schranke weit überschreiten und dem liberalen Gerüst der Bundesrepublik damit eine kräftige egalitäre Lackierung hinzufügen.

Die verbindende Klammer zwischen den beiden vermeintlichen Polen „Liberalismus“ und „Egalitarismus“, die deren Distanz zum konservativen Wertegerüst besonders vor Augen führt, ist die des Individualismus, welcher sich im Menschenwürde-Prinzip ganz besonders drastisch ausdrückt. Denn dort, wo der Staat verpflichtet ist, jedermanns soziale Selbstdarstellung zu akzeptieren und zu schützen, so wie sie ist (vgl. Nettesheim 2005: 92), ja wo er sogar Dritte mit aller Macht dazu veranlassen muß, dies zu tun, und sie vor dem Anzweifeln dessen abhalten muß, da kann mit einiger Berechtigung eine Art „individualistischer Totalitarismus“ attestiert werden. Das Individuum wird in eine Position des nicht mehr Anzweifelbaren erhoben – sei es nun in seinem sozialen Status oder in seiner sexuellen Identität. Nichts soll das Individuum mehr aufhalten dürfen in der postmodern-neoliberalen Gesellschaft – nicht nationalstaatliche Grenzen, nicht gesellschaftliche Sitten, Konventionen und Institutionen, ja nicht einmal von der Natur selbst gesetzte Grenzen und Grundgerüste (wie etwa die beiden Geschlechter).

Entpolitisierung, Atomisierung, Anomie

Doch wo das Individuum alles ist, da ist das Kollektiv nichts: Kollektive Identitäten und Einheiten, kollektive Interessen, wie sie eigentlich grundlegend sind für jede funktionierende Gesellschaft (und damit relevant für jeden Staat), Gemeinschaft, Religion, Familie und Nation müssen dadurch letztlich gezwungenermaßen in den Hintergrund treten bis schließlich ganz verschwinden. Durch den liberal-egalitär-universalistischen Individualismus werden althergebrachte Institutionen und übergeordnete Bindungen atomisiert, was letztlich zur Entpolitisierung (vgl. Schmitt 2015: 33) und damit zur anomischen (vgl. Durkheim 1983) Gesellschaft führt, die durch nichts mehr zusammengehalten wird, sondern in Vereinzelung zersplittert, die aber zugleich zur globalisierten Weltgesellschaft ausgedehnt wird, die aus hyperindividualisierten Konsumenten besteht, aber jegliche kollektive Identitäten negiert hat. Die besondere Tragik einer solche Entwicklung besteht darin, daß sie nicht nur jeglicher rechten Vorstellung zuwiderläuft, sondern im Endeffekt auch klassischen linken Utopien – zugunsten eines digitalisierten, anonymisierten, seelenlos-kosmopolitischen, globalen Neoliberalismus, getragen von „Big Tech“ und „Woke Capital“.

Es läge insofern nicht nur im Interesse der politischen Rechten, sondern auch der – klassischen, also nicht liberalen – politischen Linken, dem sanften Atomisierungstotalitarismus der Mitte die Forderung nach einem neuen Recht auf kollektive Identität entgegenzustellen, welches zum Schutz menschlicher Grundbedürfnisse nach sozialer Einbettung Rechnung trägt. Es kann und sollte unsere politische wie verfassungsrechtliche Aufgabe sein, eine solche Entwicklung couragiert und engagiert voranzutreiben.

Literatur

Böckenförde, Ernst-Wolfgang (2004). Bleibt die Menschenwürde unantastbar? In: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2004. S. 1215-1227.

Durkheim, Emile (1983). Der Selbstmord. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (1990). Verfassung als evolutionäre Errungenschaft. In: Rechtshistorisches Journal 9/1990. S. 176-220.

Luhmann, Niklas (1995). Das Recht der Gesellschaft (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2002). Die Politik der Gesellschaft (1. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Luhmann, Niklas (2018). Die Gesellschaft der Gesellschaft (Bd. I) (10. Aufl.). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Nettesheim, Martin (2005). Die Garantie der Menschenwürde zwischen metaphysischer Überhöhung und bloßem Abwägungstopos. In: Archiv des öffentlichen Rechts 130, 2005. S. 71-113.

Schmitt, Carl (2015). Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien (9., korr. Auflage). Berlin: Duncker & Humblot.

Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Florian Sander

Florian Sander ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er ist Mitglied der Landesprogrammkommission und des Landesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik der AfD in NRW sowie Kreisvorsitzender der AfD Bielefeld und Mitglied des Rates der Stadt Bielefeld. Er schrieb u. a. für ‚Le Bohémien‘, ‚Rubikon‘, ‚Linke Zeitung‘, den ‚Jungeuropa‘-Blog und ‚PI News‘, ist inzwischen Autor für ‚Arcadi‘, ‚Sezession‘, ‚Glauben und Wirken‘, ‚Wir selbst‘ und ‚Konflikt‘ und betreibt den Theorieblog ‚konservative revolution‘.

Welt ohne Menschen: Die antihumane Wende

von Dr. Winfried Knörzer

Welt ohne Menschen: Die antihumane Wende

Der Mensch lebt von seiner Umwelt. Mit allem, was er tut, verbraucht und verändert er Natur. Menschliches Leben geht zu Lasten der Umwelt.

Der Umstieg von Kohle und Öl auf Windkraft zerstört Landschaft und tötet Vögel, die von den Rotorblättern zerfetzt werden. Der Verzicht auf Fleisch zugunsten vegetarischer Nahrung erhöht den Pestizid- und Wasserverbrauch. Eine Reduktion von Pestiziden und Dünger erfordert wegen der Ertragsreduktion pro Hektar eine Ausdehnung der Ackerflächen, was zur Abholzung der Wälder führt, die als Sauerstoffspender und Kohlendioxidvertilger benötigt werden. Dieselben Folgen ergeben sich beim Ersatz von Plastikprodukten durch Stoff- oder Papierbehältnisse.

Wie man es auch dreht und wendet: die Substitutionslogik ist ein Trugschluß. Was auf der einen Seite des Kontos als Verbesserung verbucht werden kann, schlägt auf der anderen als Nachteil durch. Die Bilanz bleibt immer negativ.

Alle Strategien der Nachhaltigkeit und des Substituierens können bestenfalls die Umweltzerstörung verlangsamen, nicht aber beseitigen. Wer wirklich konsequenten Umweltschutz will, kann nur zu dem Ergebnis kommen, daß die Menschheit verschwinden muß.

Verständlicherweise dürfte es schwerfallen, die Menschen zum Selbstmord zu überreden oder auch nur zum Reproduktionsverzicht zu zwingen. Solch drastische Maßnahmen sind (noch?) nicht durchsetzbar. Dennoch zeichnet sich in den westlichen Ländern ein Wille zur Umkehr ab. Nicht ein Besser, ein Mehr, sondern ein Schlechter, ein Weniger wird angestrebt. Konkret heißt dies: keine Autos, keine Urlaubsreisen, kein Fleisch, kleinere und kältere Wohnungen, weniger Bequemlichkeit, allgemeine Verteuerung. Da eine umweltbewußte Lebensweise sich bislang darauf beschränkte, mit dem Fahrrad statt mit dem Auto zum Bäcker zu fahren oder Bioprodukte zu kaufen, ist noch nicht ins Bewußtsein gedrungen, was Umkehr tatsächlich bedeutet.

Ich sehe mich außerstande, auch nur eine einzige Idee zur Lösung der Krise beizusteuern. Einige wohlfeile Ratschläge wären zudem vollkommen lächerlich und dilettantisch, da unzählige berufenere Leue sich schon damit befaßt haben. Ich muß mich darauf beschränken, die Lage zu durchdenken. Das heißt vor allem, zu verstehen, in welcher Art Denken sich das Existieren in der Umweltkrise konstituiert.

Das Grundprinzip dieser neuen Denkweise besteht im Gegensatz von Mensch und Umwelt. Auch bisher wurde die Auswirkung menschlichen Handelns auf die Umwelt bedacht. Man ist aber davon ausgegangen, daß deren Schädlichkeit begrenzt werden könnte. Man glaubte, sich in einem beherrschbaren Gleichgewicht zwischen einem einerseits schädlichen, andererseits förderlichen Verhältnis zur Umwelt einrichten zu können. Jetzt aber wird dieses Verhältnis als Gegensatz gedacht. Was gut ist für den Menschen, ist schlecht für die Umwelt – und umgekehrt. Zu diesem Gegensatz muß man Stellung beziehen. Die Ökologisten ergreifen für die Umwelt Partei. Sie wollen, daß die Menschen zum Wohle der Umwelt Opfer erbringen. Natürlich versäumen sie nicht, darauf hinzuweisen, daß all die geforderten asketisierenden Maßnahmen letztlich dem Wohl der Menschheit dienen, da nur eine umweltverträgliche Lebensweise deren Überleben ermöglicht. Indem sie aber die unmittelbaren, konkreten Folgen der Verschlechterung der Lebensverhältnisse ignorieren, betreiben sie faktisch eine antihumane Politik. Sie fragen schon gar nicht mehr, ob und wie sich menschliches Handeln mit Umweltverträglichkeit vereinbaren ließe, sondern verlangen, daß durchweg die Umwelt Vorrang haben müsse. Die Umwelt ist der neue Gott, dem sich die Menschen unterordnen müssen. Wer das Verhältnis von Mensch und Umwelt als Gegensatz und nicht als Miteinander begreift, kann gar nicht anders, als dieses Verhältnis in hierarchischer Form zu konzipieren. Vor die Alternative gestellt, sich in einem konkreten Fall für die Belange der Menschen oder der Umwelt zu entscheiden, wird der Ökologist sich gegen die Menschen entscheiden – zumindest wenn er nicht selbst direkt betroffen ist. Die Behauptung, Umweltschutz diene letztendlich dem Überleben der Menschheit besagt nichts anderes, als daß zuerst der Umweltschutz und dann erst danach die Menschheit kommt. Natürlich intendiert diese Behauptung, daß der Umweltschutz das Mittel und die Menschheit der Zweck sei. Aber Mittel tendieren dazu, sich von ihren Zwecken zu emanzipieren. Hat sich eine ursprünglich nur als Mittel geplante Praxis organisatorisch verfestigt, wird die Organisation sich selbst zum Zweck. Eine Umweltorganisation wird sich daher primär für die Umwelt interessieren und nicht für die von der Umweltpolitik betroffenen Menschen – und dies umso mehr, je mehr Macht sie hat und keine Rücksicht auf konfligierende Belange nehmen muß.

Antihumane Wende heißt, daß der Mensch aus dem Zentrum politischen Handelns gerückt wird. In der antihumanistischen Weltsicht wird der Mensch nicht in einem hegenden Verhältnis zur Umwelt gedacht, als „Hüter des Seins“ (Heidegger), sondern als Störenfried und Schädling. Die anfangs gemachte Feststellung, daß die Menschheit verschwinden solle, ist leider nicht so spaßig-sarkastisch gemeint, wie es vielleicht den Anschein haben mag. Der Mensch soll nicht mehr hegen, sondern eingehegt werden. Er kann nur so lange geduldet werden, wie er sich klein macht und seine Schadlosigkeit unter Beweis stellt, wobei die Ökologisten die Kriterien vorgeben, worin schadloses Verhalten besteht. Wenn sich eine Weltsicht durchsetzt, die das Verschwinden der Menschheit als das Beste für die Umwelt hält, wird man es als Gnade empfinden, irgendwie fortexistieren zu dürfen und man wird, um sich dieser Gnade würdig zu erweisen, auch die härtesten Restriktionen klaglos erdulden. Eine solch radikale Konsequenz liegt bisher noch in weiter Ferne. Sie wird aber näherrücken, wenn sich Umweltschutzmaßnahmen als untauglich herausstellen werden. Dies wird auf jeden Fall geschehen, da, wie oben gezeigt, eine umweltförderliche Maßnahme auf einem Gebiet einen Umweltschaden auf einem anderen Gebiet bewirkt. Wenn somit Umweltpolitik an ihre Grenzen stößt, wird nicht mehr ein Handeln von Menschen, sondern ihr bloßes Vorhandensein zum Problem. Bislang bezog sich Feindschaft immer auf eine konkrete Andersheit. Feind war: eine andere Nation, andere Religion, andere Klasse, andere Ideologie. Jetzt aber wird der Mensch sich selbst in seiner Eigenschaft als Lebewesen zum Feind. Welche Folgen auch immer sich daraus ergeben, eines jedenfalls ist sicher: das menschliche Leben ist nicht mehr Selbstzweck, sondern wird unter den Vorbehalt der Umweltverträglichkeit gestellt. Auch wenn der Endpunkt einer solchen Entwicklung noch lange nicht erreicht ist, so hat die Entwicklung selbst schon eingesetzt. Die Umkehr der Orientierung ist bereits erfolgt, da die Beziehung von Mensch und Umwelt als Gegensatz gedacht wird und, daraus folgend, der Umwelt der Vorrang zugewiesen wird. Damit etwas getan werden kann, muß es zuerst gedacht werden können. Die Grundlagen eines Denkens der Antihumanität sind vorhanden.

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist knoerzer-02.jpg.

Dr. Winfried Knörzer

Dr. Winfried Knörzer, geboren 1958 in Leipzig, studierte in Tübingen Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaften, Japanologie und promovierte über ein Thema aus der Geschichte der Psychoanalyse. Berufliche Tätigkeiten: Verlagslektor, EDV-Fachmann. Seit Anfang der 90er Jahre ist er mit Unterbrechungen publizistisch aktiv.

Am 25. Juni 2021 erscheint das Buch „Farben der Macht“ von Dr. Winfried Knörzer im Lindenbaum Verlag. Hier können Sie es direkt beim Verlag versandkostenfrei bestellen: https://lindenbaum-verlag.de/produkt/farben-der-macht-der-rechte-blick-auf-die-gesellschaft-der-gleichen-winfried-knoerzer/

Die Feuernacht 1961 in Südtirol – eine Dokumentation

Diese Dokumentation, die anläßlich des Gedenkens an die Geschehnisse in Südtirol vor 10 Jahren, also zur 50. Wiederkehr des Jahrestages der Anschläge durch südtiroler Freiheitskämpfer, vom Sender RAI in Bozen ausgestrahlt wurde, zeichnet sich weitgehend durch Sachlichkeit und Ausgewogenheit aus.

Die Feuernacht vom 11. auf den 12. Juni 1961: Wie kam es zu den Anschlägen am Herz-Jesu-Sonntag des Jahres 1961? Und was haben sie tatsächlich bewirkt? Mit diesen und weiteren brennenden Fragen setzt sich die spannende Dokumentation „Südtirol – Zwischen Hoffnung und Gewalt“ auseinander; sie lässt Zeitzeugen, Südtirol-Aktivisten der sechziger Jahre und Historiker zu Wort kommen.

Am 12. Juni 1961, in der Herz-Jesu-Nacht, werden im ganzen Land 37 Strommasten gesprengt. Die Nacht sollte als „Feuernacht“ in die Geschichte Südtirols eingehen.

Der Paukenschlag gelingt, die europäische Öffentlichkeit wird aufgerüttelt, doch der Preis ist hoch: Bereits Mitte Juli 1961 rollt eine Verhaftungswelle durch das Land. Drei Südtiroler sterben an den Folgen von Misshandlungen.

50 Jahre nach der Feuernacht will die Dokumentation „Südtirol – Zwischen Hoffnung und Gewalt“ ein dramatisches Kapitel Zeitgeschichte verständlich machen. Wie konnte ein solcher Konflikt entstehen – in einem Europa auf dem Weg zur Einigung? Welche Rolle spielte Österreich? Wer waren die Drahtzieher?

Dazu äußern sich ehemalige Attentäter wie Sepp Innerhofer, Josef Mitterhofer, Klaudius und Herlinde Molling und Sepp Forer, Sprecher aller Lager, so zum Beispiel der (verstorbene) langjährige Landtagsabgeordnete Pietro Mitolo, Franz Widmann, der ehemalige Senator Lionello Bertoldi, der frühere österreichische Außenminister Peter Jankowitsch und Botschafter Ludwig Steiner.

Bis heute wird den Südtirolern das Selbstbestimmungsrecht verwehrt!

60 Jahre Feuernacht – Das große Interview mit Dr. Eva Klotz

Vor 60 Jahren, in der Herz-Jesu-Nacht (vom 11. auf den 12. Juni) 1961, sprengten Süd-Tiroler Freiheitskämpfer an die 40 Strommasten in die Luft, um die Weltöffentlichkeit auf das Süd-Tirol-Problem aufmerksam zu machen. Es war der Höhepunkt des Widerstandes gegen die Unterdrückung durch den italienischen Staat.

Im ausführlichen Interview spricht die langjährige Landtagsabgeordnete und Tochter des Freiheitskämpfers Jörg Klotz, Dr. Eva Klotz, über die Geschichte ihres Vaters, über das Jahr 1961, über die schwere Zeit davor und danach. Sie erzählt von Mut und Feigheit, von Treue und Verrat, von Entschlossenheit und Resignation. Ein Streifzug durch die Zeitgeschichte Süd-Tirols am Beispiel des Freiheitskämpfers Jörg Klotz.

Dieses Interview führte die Süd-Tiroler Freiheit – Freies Bündnis für Tirol.

Hier könnt Ihr Euch über die Arbeit der Süd-Tiroler Freiheit informieren: Süd-Tiroler Freiheit.

Frei.Wild mit dem Video zu „Wahre Werte“ aus dem Album Gegengift.

Lassalle, Heller und das verratene Erbe des deutschen Sozialismus

von Dr. Dr. Thor von Waldstein

Lassalle, Heller und das verratene Erbe des deutschen Sozialismus

I.

Als der 28jährige Kieler Habilitand Hermann Heller 1919 zu den Sozialdemokraten stieß, war der Geist Ferdinand Lassalles, der den Vorläufer der SPD, den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV), 1863 in Leipzig gegründet hatte, seit fast einem halben Jahrhundert tot und begraben. Lassalle (1825 – 1864) hatte sich selbst verstanden als „ein(en) Mann …, der seine ganze Existenz einer heiligen Sache, der Sache des Volkes, bis in ihre äußersten Konsequenzen gewidmet hat“1. Als Fichteaner war er mit diesem davon überzeugt, „daß die großen Nationalangelegenheiten immer nur vom Volke, nie von den gebildeten Ständen in die Hand genommen werden.“2 Geprägt von Rousseaus Ideenwelt und von Hegels Staatsidee strebte Lassalle einen volksgebundenen Sozialismus als Ziel an. In diesem sollten die Forderungen der wachsenden unteren Volksschichten nach politischer Teilhabe in Einklang gebracht werden mit den sich Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkenden Sehnsüchten der Deutschen nach einem einheitlichen Nationalstaat. Lassalle, schon als junger Redner eine beeindruckende Persönlichkeit, hatte sich in seinem Stil von den rhetorischen Pulverköpfen des „Jungen Deutschland“, allen voran Heinrich Heine und Ludwig Börne, anstecken lassen. Das gab seinen Vorträgen und Schriften jenes stürmische Timbre, das den Zuhörer und Leser zwar in seinen Bann zog, das aber auch – vor und nach 1848 – den einen oder anderen Gefängnisaufenthalt für den streitbaren Sozialisten mit sich brachte. Von Karl Marx, „dem Ökonom gewordenen Hegel“3, mit dem er seit 1848 bekannt war, nabelte sich Lassalle spätestens Ende der 1850er Jahre wegen Marxens nationaler Seinsvergessenheit ab. Angesichts der pan-ökonomistischen Geschichtsdeutungen Marxens sah er sich veranlaßt, seinem einstigen Vorbild im Jahr 1860 nach London zu schreiben: „Vergiß nicht, daß Du ein deutscher Revolutionär bist und für Deutschland wirken willst und mußt. Veranglisiere Dich nicht.“4 Diese Ermahnungen konnten indes nicht fruchten, weil Marx als internationalistischer Revolutionstheoretiker dem Lassalle‘schen Bemühen um die deutsche Einheit und die in diesem Nationalstaat (und eben nicht in Globalistan) zu realisierenden Rechte des Arbeiters bereits vom Ansatz her fern stand.

Lassalle, Ferdinand (1825 – 1864), Deutscher Politiker und Publizist, Gründer der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie; Ferdinand Lassalle; Foto: Fotograf unbekannt, um 1860

Es gehört zur Tragik der deutschen Linken, daß das Lassalle‘sche Ideal eines allein in autochthonem Rahmen zu verwirklichenden Sozialismus nach seinem frühen Tod 1864 mehr und mehr von einem volkvergessenen Dogmatismus überwuchert wurde, in dem der spiritus Marxii purus und nicht der deutsche Geist den Ton angab.5 Über das Lassalle’sche Credo, daß die soziale Frage des industriellen Zeitalters in erster Linie ethisch und dann erst wirtschaftlich zu beantworten sei, schien die historische Entwicklung spätestens mit der 1875 in Gotha vollzogenen „Aufsaugung der Lassalleaner durch die Marxisten“6 hinweggegangen zu sein. Die Liaison zwischen Nation und Sozialismus war danach einstweilen beendet. Mit ihren deutschen Satrapen Liebknecht und Bebel entwickelten Marx und Engels von der anderen Kanalseite aus konsequent einen staatsfeindlichen7 Marxismus, der den deutschen Arbeiter in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg nach und nach von der eigenen Nation entfremdete.

II.

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches 1918 und dem die Deutschen knechtenden Versailler Diktat 1919 waren die Anfänge republikanischer Staatlichkeit von Anfang an von dunklen Wolken verhangen. Dieses düstere Szenario hellte sich auch in der Folge – trotz einer sich ökonomisch leicht verbessernden Zwischenphase von 1924 bis zur Weltwirtschaftskrise 1929 – nicht auf. In diesem äußerlich fragilen Rahmen der Weimarer Republik entfaltete sich für Hermann Heller eine wissenschaftliche Karriere, die ihn von Stationen in Kiel, Leipzig, Berlin über einen halbjährigen Studienaufenthalt im faschistischen Italien bis zur 1932 endlich erreichten Ordinarienstelle für Öffentliches Recht in Frankfurt/Main führte. In diesem knapp bemessenen Zeitraum von wenig mehr als einem Jahrzehnt entwickelte er ein staatsrechtliches und rechtsphilosophisches Werk, das wegen seiner Wiederanknüpfung an die Lassalle’sche Symbiose von Nation und Sozialismus und wegen seines brillanten Stils in der deutschen Staatslehre des 20. Jahrhunderts ohne Beispiel dasteht.

Für den Kenner nicht überraschend ist zunächst, daß Heller mit Carl Schmitt, seinem berühmten Antipoden beim Preußenschlag-Prozeß vor dem Reichsstaatsgerichtshof in Leipzig im Herbst 1932, inhaltlich, gerade in bezug auf die Topoi Staat, Volk und Nation, mehr verbindet als trennt. Die Parallele beginnt mit der übereinstimmenden Ablehnung von Hans Kelsens „Nomokratie“8, gegen die sich Heller mit der Argumentation wendet, die Staatslehre dürfte sich nicht von der Soziologie isolieren: „Rechtswissenschaft … harmonisiert soziale Gegebenheiten, insbesondere die staatliche Ordnung, sie konstituiert sie aber nicht, sondern findet sie bereits vor.“9 Die Gemeinsamkeiten mit Schmitt setzen sich fort in Hellers Gegenposition zu der angelsächsisch dominierten Interessenphilosophie des 19. Jahrhunderts, die den geistigen und seelischen Horizont des Menschen in Verkennung seiner Natur auf das Ökonomische verkürzen wolle. Wirtschaft sei, so Heller, „nur eine neben anderen Kulturbetätigungen des Menschen“10 und „die stärksten und dauerndsten menschlichen Vergemeinschaftungen beruhen nicht auf organisatorischer, zweckbewußter Interessenverbindung, sondern haben einen organischen, naturhaften Kern. Die wichtigsten naturhaften Bindungen, welche die Menschen ohne ihr Zutun zusammenführen und von anderen absondern, sind … die Abstammung und die Landschaft. Beide bilden auch natürliche Grundlagen der Nation.11 Die Adam Smith’sche „Metaphysik des sacro egoismo“12 gehe an der soziologischen Realität, an dem Leben des Menschen in tradierten und emotional determinierten Gemeinschaftsgefügen, vorbei:

„Zum Teufel mit diesen wirklichkeitsfremden Gespenstern ohne Instinkt und Gefühl, ohne Mark und Bein! Die Menschheit gliedert sich in Gesamtheiten, die jeden Tag auseinanderfallen müßten, wenn ihr einziger oder auch nur ihr wesentlicher Kitt das vernünftige Interesse wäre. So sicher uns die sittliche Vernunftidee des Sozialismus aufgegeben ist, so sicher wird sie nur an und in Gemeinschaftskörpern verwirklicht werden, die durch feste, Jahrtausende alte Lebensordnungen zusammengehalten sind. Solange wir nicht wandelnde Geister, sondern Menschen von Fleisch und Blut sind, wird das Rationale nur getragen werden vom Irrationalen, werden Organisationen nur dann Bestand haben, wenn sie äußerer Ausdruck, letztes Vorwerk einer durch Blut, Boden, irrationale Gefühlswerte, Geschichte, gemeinsamen Kulturbesitz verbundenen Gemeinschaft sind.“13

Weitgehend identisch sind die Demokratieanalysen Schmitts und Hellers schließlich in Bezug auf die überragende Rolle, die beide der sozialen Homogenität für die politische Einheit eines Volkes zumessen. Unter Homogenität versteht Heller einen „sozial-psychologische(n) Zustand, in welchem die stets vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Interessenkämpfe gebunden erscheinen durch ein Wirbewußtsein und -gefühl, durch einen sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen.“14 Die soziale Homogenität fächere sich auf in anthropologische, kulturelle, religiöse und ökonomische Elemente15, die quasi den politischen Nenner eines Staates verkörpern. Dessen ungeschriebene Autorität beruhe nicht auf Diktaten „von oben“, sondern auf demokratischen Harmonisierungsprozessen, deren Wirkkraft sich – entsprechend Renans plébiscite de tous les jours – allein „von unten“ entfalten könne. Schwinde dieses Homogenitätsbewußtsein, könne sich das Volk im Staat nicht mehr wiedererkennen und mit dessen Repräsentanten nicht mehr identifizieren. Denn Parlamentarismus sei „nicht der Glaube an die öffentliche Diskussion als solche, sondern der Glaube an die Existenz einer gemeinsamen Diskussionsgrundlage“16. Entfalle diese Plattform, sei eine einheitliche politische Willensbildung nicht mehr möglich; die bis dahin nur parlierende Partei werde dann zur diktierenden Partei: „In diesem Augenblick ist die Einheit gespalten, sind Bürgerkrieg, Diktatur, Fremdherrschaft als Möglichkeiten gesetzt.“17 Heller leugnet nicht „die ewig antagonistische gesellschaftliche Vielheit“ in einem Staat18. Er leitet vielmehr aus diesen zentrifugalen Tendenzen die Hauptaufgabe der Staatslehre dahingehend ab, daß die „individuellen Willen zur Wirkungseinheit eines Gemeinwillens“19 zentripedal zusammenzuführen seien. Politik sei – so Heller weiter – die „Organisation von Willensgegensätzen aufgrund einer Willensgemeinschaft“20. Dem Staat komme dabei die Aufgabe zu, „das geordnete Zusammenwirken aller gesellschaftlichen Handlungen auf einem bestimmten Gebiet in letzter Instanz (zu sichern).“21

III.

Wendet man sich nun der Frage zu, wer nach Hellers Ansicht den Staat verkörpern und von welchem Ordnungsgefüge dieser Staat geprägt sein soll, so stechen in seinem Werk die Begriffe Volk, Nation und Sozialismus hervor, die daher nachfolgend näher betrachtet werden sollen:

1. Volk

Ganz in Hegel‘scher Tradition verankert, begreift Heller den „Staat als Volkspersönlichkeit“22, wobei der – zu organisierende – Staatswille viel mehr sei als der organische, gleichwohl von Gegensätzen gekennzeichnete Volkswille.23 Das Volk stelle im 20. Jahrhundert keine ursprüngliche Abstammungsgemeinschaft mehr dar, sondern sei im Laufe der Zeit „aus rassisch und ethnisch sehr verschiedenen Stämmen zusammengewachsen.“24 Gleichwohl bilde das Volk „auf die Dauer doch einen physischen Generationenzusammenhang“25, wobei es darauf ankomme, daß der objektiv gegebene Volkszusammenhang – in Sprache, Kultur, Religion und Politik – „subjektiv aktualisiert und gelebt werden muß, damit er Wirklichkeit werde“.26 Das Volk ist dennoch nach Hellers Verständnis „durchaus kein rein geistiges Wesen“27; die romantische Lehre von der ursprünglichen Volksgeistsubstanz verkenne den „grundsätzlichen Dualismus von Staat und Volk“28 und gehöre „in das Reich schlechter Metaphysik“29. Volkszugehörigkeit sei regelmäßig „eine Wesensprägung, die im Unwillkürlichen begründet ist und durch einen bloßen Bewußtseinsakt weder zu erwerben noch zu verändern ist.“30 Auf der anderen Seite betont Heller, daß ohne subjektivische Elemente,

– ohne „das Bewußtsein (des Volkes) von seiner Eigenart und

damit von seiner Verschiedenheit andern Völkern gegenüber“31 und

– ohne das „willentliche Einstehen für dieses Volk mit

seinen Vorzügen und … auch mit seinen Fehlern“32,

ein Wirgefühl, eine „Volksgemeinschaft“33, nicht entstehen könne.

2. Nation

Sei ein Kulturvolk als solches zunächst „politisch amorph“34, so könne es zu einer Nation werden „dadurch, daß es sein Zusammengehörigkeitsbewußtsein zu einem politischen Willens-zusammenhang entwickelt.“35 Ein „bloß ethnische(s) Gemein-samkeitsgefühl“ sei für eine solche Konstituierung einer Nation nicht ausreichend.36 Das könne man z.B. an den Deutschschweizern oder den Elsässern sehen, die zwar „in den geistigen Überlieferungszusammenhang des deutschen Volkes einbezogen“ seien37, aber gleichwohl nicht zur deutschen Nation zählten. Heller stellt den voluntaristischen Gesichtspunkt bei der Nationwerdung in den Vordergrund: „Erst wenn ein Volk seine Eigenart durch einen relativ einheitlichen politischen Willen zu erhalten und auszubreiten strebt …, sprechen wir von einer Nation“38. Die Nation sei nicht nur „ein Staatsbildungsprinzip von hervorragendster politischen Bedeutung“39, die Nation sei daneben „die notwendige Erscheinungsform des Sozialismus“40.

3. Sozialismus

Wirklich originell wird Hellers Staatslehre dadurch, daß er die gewachsenen politischen Größen Volk und Nation in untrennbare Verbindung setzt zu seinen sozialistischen Idealen. Die Dominanz der Wirtschaft, von der spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts fast alle anderen Lebensbereiche gekennzeichnet seien, habe eine Seelenlosigkeit und eine ichfixierte und vernutzte Welt hervorgebracht, die der Natur des Menschen als gemeinschaftsorientiertem Wesen widerspreche. Der liberalistisch-individualistisch geprägte Zeitgeist als dem ewigen Begleiter materialistischer Geschichtsepochen habe einen „Neo-Machiavellismus eines desillusionierten Bürgertums“41 entstehen lassen, in dem Heller den Feind erkennt: „Der Sozialismus kämpft deshalb gegen den Geist der kalten Rechenhaftigkeit, der die heutigen Gegenseitigkeitsbeziehungen völlig beherrscht. Der Sozialismus ist der Ausdruck der tiefen, im Menschengeschlecht nie ersterbenden Sehnsucht nach Verinnerlichung des Verhältnisses von Mensch zu Mensch; er ist im letzten der Wunsch nach Umgestaltung der äußeren Gesellschaft in innere Gemeinschaft.“42 In Lassalle’scher Tradition stehend, lehnt Heller den internationalistischen Geltungsanspruch eines Marxismus ab, der in seiner Ortlosigkeit43 auf gespenstische Weise seinem ideologischen Widersassen, dem Kapitalismus, ähnele. Ein solcher – im wahrsten Sinne des Wortes – bodenloser Marxismus offenbare in seinen Schriften ein „erstaunliche(s) Staatsunverständnis“44 und verkenne, „daß wirklicher Sozialismus nicht in der Luft, sondern in einer bestimmten Gemeinschaft, auf einem bestimmten Erdenfleck gebaut (werde)“45. Nation und Sozialismus seien keine Gegensätze, sondern müßten zur Herstellung der „sozialen Volksgemeinschaft“46 ideengeschichtlich zusammengeführt werden: „Die Nation ist eine endgültige Lebensform, die durch den Sozialismus weder beseitigt werden kann noch beseitigt werden soll. Sozialismus bedeutet keineswegs das Ende, sondern die Vollendung der nationalen Gemeinschaft, nicht die Vernichtung der nationalen Volksgemeinschaft durch die Klasse, sondern die Vernichtung der Klasse durch eine wahrhaft nationale Volksgemeinschaft.“47 Der Zwietracht, die der marxistische Klassenkampf im Volk geschürt habe, müsse durch den Rekurs auf die Nation der Nährboden entzogen werden: „Die Parole des Klassenkampfes kann nur lauten: Klasse muß Nation werden! Nicht aus der Nation heraus, sondern in die Nation hinein wollen wir uns kämpfen! Der Sozialismus ist seinem Ziel um so näher, je näher die Arbeiterklasse der Nation gerückt ist. Sie kann und darf in die Nation nicht eintreten als kleinbürgerliches Anhängsel der kapitalistischen Lebensform. Ihre weltgeschichtliche Bestimmung ist es, in der Nation die sozialistische Idee zu verwirklichen.“48 Auch in größerem Rahmen internationaler Organisationen könne Deutschland nur wirken, „wenn wir als Nation geeint und frei dastehen“49. Mit einem Appell, den die heutigen Eurokraten in Brüssel wohl als „europafeindlich“, als orbanesk abkanzeln würden, faßt Heller ein Weltbild zusammen, in dessen Zentrum die deutsche Nation steht, das aber gleichwohl an übergeordneten humanitären Zielen festhalten will: „Wir deutschen Sozialisten haben das stärkste Interesse daran, die nationale Selbstbestimmung des deutschen Volkes innerhalb einer europäischen Völkerorganisation gesichert zu sehen. … Uns ist die Nation kein Durchgangspunkt zu einem kulturlosen Menschenbrei, sondern die schicksalsgebundene Lebensform, in der wir an den übernationalen Zwecken der Menschheit allein mitarbeiten können und wollen.“50

IV.

Hermann Heller blieb es verwehrt, sein geistiges Werk zu vollenden und sein politisches Ideal, die Versöhnung von Nation und Sozialismus, zu verwirklichen. Als volksbewußter deutscher Jude erlag er im Madrider Exil im Alter von nur 42 Jahren den Folgen eines Herzleidens, das er sich als Kanonier an der galizischen Front im Ersten Weltkrieg zugezogen hatte. Viele seiner Schriften wurden 1933 ein Opfer der Flammen; die nicht verbrannten Bücher Hellers wurden nach 1945 ganz überwiegend ein Opfer der Volksvergessenheit in den fremdbestimmten Scheinstaatsgebilden DDR und BRD.51 Im heutigen bundesdeutschen Wissenschaftsbetrieb, in dem eine „seelenlose Vielwisserei“ (Hugo von Hofmannsthal) herrscht und in dem „Registrierfrösche mit kalt gestellten Eingeweiden“ (Friedrich Nietzsche) den Ton angeben, können Hermann Heller und sein Werk als weitgehend vaporisiert angesehen werden. So lautet der Fachausdruck in Orwells „1984“ für die Auslöschung widerspenstiger Geister aus dem kollektiven Gedächtnis post mortem.

Angesichts dieses Befundes ist es umso mehr zu begrüßen, daß es der Jungeuropa Verlag nunmehr unternimmt, die vielleicht wirkmächtigste Schrift Hellers neu aufzulegen. „Sozialismus und Nation“ geht zurück auf das Hauptreferat „Nation, Staat und Sozialdemokratie“, das er vor der dritten Reichskonferenz der Jungsozialisten Ostern 1925 in Jena gehalten hatte.52 Die Erstauflage der Schrift erschien noch in demselben Jahr im Arbeiterjugend-Verlag; die Veröffentlichung der zweiten Auflage erfolgte im Ernst Rowohlt Verlag 1931, also in der Endphase der ersten deutschen Republik, in der das Bürgerkriegsgeschehen die politische Debatte mehr und mehr zu überschatten begann.

V.

Was bleibt von Heller in Zeiten wie diesen, in denen die soziologische Größe „Arbeiter“ nurmehr eine aussterbende Spezies und die Metamorphose der Arbeiterbewegung zur get together party ortloser Intellektueller abgeschlossen zu sein scheint? In Zeiten eines repräsentativen Konsums, in denen der freizeitentfesselte bourgeois die Szenerie bestimmt, während der citoyen seine staatsprägende Kraft verloren hat und froh sein kann, wenn er von den catilinarischen Existenzen, die dieses Land heute beherrschen, keine Prügel bezieht? In Zeiten, in denen sich der Leviatan an der kurzen Leine der pressure groups herumzotteln läßt und der staatliche Ordnungsanspruch nach und nach unter die Räder der Interessen geraten ist? In Zeiten, in denen die Wortsymbiose aus Nation und Sozialismus ihren einstigen politischen Eros verloren hat und bei den umerzogenen Deutschen, die ein pathologisches Verhältnis zu ihrer Geschichte pflegen, allenfalls noch Angstschweißperlen hervorzubringen in der Lage ist?

Wer nach bündigen Antworten auf diese Fragen sucht, kommt um eine Befassung mit den programmatischen Dilemmata der Rechten und der Linken kaum herum. Das Paradoxon der Rechten bestand seit jeher darin, die Beseitigung des politischen
(Links-)Liberalismus anzustreben, um im gleichen Atemzug den Wirtschaftsliberalismus und eben auch den Kapitalismus gegen Angriffe von links zu verteidigen.53 Das Dilemma der Linken ist und bleibt eine ausgeprägte Demophobie und damit eine inzidente Kampfansage gegen die eigen(tlich)e politische Geschäftsgrundlage. Diese Volksfremdheit hat sich zwischenzeitlich zu einer vollständigen dogmatischen Blindheit gegenüber dem Schicksal der Globalisierungsverlierer ausgewachsen. Das politische Kapital, das sich dort in dem vergangenen Jahrzehnt aufgehäuft hat und für das wir immer noch nach der richtigen soziologischen Begrifflichkeit suchen, ist der Linken keines Blickes (mehr) würdig. Sie hat das Volk aufgegeben und sich mit den Liberalindividualisten ins flauschige Bett gelegt. Eingehüllt in Worthülsen, bei denen sich bisweilen Dümmlichkeit mit subkutaner Aggressivität paart („Menschenrechte statt rechte Menschen“), verfrühstückt man dort einträchtig die noch verbliebenen Reste deutscher Substanz. Diese Mesalliance der Linken mit den Davosmenschen und ihrem geldfixierten Individualismus hat indes einen hohen politischen Preis: den Verlust des Vertretungsanspruchs für diejenigen, die einem elementaren ökonomischen Existenzkampf ausgesetzt sind, die der „Unterm-Strich-zähl-ich“-Gesellschaft des Westens den Rücken zugewendet haben und die nach neuen Wegen einer Gemeinschaftsorientierung für Familie, Volk und Staat suchen. An dieser Nahtstelle offenbart sich die Aktualität Hellers wie von selbst.

Die Gretchenfrage der kommenden Jahre lautet nämlich: Ist die oppositionelle Rechte in Heller’schem Geist fähig und willens, zum Zwecke der Zuspitzung der eigenen Programmatik an das verratene Erbe des nicht-internationalistischen deutschen Sozialismus vor 1933 anzuknüpfen? Nichts anderes hatte Oswald Spengler im Sinn, als er in den Räterepublikwirren 1919 den Versuch unternahm, den Begriff des Sozialismus der Linken zu entreißen und ihn preußisch aufzuladen:

„Preußentum und Sozialismus (sind) dasselbe. … (Sie) stehen gemeinsam gegen das innere England, gegen die Weltanschauung, welche unser ganzes Leben als Volk durchdringt, lähmt und entseelt. … Die Arbeiterschaft muß sich von den Illusionen des Marxismus befreien. … Der Sinn des Sozialismus ist, daß nicht der Gegensatz von reich und arm, sondern der Rang, den Leistung und Fähigkeit geben, das Leben beherrscht. Das ist unsre Freiheit, Freiheit von der wirtschaftlichen Willkür des einzelnen … Sozialismus bedeutet Können nicht Wollen. Nicht der Rang der Absichten, sondern der Rang der Leistungen ist entscheidend. … Wir sind Sozialisten. Wir wollen es nicht umsonst gewesen sein.“54

Es versteht sich von selbst, daß bei einer solchen politischen Operation genau geprüft werden muß, welche Elemente i.e. von links nach rechts transplantiert werden können, ohne daß das Ganze Schaden nimmt.55 Wilde Enteignungsphantasien z.B., wie sie in den 1920er Jahren nicht selten waren, erscheinen kaum tradierungswürdig, während beispielsweise die Heller’sche Forderung nach einem Primat des Staates gegenüber den Machtavancen der Verbände aktueller denn je ist. Ob der Begriff des Sozialismus56, der auch bei Heller an vielen Stellen schemenhaft bleibt, angesichts der kommunistischen Verwüstungen des 20. Jahrhunderts noch recyclebar ist, erscheint ebenso zweifelhaft wie unwesentlich. Denn entscheidend ist allein die inhaltliche Qualität politischer Ordnungsangebote. Und deren Verwendbarkeit hängt nicht davon ab, unter welchen Schlagworten sie gemeinhin rubriziert werden. Gerade in dem immer mehr in den Bereich des Möglichen rückenden – nicht nur ökonomischen – Ernstfall, wenn der bereits heute stark erodierende polit-mediale Überbau delegitimiert sein und die obszöne Güterfülle der Jetztzeit ihre benebelnde Kraft verloren haben wird, wird es um ganz anderes gehen als um Begriffskriege. In einer solchen unübersichtlichen Lage wird derjenige politisch das Rennen machen, der das Dickicht überkommener Begrifflichkeiten durchstößt und – jenseits von links und rechts – die Idee der (europäischen) Nation(en) neu erfindet. Vulgärmarxistischer Jargon, gesinnungsethisches „Solidaritäts“tamtam und neidgesteuerte Umverteilungsexzesse sind für die Beschreitung dieser neuen Wege ebenso entbehrlich wie das hohle Markt- und „Freiheits“krakeele der ins Ich und die „ganze ökonomische Scheiße“57 verliebten Libertären, die – wie die 68er58 – nie etwas anderes waren und sind als die nützlichen Idioten der real existierenden Davokratie (Renaud Camus).

In der deutschen Ideengeschichte waren es nicht selten Wanderer zwischen verschiedenen Geisteswelten, die im Hegel’schen Sinne frühere historische Stufen aufgehoben und neue Horizonte eröffnet haben. In politicis gehören linke Leute von rechts, wie z.B. Ernst Niekisch oder rechte Leute von links, wie eben Hermann Heller oft zu den originellsten Köpfen. Wenn die Mauer der westlichen Lebenslügen fällt, werden wir auf deren Esprit und deren analytische Schärfentiefe nicht verzichten können.

Anmerkungen:

1 Zitiert nach: Hermann Oncken, Lassalle – Eine politische Biographie, Stuttgart und Berlin 1920, S.196.

2 Ferdinand Lassalle, Die Wissenschaft und die Arbeiter (1863), Berlin 1919, S.31.

3 Lassalle über Marx, zitiert nach Hellmut Diwald, Geschichte der Deutschen (1978), 4. Aufl., Frankfurt am Main u.a. 1979, S.368.

4 Zitiert nach Oncken aaO S. 168 + 350.

5 Vgl. i.e. Werner Sombart, Sozialismus und soziale Bewegung, 6. Aufl., Jena 1908, S.183 ff.; Ernst Nolte, Marxismus und industrielle Revolution, Stuttgart 1983, S.379 ff.

6 Oncken aaO S.495.

7 Daß der Begriff der Vaterlandslosigkeit des in London ersonnenen Marxismus durchaus wörtlich zu nehmen ist, belegen die landesverräterischen Geheimkontakte des SPD-Vorsitzenden August Bebel zu dem britischen MI6 vor dem Ersten Weltkrieg, die im bundesdeutschen Geschichtsbetrieb unter der Rubrik „Friedensförderung“ gewürdigt werden; vgl. dazu die Studie des Fritz-Fischer-Schülers Helmut Bley, die unter dem euphemistischen Titel „Bebel und die Strategie der Kriegsverhütung 1904 – 1913“ 1975 in Göttingen erschienen ist.

8 Hermann Heller, Genie und Funktionär in der Politik (1930), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1 – 3, Leiden 1971, hier: Bd. 2, S.616.

9 Hermann Heller, Die Krisis der Staatslehre (1926), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, S.8, 24.

10 Hermann Heller, Sozialismus und Nation (1925), 2. Aufl., Berlin 1931, unveränderter Neudruck Dresden 2019, S.57.

11 Heller, Sozialismus und Nation ebd. S.21.

12 Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland (1921), unveränderter Neudruck Aalen 1963, S.129.

13 Heller, Sozialismus und Nation ebd. S.53.

14 Hermann Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, in ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, S.428.

15 Ebd. S.433.

16 Ebd. S.427.

17 Ebd. S.428.

18 Hermann Heller, Europa und der Faschismus (1929), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, S.467.

19 Hermann Heller, Die Souveränität (1927), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, S.105.

20 Hermann Heller, Staatslehre, Leiden 1934, S.166; gegen Schmitts berühmte Freund-Feind-Politikdefinition, die wesentlich außenpolitisch bestimmt ist, hatte Heller auf der innenpolitischen Ebene daran erinnert, daß „Politik (komme) von polis, nicht von polemos, wenn auch die Gemeinsamkeit der Sprachwurzel bedeutsam bleibt.“ (Politische Demokratie und soziale Homogenität, ebd. S.425).

21 Heller, Sozialismus und Nation S.55.

22 Heller, Hegel, S.106.

23 Heller, Staatslehre, S.164 ff.

24 Ebd. S.158; rassetheoretische Politikkonzepte lehnte Heller nicht nur grundsätzlich ab (Staatslehre ebd. S.148 – 159), er maß darüberhinausgehend „dem Rassenglauben die allergrößte Bedeutung für die völlige Zersetzung der nationalen Kulturgemeinschaft und politischen Volkseinheit“ zu (Staatslehre ebd. S.156).

25 Heller, Staatslehre, S.159.

26 Ebd. S.160.

27 Ebd. S.158.

28 Ebd. S.164.

29 Ebd. S.161.

30 Ebd. S.160.

31 Ebd. S.161, Hervorhebung nicht i.O.

32 Ebd. S.160 f.; H. nicht i.O.

33 Ebd. S.161.

34 Ebd. S.161.

35 Ebd. S.161.

36 Ebd. S.161.

37 Ebd. S.161.

38 Ebd. S.161.

39 Heller, Sozialismus und Nation, S.55.

40 Heller, Sozialismus und Nation, S.44.v

41 Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, S.429.

42 Heller, Sozialismus und Nation, S.12.

43 Zu der Ortlosigkeit des Marxismus grundlegend: Hans-Dietrich Sander, Marxistische Ideologie und allgemeine Kunsttheorie (1970), 2. Aufl., Tübingen 1975, S.291 – 360 sowie ders., Die Auflösung aller Dinge, München 1988, insbes. S.96 ff. Zu der Ortlosigkeit des Kapitalismus, in dem die anywhere-Nomaden mit ihren tragbaren Identitäten den Ton angeben und in dem die somewhere-Seßhaften mit ihrer Verwurzelung in der Heimat das Nachsehen haben (sollen): David Goodhart, The Road to Somewhere – The Populist Revolt and the Future of Politics, London 2017, insbes. S.19 ff., 221 ff.

44 Heller, Sozialismus und Nation, S.55.

45 Ebd. S.52.

46 Ebd. S.77.

47 Ebd. S.38.

48 Ebd. S.46.

49 Ebd. S.101.

50 Ebd. S.101.

51 Kennzeichnend hierfür ist die Tatsache, daß sowohl Hellers aus dem Nachlaß herausgegebenes Hauptwerk „Staatslehre“ (1934), als auch die dreibändige Gesamtausgabe seines Werks „Gesammelte Schriften“ (1971) in einem niederländischen Kleinstverlag in Leiden erschienen ist.

52 Otto-Ernst Schüddekopf, Linke Leute von rechts, Stuttgart 1960, S.171; diese Konferenz wiederum stand in der Tradition des sog. „Hofgeismarkreises der Jungsozialisten“, der sich Ostern 1923 auf einer Tagung in Hofgeismar konstituiert hatte, bei der u.a. auch Heller gesprochen hatte und „die mit einem Bekenntnis zu Deutschland am Osterfeuer schloß“ (Schüddekopf ebd. S.71).

53 So auch Panajotis Kondylis, Konservativismus, Stuttgart 1986, S.505.

54 Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus, München 1919, S.98f.; H.i.O.

55 So auch Benedikt Kaiser, Marx von rechts?, in: ders./Alain de Benoist/Diego Fusaro, Marx von rechts, Dresden 2018, S.45, 59 und passim. Zu recht erinnert Kaiser auch an die „Ausgangslegitimation“ der Oktoberrevolution 1917 (ebd. S.49 mit Fn 58), die ohne die schwerwiegenden sozialen Verwerfungen im Vorkriegsrußland ebensowenig einen politischen Nährboden gefunden hätte wie die Hitlerbewegung ohne Versailles im Nachkriegsdeutschland.

56 Wie schillernd und problematisch der Begriff des Sozialismus schon vor 85 Jahren war, belegt: Werner Sombart, Deutscher Sozialismus, Berlin 1934, insbs. S.44 – 80 sowie S.120 ff. Sombarts Unterfangen, den NS-Tiger zu reiten und „die offenbar starken Kräfte, die einer Vollendung der nationalsozialistischen Idee nach ihrer sozialistischen Seite hin zustreben, in Bahnen zu lenken, in denen sie nicht verheerend, sondern befruchtend sich auswirken können“ (Deutscher Sozialismus ebd., S.XVI), kann als grandios gescheitert betrachtet werden. Die rassefixierten Ideologen à la Rosenberg e tutti quanti wollten gar nicht vordekliniert bekommen, was sie als Nation und als Sozialismus aufzufassen hätten und was nicht. Immerhin hatte Sombart als gesettelter Emeritus des Jahrgangs 1863 im Sommer 1934, kurz nach der Ausschaltung der führenden NS-Sozialisten („Röhm-Putsch“), den Mut, öffentlich den ideologischen Vorgaben eines Regimes zu widersprechen, das gerade unter Beweis gestellt hatte, daß ihm auch andere Disziplinierungsmaßnahmen als „Berufsverbote“ o.ä. zu Gebote stehen (vgl. i.e.: Friedrich Lenger, Werner Sombart [1994], 2. Aufl., München 1995, S.366 ff.). Nach Professoren solchen charakterlichen Zuschnitts kann man im heutigen Deutschland lange suchen.

57 Karl Marx dixit, Brief vom 2.4.1851 an Friedrich Engels, in: Karl Marx – Friedrich Engels, Der Briefwechsel, Bd. 1, München 1983, S.180.

58 Zur Instrumentalisierung der deutschen Linken nach 1945 als „ein(em) Strategem der Besatzungsmächte zur Niederhaltung des deutschen Volkes“ vgl. die leider wenig angestaubte Analyse von Hans-Dietrich Sander, Die Theatrokratie als höchstes Stadium des Weltbürgerkrieges, in: Jean Baudrillard, Die göttliche Linke, München 1986, S.143 ff.

Dieser Artikel von Thor von Waldstein erschien zuerst als Vorwort zur Neuauflage des Werkes „Sozialismus und Nation“ von Hermann Heller (Jungeuropa Verlag, 2019).

Dr. Dr. Thor von Waldstein

Wir möchten Ihnen ganz besonders das wunderbare Buch „Zauber des Eigenen. Volk und Nation in der deutschen Geistesgeschichte“ aus der Feder Thor von Waldsteins ans Herz legen. Hier können Sie es direkt auf der Internetseite des Lindenbaum Verlages bestellen.

US-Dominanz in Europa: eine Gefahr für Demokratie und Stabilität

Der unabhängige Filmemacher Dr. Uwe Sauermann aus Deutschland hat eine neue Dokumentation für verschiedene Internet-Videoplattformen gedreht, in der er ein besonders heißes Eisen anpackt: die militärische, politische und kulturelle Dominanz der USA in Europa und vor allem in Deutschland – und deren Folgen für die Demokratie und die Stabilität unseres Kontinents.

Welche Auswirkung hat die Amerikanisierung in Europa gehabt? Was sind die Folgen des amerikanischen Zugriffs auf Osteuropa? Was hat es auf sich mit der Behauptung der US-Administration, sie trage Demokratie in die von ihr anvisierten Länder? Ein 37 Minuten langer Film versucht, darauf Antworten zu geben. Gedreht haben ihn Uwe Sauermann, der bereits für das öffentlich-rechtliche deutsche Fernsehen Dokumentationen über Krisengebiete wie dem Irak oder Afghanistan gedreht hat, und ein Studio- und Kamerateam von Ein Prozent. Dr. Sauermann trifft in „After Democracy“ verschiedene Gesprächspartner, darunter Politiker und Experten, die kenntnisreich über die Folgen der US-Politik in Europa Auskunft erteilen. Im Mittelpunkt stehen Interviews in den USA, in Polen und der Ukraine. Im deutschsprachigen Bereich werden Steffen Kontré, Manfred Kleine-Hartlage, Thor Kunkel und Johannes Hübner befragt. Der Film trägt den Titel „After Democracy“. International gehalten wegen des Plans, ihn neben Deutsch und Englisch auch in die nord- und osteuropäischen Sprachen zu übertragen.

Vor allem auch die Aktivitäten der USA in der Ukraine stehen im Fokus der Dokumentation, denn gerade dort treten die Folgen der US-Dominanz besonders dramatisch zu Tage: ausufernde Korruption, Demokratieabbau – letztlich die Ausplünderung und Auflösung des Staates.

Hier kann man das Buch von Dr. Uwe Sauermann direkt beim Verlag bestellen: https://lindenbaum-verlag.de/produkt/ernst-niekisch-widerstand-gegen-den-westen/

Vor 100 Jahren: Deutsche Freiwillige erstürmen den Annaberg

von Joseph Mergenthaler

Vor 100 Jahren: Deutsche Freiwillige erstürmen den Annaberg

Aus Dresden kommt ein Kurzfilm, der an die Auseinandersetzungen um Oberschlesien im Jahre 1921 erinnert, die sich heuer zum 100. Mal jähren. Mit dem deutschen Zusammenbruch von 1918 war ein Ringen auch um jene preußische Provinz mit ihrem mächtigen Industriegebiet entbrannt, die nach dem Willen der Versailler Siegermächte dem neuen polnischen Staat zufallen sollte. Als eine Volksabstimmung am 20. März bei hoher Wahlbeteiligung (97,2 %) der Oberschlesier eine klare Mehrheit (59,6 %) für den Verbleib bei Deutschland ergab, suchten polnische Freischärler das Land gewaltsam zu erobern. Da ein Einsatz von Reichswehr nicht riskiert werden konnte, standen dem lediglich örtliche Selbstschutzverbände (SSOS) gegenüber, unterstützt von aktivistischen Freiwilligen aus allen Teilen Deutschlands, Österreichs, dem Sudetenland und Südtirol, meist ehemaligen Freikorpsangehörigen und Studenten, die dem Aufruf „Oberschlesien brennt! Auf zur Tat und Rettung Oberschlesiens!“ an die Oder bald gefolgt waren. Mit deren erfolgreichem Sturm auf den Annaberg am 21. Mai verlor der Aufstand an Kraft; erst eilig aufmarschierte französische Truppen konnten die völlige Niederlage ihrer polnischen Verbündeten aufhalten. Wenn wir uns heute dieser Ereignisse vergewissern, geschieht dies ohne Ressentiment und nicht, um alte Wunden aufzureißen. Längst stehen die europäischen Völker gemeinsam vor der Frage nach dem Erhalt ihrer Identität, die eine voranschreitende Globalisierung herausfordert. Gerade deshalb aber bleibt der Sieg vom Annaberg auch ein Symbol, und nicht allein für Deutsche: Erfolg ist möglich, gemeinschaftliches Handeln in solidarischer Verantwortung kann Krisen überwinden. Damals in Oberschlesien und vielleicht auch heute!

„S.O.S. am Annaberg, 1921 – 2021“. (U. a. mit Aufnahmen einer Annaberg-Gedenkfeier in Schliersee/Obb. (1994) sowie Teilen eines Interviews mit dem letzten damals noch lebenden deutschen Annaberg-Kämpfer Fridolin v. Spaun (1901-2004).

Titelbild: Der Annaberg in Oberschlesien im 19. Jahrhundert. Zeichnung von Theodor Blätterbauer und Stich von Huber.