Volk oder Willensnation?

von Klaus Kunze

Volk oder Willensnation?

Die Krise der Nationalstaatlichkeit

Das deutsche Volk ist nicht danach gefagt worden, ob es zugunsten einer multikulturellen Gesellschaft abgeschafft werden möchte. In einer Demokratie, in der das Volk über die sein Schicksal wesentlich berührenden Fragen durch Volksabstimmung entscheidet, wäre das zu erwarten gewesen.

Doch selbst wenn man dem Parlamentarismus unserer Verfassung zugesteht, sich mit dem Adjektiv demokratisch zu schmücken, gelangt man zu keinem besseren Ergebnis. Eine Entscheidung des Bundestages zur Etablierung einer multikulturellen Gesellschaft gibt es nämlich auch nicht.

Das wirft die grundsätzliche Frage nach der Legitimität der vollendeten Tatsachen auf, vor die man uns stellt. „Man“ – das ist eine geschlossene Fronde der üblichen Verdächtigen: Linksextremisten möchten das deutsche Volk abschaffen, Kirchen predigen, den Heiden aller Herren Länder die Einreise zu erlauben, Wirtschaftskreise sorgen sich um Arbeitskräfte und das Bruttosozialprodukt. Jedes Jahr wird eine sechsstellige Zahl von Ausländern eingebürgert.

Zugleich werden die herkömmlichen Konzepte von Volk, Nation und Staat grundsätzlich in Frage gestellt. Ein noch nicht staatlich verfaßtes Volk, erläutert der Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer,

„erwächst aus einer geschichtlich gewachsenen, substantiellen Gemeinsamkeit einer Gruppe von Menschen. Sie verweist und findet ihren Grund in der subjektiv unverfügbaren Vergangenheit: aus gemeinsamer Geschichte, Schicksal, Sprache, Kultur erwächst solidarische Verbundenheit. Ihre aus geschichtlicher Kontingenz geprägte Gestaltung widerstrebt rationaler Erklärbarkeit.“

Otto Depenheuer, Solidarität im Verfassungsstaat, 2.Auf. (2016), S.318.

Die Angehörigen eines Volkes sind gewöhnlich miteinander mehr oder weniger eng verwandt. Darum bilden sie eine Solidargemeinschaft, denn diese

„ist wesentlich und legitimerweise Abstammungs­gemeinschaft, insoweit sie diejenigen ausgrenzt, die außerhalb der Gemeinschaft stehen, weil sie an deren Gemeinsamkeit nicht teilhaben: die Angehörigen einer Solidargemeinschaft stehen sich einander näher als den Menschen im übrigen, d.h., sie sind im Verhältnis zueinander gleicher als im Verhältnis zu anderen.“

Depenheuer, am angegebenen Ort S.309 f.

Wenn im Grundgesetz steht, das deutsche Volk habe sich diese Verfassung gegeben, ist mit Volk genau diese, sich als zusammengehörig verstehende Menschengemeinschaft gemeint. Als rechtlich verfaßte Nation bilden sie sich aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts einen Staat, der seine Staatsbürgerschaft auch Fremden verleihen und diese damit in das Volk aufnehmen kann.

Die Vertreter multikultureller Ideen träumen dagegen von einem grenzenlosen Weltstaat. Der Schweizer Philosoph Georg Kohler sieht das in größerem Zusammenhang:

„Die Krise der Nationalstaatlichkeit ist schon lange keine nationale Angelegenheit mehr, sondern eigentlich nichts anderes als die Form- und Selbstgestaltungsunsicherheit der modernen westlichen Massengesellschaft.“

Georg Kohler,Bürgertugend und Willensnation, Zürich 2010, NZZ-Verlag, S.72.

Auch in anderen Ländern stoße man auf die „Entbindung der Bevölkerung aus dem Volk.“ Das führt vielfach zu Unbehagen, die der Philosoph Peter Sloterdijk so begründete:

 Es war, wie man im Rückblick deutlicher erkennt, die Kulturleistung des modernen Nationalstaats gewesen, für die Mehrheit seiner Bewohner eine Art von Häuslichkeit, jene zugleich imaginäre und reale Immunstruktur, bereitzustellen, die als Konvergenz von Ort und Selbst oder als regionale Identität, im günstigen Sinn des Wortes, erlebt werden konnte. Diese Leistung wurde am eindrucksvollsten dort erbracht, wo die wohlfahrtsstaatliche Zähmung des Machtstaates am besten gelungen war. Durch die Globalisierung wird dieser politisch-kulturelle Häuslichkeitseffekt angetastet – mit dem Ergebnis, daß zahllose Bürger moderner Nationalstaaten sich auch zu Hause nicht mehr bei sich selbst und auch bei sich selbst sich nicht mehr zu Hause fühlen.

Peter Sloterdijk, Der gesprengte Behälter, in: DER SPIEGEL 1.9.1999

Wenn die Heimat zur Fremde wird

Nicht mehr zuhause fühlen sich viele Deutsche, weil ihnen die Heimat zur Fremde gemacht wurde. In einer Demokratie wie der Schweiz werden Existenzfragen der Nation zur Abstimmung gestellt. Hier fragt man sich besonders kritisch, auf welchen Ideen die Schweizer Demokratie beruht, weil sie aus Vertretern verschiedener Völker gebildet wird. Eignet sie sich als Modell für ein Deutschland der Zukunft, das nur noch eine Zeitlang dem Namen nach deutsch sein wird? Läßt sich aus völlig Heterogenem ein Zusammenhalt schmieden? Wie schlecht dies noch Jahrhunderte nach den Einwanderungen klappt, sehen wir dieser Tage in den USA und ihren teils bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Die Volksgruppen stehen sich in großen Teilen mißtrauisch und gewaltbereit gegenüber.

Die historische Antwort des Nationalstaats hatte dagegen gelautet: Gebt jedem Volk und Völkchen seinen eigenen Staat, ja sogar ein Menschenrecht auf einen Staat, und laßt es dort selbstbestimmt machen, was es will. Trotz aller verkrampften Versuche, die deutschen Staatsbürger durch einen „Verfassungspatriotismus“ zusammenzuschweißen, gibt es weltweit keine überzeugenden Beispiele, daß eine Transformation eines Nationalstaats in eine Art multinationalen Distrikt jemals friedlich gelungen sei und reibungslos funktionierte.

Bleibt also doch nur das Modell der Schweiz? Betrachten wir seine Funktionsvoraussetzungen einmal aus Sicht des eidgenössischen Philosophen Georg Kohler:

Womit ich endlich bei der Bedeutung von Nation als der realgeschichtlichen Antwort auf die Grundfrage nach der Möglichkeitsbedingung von demokratischer politischer Ordnung angelangt bin: Funktionierende Demokratien verlangen das Bestehen von Gemeinsamkeitsfaktoren, die den demokratischen Souverän in wirksamer Weise als „Wir, der Demos“ erfahrbar und damit auch aus der Innenperspektive des Einzelnen verbindlich machen; ein Erfordernis, das ein wiederum funktional, aus den Möglichkeitsprämissen von Demokratie ableitbares Postulat ist.

Georg Kohler, am angebenen Ort S.56.

Diese Gemeinsamkeitsfaktoren scheitern nicht daran, daß die Schweiz mehrheitlich deutsch, in wesentlich Teilen aber welsch ist. Die übereinstimmenden Antworten auf die wesentlichen Fragen, die das friedliche Zusammenleben ausmachen, also die spezifisch demokratische Kultur und der gleiche zivilisatorische Stand, ermöglichen das.

Die Willensnation

Ähnlich könnten wir mit den Flamen friedlich in einer Demokratie zusammenleben, von unseren Landsleuten in Österreich ganz zu schweigen. Die Schweiz betrachtet sich dagegen zurecht nicht als Abstammungsgemeinschaft, sondern als Willensnation mit

nicht nationalistischem Nationalbewußtsein, das auch zwischen „Wir“ und „Ihr“ friedlich zu unterscheiden weiß, indem es vor allem auf seine spezifischen Verfahren der Willens- und Entscheidungsbildung vertraut.

Georg Kohler, S.64.

Die engen Grenzen des Modells einer Willensnation liegen, wo ein Teil seiner potentiellen Bürger mit dem anderen definitiv keine Gemeinsamkeit empfindet und darum keine Gemeinschaftlichkeit will. Eine Willensnation ohne Willen zu ihr funktioniert nicht.

Die deutsche Vergangenheit hat uns gelehrt, daß es grundsätzlich assimilationsbereite und -fähige Völker in unmittelbarer Nachbarschaft gibt. Zwischen deutschen und Polen entsteht Integration in einer Generation. Andere, von weiter her kommende Volksgruppen können Deutschland oder andere Länder jahrhundertelang bewohnen, ohne ihre Identität einzubüßen. Es gibt viele Bürger, die nicht die mindeste Lust haben, mit Leuten dauerhaft in einem Staat zusammenzuleben, wie sie jetzt massenhaft ins Land geholt werden. Sie wollen sie nicht, und sie wollen schon gar nicht, daß jene immer mehr werden.

Ein Staat hebt die wechselseitige Solidarität auf eine rechtlich verpflichtende Ebene. Er verlangt von jedem, notfalls auch in letzter Konsequenz, sein Hab und Gut, notfalls auch sein Leben, für die Solidargemeinschaft aller Bürger in die Waagschale zu werfen. Die Bereitschaft, für andere einzustehen, nimmt aber mit dessen kultureller Distanz ab. Es gibt viele Menschen, die gar keine Lust haben, mit jedwedem Fremden solidarisch zu sein, wenn das persönliche Opfer erfordert.

Auf der anderen Seite wächst eine neue soziale Unterschicht rasant an, die keinerlei Neigung dazu verspürt, deutsch zu werden, deutsch zu sprechen, ihre oft fanatisch vertretene Religion zu mäßigen, und vor allem: unsere Demokratie, unseren Rechtsstaat und damit unsere Vorstellung eines guten Miteinanders zu verinnerlichen. Viele halten uns für verdammte Ungläubige und verachten uns. “»Es ist unmöglich,«” zitiert der Rechtsphilosoph Johann Braun aus dem ‘Gesell­schafts­vertrag’ von Rousseau,

“»mit Leuten, die man für verdammt hält, in Frieden zu leben.« Wo ein Teil der Bürger in einem Teil der anderen … nicht Rechtsgenossen, son­dern Feinde er­blickt, die den Lebensentwurf, den man für sich selbst hegt, gefährden,” kann “existentielle Feind­schaf­t auch auf dem Boden des Rechts­­staates jederzeit aufbrechen.”

Johannes Braun, Recht und Moral im pluralistischen Staat, Juristische Schulung (JuS) 1994, 727, (730).

Einen gemeinsamen Staatswillen, erfüllt von derselben Hochschätzung von Demokratie, Menschenrechten und Verfassungsstaatlichkeit, können wir mit Leuten nicht bilden, die uns für Verdammte halten. Überdies fragte sich, warum wir das wollen sollten. Wenn man unter der Prämisse des friedlichen menschlichen Zusammenlebens ein allgemeines Gesetz aufzustellen hätte, ob Menschen mit diametral entgegengesetztem Glauben in einem Staat zusammenleben sollten, müßten wir das klar verneinen. Wir glauben an die Demokratie aufrechter Bürger, andere dienen auf Knien alten Götzen.

Georg Kohler meint,

daß sich die Notwendigkeit subjektiv erfahrbarer Gemeinschaftlichkeit unmittelbar mit den geschichtlich-kulturellen Vorgaben und Differenzen verbindet, in denen sich die menschliche Sozialnatur allemal verwirklicht. Wenn das aber gilt, dann ist die Wirklichkeit nationaler Zusammengehörigkeit notwendigerweise auch mit der Differenz zwischen dem Eigenen und dem Fremden verknüpft. Jede politische und demokratische Wir-Einheit benötigt, um sein zu können, was sie sein soll, Identität.

Georg Kohler, a.a.O. S.56.

Als Deutsche mit unseren einmaligen und unwiederholbaren historischen Erfahrungen haben wir eine Identität, die sich wesentlich von der anderer Völker unterscheidet. Diese nationale Identität ließe sich in einem multikulturellen Bevölkerungsgemisch der Zukunft nicht aufrechterhalten, womit auch die freiheitliche demokratische Grundordnung als unsere historisch jüngste nationale Lebensform ihre Grundlage einbüßen würde.

Die Auflösung aller Dinge

Wer meint, die Millionenscharen von Orientalen oder Afrikanern, die hier hineingelassen werden, würden sich in 20, 50 oder 100 Jahren nebst ihren Nachkommen auch nur im mindesten um Frauenrechte, Glaubensfreiheit oder demokratische Toleranz scheren, dürfte grenzenlos naiv sein.

Ohne eine gewisse Abgrenzung nach innen und außen kann es keine Selbstbehauptung des kulturell Eigenen geben. Es würde im Wind der Geschichte verwehen und vergehen. Das „moderne Verständnis von Nation“ trägt

„in sich die Idee kultureller Selbstbehauptung einer sich abgrenzenden Gruppe. Rings um Sprache und erlebtes, historisch erinnertes Schicksal, rings um gemeinsame Werte und Sitten, rings um einen Kanon der Weltinterpretation, von Würde, Anstand und Alltagsvernunft wächst die Idee der Nation. Jede Nation ist auch eine bloß geistige Konstruktion, eine paradoxe Erfindung von sich selbst, in Bildern, Fahnen, Hymnen und großen Erzählungen zum Gegenstand gemacht und sich in dieser Spiegelung selbst erst erschaffend.“

formuliert der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.187.

Zu diesen gemeinsamen Werten dieser Weltinterpretation, gehört im heutigen Deutschland der Kernbestand an Normen, der sich in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung manifestiert. Der aufklärerische Ideenbestand von der Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen, seiner selbstgewählten Bindung an seine Solidargemeinschaft, von Meinungsfreiheit und so fort hat sich seit Jahrhunderten auch in Deutschland herausgebildet und gehört heute zum Kern unserer kulturellen Identität.  Eine solche

„offene Gesellschaft kann aber nur Gemeinschaft bleiben, wenn sie ganz entschieden ihre Identität pflegt und Mechanismen entwickelt, ihre Identität zu bekräftigen.“

Udo Di Fabio, Die Kultur der Freiheit, 2005, S.183.

Wenn die Mitglieder einer Solidargemeinschaft sich von ihr entfremden, weil sie sich mit Neubürgern nicht mehr identifizieren können, treibt sie der Auflösung entgegen.

Diese Auflösung ist das Ziel wesentlicher innerer Kräfte und äußerer Mächte.

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

NEU:

Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Hier erhältlich!

Klaus Kunze: Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen. Von der Vormundschaft zum Genderismus. Hier erhältlich!

Das ganz normale Miteinander hat keine Lobby…

Ein Kommentar von Hanno Borchert

Das ganz normale Miteinander hat keine Lobby…

Die emotionalen Debatten um die Ereignisse um George Floyd, die BlackLivesMatter-Bewegung und die sogenannten Anti-Rassimus-Demos, die häufig mit hemmungsloser Gewalt daherkommen, halten derzeit vor allem die USA, aber mittlerweile auch Deutschland und Teile Europas in Atem. Das allumfassende Narrativ lautet: „Struktureller Rassimus“ in der amerikanischen wie auch in der deutschen Gesellschaft gegen Schwarze, ja allen mehrheitlich weißen Gesellschaften.

Aber was ist eigentlich mit den „Person of color“ (POC), die hier in Deutschland, Europa oder den USA keinen „strukturellen Rassismus“, keine Benachteiligungen konstatieren? Die sich hier im Lande oder in den USA nicht diskriminiert fühlen, keinesfalls diskriminiert werden, wie sie sagen, mit ihren „weißen“ Ehepartnern; Partnern und anderen Freunden, Bekannten oder auch Berufskollegen ein ganz normales Miteinander führen? Problem: Sie haben keine Lobby, trauen sich ob der aggressiven Stimmung kaum, die Stimme zu erheben, ihre Sicht der Dinge zu erzählen. Aber sie leben hier einträchtig mit uns. Doch das scheint dem Juste Milieu keine Silbe wert zu sein. Warum eigentlich nicht? …

Hanno Borchert

Hanno Borchert, Cuxhavener Jung von der Elbmündung, Redakteur der alten wie neuen „wir selbst“, zwischendurch Redakteur der „Volkslust“. Ausgebildeter Handwerker mit abgeschlossenem Studium der Wirtschaftswissenschaften, der gerne liest, wandert, musiziert, malt und sich mit der Kunst des Graphik-Designs beschäftigt. Aktiver „Alter Herr“ der „Landsmannschaft Mecklenburgia-Rostock im CC zu Hamburg. Parteilos. Ist häufig auf Konzerten quer durch fast alle Genres unterwegs. Hört besonders gerne Bluegrass, Country und Irish Folk und darüber hinaus derzeit u.a. Gerhard Gundermann, Herbert Pixner Projekt, Andreas Gabalier, Rammstein, Delvon Lamarr Organ Trio, Jefferson Airplane, Velvet Underground, Hannes Wader, Jimmy Rosenberg und den Nachwuchskünstler Tom A. Smith.

Andreas Kalbitz, Barbara Borchardt und die CDU

Ein Kommentar von Hanno Borchert

Andreas Kalbitz, Barbara Borchardt und die CDU

Ich kenne so diverse Leute in der Union, auch unter meinen FB-Freunden, die immer wieder darauf hinweisen und hinwirken, daß es solange unmöglich wäre, mit der AfD zu kooperieren, geschweige denn zu koalieren, solange „so Leute wie Andreas Kalbitz oder Björn Höcke“ in der Partei ihr Unwesen treiben könnten. Bei Herrn Kalbitz wird dann gerne mit gerümpfter Nase auf seine früheren Kontakte und Mitgliedschaften in Organisationen hingewiesen, die auch einmal vom VS beobachtet wurden.

Doch im selben Atemzug kommt dann eine ausgewiesene Linksextremistin in Mecklenburg-Vorpommern in das Amt einer Verfassungsrichterin! Jemand, der die vom Verfassungsschutz beobachtete Antikapitalistische Linke (AKL) mitgegründet hat, welche u.a. einen „grundsätzlichen Systemwechsel“ fordert, dort nach wie vor Mitglied ist und das Studium an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften der DDR, eine damalige Kaderschmiede per excellence, absolviert hat und kein Problem in der Mitgliedschaft in der AKL sieht und zu dieser steht.

Doch der wirklich unappetitliche Witz an der ganzen Sache ist, sie kommt einzig und allein mit Hilfe der CDU in dieses Amt. Nach Bodo Ramelow ist es also der zweite Fall, in dem die CDU das entsprechende Zünglein an der Waage ist und der Linken als Steigbügelhalter dient. Wenn sich jetzt Stimmen aus der CDU über die Wahl Barbara Borchardts zur Verfassungsrichterin empören, dann kann man da nur noch Realitätsverweigerung und Schizophrenie konstatieren (wenngleich die meisten wohl aus gutem Grund schweigen werden). Aber auch jegliche despektierliche und besserwisserische Kommentare in Richtung AfD in der Causa Kalbitz oder auch Höcke sind spätestens von nun an nicht mehr ernst zu nehmen. …

Hanno Borchert

Hanno Borchert, Cuxhavener Jung von der Elbmündung, Redakteur der alten wie neuen „wir selbst“, zwischendurch Redakteur der „Volkslust“. Ausgebildeter Handwerker mit abgeschlossenem Studium der Wirtschaftswissenschaften, der gerne liest, wandert, musiziert, malt und sich mit der Kunst des Graphik-Designs beschäftigt. Aktiver „Alter Herr“ der „Landsmannschaft Mecklenburgia-Rostock im CC zu Hamburg. Parteilos. Ist häufig auf Konzerten quer durch fast alle Genres unterwegs. Hört besonders gerne Bluegrass, Country und Irish Folk und darüber hinaus derzeit u.a. Gerhard Gundermann, Herbert Pixner Projekt, Andreas Gabalier, Rammstein, Delvon Lamarr Organ Trio, Jefferson Airplane, Velvet Underground, Hannes Wader, Jimmy Rosenberg und den Nachwuchskünstler Tom Mouse Smith.

Die Theorie des Volkes ist Teil einer Philosophie des Unterschieds.

von Henning Eichberg

Die Theorie des Volkes ist Teil einer Philosophie des Unterschieds.

Arbeitsthesen zu einer humanwissenschaftlichen Volkstheorie

Es gibt zahlreiche Staats- und Markttheorien, aber so gut wie keine Volkstheorie. Die Vernachlässigung dieses dritten Bereichs muß einen tieferen Sinn haben – und ist dennoch nicht hinzunehmen.

Das Volk ist ein – oder das – Grundwort der Demokratie. „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus“ (Deutsche Verfassung 1919, Art. l).

„Volksstimme“, „Volkswille“, „Volkszeitung“, „Volksstaat“, „Volkspresse“ und „Volksfreund“ oder auch einfach „Das Volk“ – so hießen klassische Zeitungen der Linken. Haus des Volkes, Volksfront, Volksdemokratie, Volkssolidarität, Volkskammer, „Dem Volke dienen“, „Sieg im Volkskrieg“, people’s liberation – „Volksgesundheit“, „Volkssport“ –…

Volk war stets ein Grundbegriff der Linken. Socialistisk Folkeparti nennt sich die dänische Linkspartei, „Danmark for folket“ („Dänemark dem Volke“) heißt ein Kampflied der Sozialdemokratie, und „Land og folk“ war die Zeitung der dänischen kommunistischen Partei. Aber Sozialisten entwickelten bislang allenfalls Klassentheorien, keine Volkstheorie. In lichtesten Augenblicken sprach man vom „eigenen Weg jeden Volkes zum Sozialismus“.

„Für König, Volk und Vaterland“, Österreichische Volkspartei und Partito Popolare – „Völkischer Beobachter“, „Ein Volk, ein Reich ein Führer“, „Volksgerichtshof“ und „völkisches Turnen“ – auch die Rechte bezog sich immer wieder auf das Volk. Das gilt sowohl für den konservativen Teil (in Dänemark Konservativt Folkeparti und Kristeligt Folkeparti) als auch für völkische Extremisten, Populisten und fremdenfeindliche Bewegungen (Dansk Folkeparti). Aber die theoretische Anstrengung richtete die Rechte eher auf anderes, insbesondere auf Staatstheorien. Auch auf Elitetheorien oder im problematischeren Fall auf Rassentheorien.

Der Volksbegriff ist unbequem. Wiederholt hat man versucht, den Volksbegriff zu ersetzen durch „Bevölkerung“. Das ist mehr als sprachliche Kosmetik. Das Subjekt gesellschaftlichen Handelns – „wir“ – wird unsichtbar gemacht zugunsten einer Kategorie administrativer Beherrschung und Beschreibung: „die da“.

Künstler Hans Haacke entwickelte aus der Inschriftsdebatte um die Schrift am Reichstag
„Dem deutschen Volke“ die Bodenskulptur „Die Bevölkerung“

Es gibt Versuche, das Volk der Demokratie zu ersetzen durch „den Bürger“. Damit wird das kollektive Subjekt politischen Handelns ersetzt durch die Konstruktion des Einzelnen. Das paßt in die neoliberale Individualisierungsstrategie. Wo „wir“ sind, soll „ich“ werden: das Ich, das kauft. Solcher Mitbürgerismus wendet sich nicht zuletzt gegen die unbürgerlichen oder gar antibürgerlichen Untertöne des Volksbegriffs.

Das moderne „Volk“ und die Demokratie entstanden parallel und waren im historischen Prozeß miteinander verbunden. Der Demokratiebegriff setzt einen Volksbegriff voraus. Demokratietheorie wurde jedoch stets der Staatstheorie untergeordnet, als ob es die Notwendigkeit einer Abklärung hinsichtlich des „Volkes“ nicht gebe. Demokratie – „Volksherrschaft“ – ohne Volk, das ist Herrschaft. Es ist nichts als Herrschaft. …

Volkstheorien scheinen, wenn überhaupt, dann zu solchen Zeitpunkten aufzutauchen, da die Herrschaft dazu ansetzt, das Volk als politisches Subjekt abzuschaffen. Vereinzelte völkisch-konservative Theorieansätze wurden in der Zwischenkriegszeit entworfen, als der machtgestützte Rassismus daran ging, das Volk der Demokratie durch die biologische „Rasse“ zu ersetzen. Aktuelle juridische Theorieversuche begleiten den Versuch, die Völker der Demokratie durch die Konstruktion eines machtdefinierten „Europabürgers“ zu ersetzen.

Das Volk ist nicht harmlos. Die Geschichte der Moderne ist eine Geschichte von Völkermord, Genozid und Ethnozid. Man mag das „Volk“ tabuisieren oder sprachlich wegretuschieren, die Bedrohung von Völkern bleibt – oder verschärft sich. Tibet, Tschetschenien, Indianervölker, das Volk von Darfur. Das Wort „Volk“ ist sowohl auf der Seite derer, die im Namen des eigenen Volkes andere Menschen abwerten, als auch auf der Seite der Solidarität, der Gesellschaft für bedrohte Völker, Society for Threatened Peoples, Association pour les peuples menaces, Associazione per i popoli minacciati, Lia por i popui manaces, Iwerlewen fir bedreete Volleker…

Zahllose religiöse Würdenträger, wie hier Ribur Ngawang Gyatso Rinpoche, wurden während der Kulturrevolution mit bemalten Gesichtern und Schandhüten durch die Gassen getrieben, beschimpft, geschlagen und erniedrigt. Foto: Tsering Dorjee

Zur Soziologie des Volkes – Vielfalt, Widerspruch, Konflikt

Das Volk ist zivilgesellschaftlich, d.h. ein Drittes neben Staat und Markt. Es gehört zu einer Welt von Selbstorganisation und Freiwilligkeit. Aus der Zivilgesellschaft ergibt sich eine Soziologie des Volkes.

Das Volk ist nicht von einer wie auch immer zu definierenden Substanz her zu denken, sondern vom Widerspruch. Das Volksleben besteht aus Vielfalt und Konflikten. Im Kern des Volkes findet man nicht „die Gemeinschaft“, sondern Gemeinschaften.

Der Volksbegriff bezeichnet zwei Formen politischer Spannungsverhältnisse. Einerseits steht das Volk gegenüber den Herren: wir hier unten – die da oben. Und andererseits steht „mein“ Volk gegenüber den anderen: wir hier drinnen – die da draußen. Diese politischen Positionierungen sind oft auf linke oder rechte Weise vereinseitigt worden, sie sind jedoch nicht deskriptiv erschöpfend: Volk ist nicht zuletzt auch, wo man lacht.
Volk und Völker sind nicht zu trennen. Die Geschichte des Volkes besteht aus Sonderwegen. Jedes Volk bringt seine eigenen Probleme und Widersprüche hervor.

Volk ist auch da, wo man lacht und tanzt, es hat mit Rhythmus und Sprachkörperlichkeit zu tun:
Bison-Tanz der Mandan (Zeichnung von Karl Bodmer, um 1832-1834),
ein klassischer Tanz von Prärieindianern für eine gute Jagd

Die Nation ist das Volk der Moderne in Bewußtsein und Aktion – wo es sich als Staat organisiert oder organisieren will. Die Nation bildete sich seit dem 18. Jahrhundert im Wechselspiel zwischen Revolution, Demokratie und Staatsbildung heraus – zwischen „täglichem Plebiszit“ und Klassenkampf.

Das moderne „Volk“ ist durch einen Widerspruch im Verhältnis zum Staat charakterisiert. Das Volk der Moderne will seinen eigenen Staat – erst dadurch erscheint das Volk als politisches Subjekt. Aber zugleich kolonisiert der Staat das zivilgesellschaftliche Volk. Gegenüber dem exklusiven Nationalstaat ebenso wie gegenüber dem multinationalen Staat entwickelt das Volk anarchistische Qualitäten.

Wo das Volk der Nation gar zu schnell als Einheit gesehen wird, da stößt man indessen auf die innere Vielfalt der Zivilgesellschaft – auf Milieus, Klassen und Lebensformen, auf Lebensstile, Szenen und Öffentlichkeiten, darin eingeschlossen Lebensstilenklaven, Nischen, Subkulturen… Auch diese sozialen Zusammenhänge kann man wie „das Volk“ reifizieren, verdinglichen und als Quasi-Substanzen hantieren, aber das entstellt ihre Dynamik. Tatsächlich öffnen sie den Blick auf das Volk als ein Feld von inneren Widersprüchen.

Zur Psychologie des Volkes – Identität, Feind, Neurose

Volk hat mit der Identität der konkreten Menschen zu tun, mit ihrer Personalität und Vergesellschaftung. Daraus ergibt sich eine Psychologie des Volkes, genauer: Psychologien des Volkes. Sie eröffnen den Blick auf eine Psychoanalyse der Demokratie.
Die Frage nach der Identität richtet sich nicht primär auf ein einzelnes Ich – Selbst, Ego, Ipse, Persönlichkeit, Individualität. Sondern es geht um Nostrifikation, um ein Du-Wir-Verhältnis: Wer sind wir eigentlich, daß wir „du“ zueinander sagen können. Und wer bin also ich?

Die Psychologie des Volkes führt auf Historisch-Gesellschaftliches, auf das Spannungsverhältnis von Identität und Entfremdung hin. Als die Moderne vom „Volk“ zu sprechen begann – in der Zeit von Rousseau, Herder, Grundvig und Marx – kam zum Ausdruck, daß die Menschen sich als „fremd“ in der Welt erlebten.

Identität bezeichnet keine Idylle. Wer von (nationaler) Identität spricht, muß auch bereit sein, von (nationalen) Neurosen zu sprechen. Und von der Angst.
Wo das „gute“ Volk nicht gedacht werden darf, zeigt das Volk sich von der häßlichen Seite. Wo die Liebe nicht sein darf, da erscheint der Feind. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Angst und der Konstruktion des Anderen als des Feindes. Und zwischen dieser Ausschlußlogik und der Reifizierung „der anderen“.
„Das Volk“ bewegt sich nicht in einem geschlechtspsychologisch neutralen Raum. Wenn wir von Vaterland und Patriotismus einerseits, von Mutterland und Muttersprache andererseits sprechen, so bezeichnen wir damit Unterschiedliches.

Das Vaterland hat eine Affinität zu Staat und Führer, zu Hauptstadt und Zentralität, zu Grenzen und deren Sicherung durch Militär und Polizei, zu Administration und Planung, zu ökonomischen Ressourcen und Produktivität, zu Einheit und Fortschritt. Das Mutterland hingegen lebt im unübersichtlichen Volk und seiner Muttersprache, es hat mit Rhythmus und Sprachkörperlichkeit zu tun. Die Muttersprache ist nicht einheitlich, sondern vielfaltig geschichtet in Dialekten und Soziolekten. Sie macht an vaterländischen Grenzen nicht halt und wandert mit dem Vertriebenen mit ins Exil. Sie kennt keine Hauptstadt und macht sogar die Metropole zur Provinz, wo man berlinert oder Amager mål spricht. Zwei- und Mehrsprachigkeit stehen nicht im Widerspruch zur Muttersprache, und dennoch ist sie unverwechselbar sie selbst. Aber vielleicht gibt es noch ein Drittes.
Das Volk stehe, sozialpsychologisch gesehen, dem einzelnen nicht gegenüber. Die Gegenüberstellung – gar als Widerspruch – ist eher eine Konstruktion, die vom identitären Inhalt des Volksbegriffs absieht. Die duale Konstruktion hat ihre ideologischen Wurzeln im Liberalismus einerseits und im Faschismus und ähnlichen Formen totalitären Denkens andererseits.

Zur Praxeologie des Volkes – Fest, Krieg, Revolution

Das Volk ist nicht nur ein Überbau von Ideen, Meinungen und Ideologien, sondern hat seine Basis in gesellschaftlicher, körperlicher Praxis. Daraus ergibt sich eine Praxeologie des Volkes. Die körperliche Praxis ist die Grundlage für einen materialistischen Volksbegriff.

Volk kann nicht nur als Struktur oder Prozeß, sondern muß auch vom Situativen her verstanden werden, vom uniken Hier-und-Jetzt des Ereignisses. Situativ sind das Fest und die Katastrophe. Wird Fest verstanden als eine Hoch-Zeit des Selbst-Tuns, so kommt der Sport ins Bild. Der Sport ist ein praktisches Ritual der Nostrifikation: ,,Das hier ist unser Fest.“

Ein Ereignis katastrophaler Art ist der Krieg. Die national-demokratische Moderne hat den Krieg als „Volkskrieg“ neu erfunden und festlich aufgeladen. Aber seine Traumata werden von Generation zu Generation weitergereicht.

Die politische (Selbst-)Erfahrung des Volkes leitet sich in hohem Maße von der Revolution her. Revolution ist ein Ereignis zwischen Fest und Katastrophe. Die revolutionäre als eine praktisch-festliche Erfahrung besagt: „Wir können selbst“ – „Wir sind das Volk.“

Die revolutionäre als eine praktisch-festliche Erfahrung besagt: „Wir können selbst“:
„Kampf zwischen Bürger u. Soldaten in der Straße Frankfurter Linden in Berlin, am 18ten und 19ten März 1848“

„Volk“ im Kontext der Revolution war damit ein Kampfbegriff. Es ist wohl der Widerspruchsbegriff par excellence der modernen Demokratie.
Und „Volk“ ist ein Bewegungsbegriff. Das demokratische „Wir sind das Volk“ markiert primär weder eine Substanz: „Wir sind das Blut“, „Wir sind die Bevölkerung“ … Noch meint es eine Konstruktion: „Wir sind eine Idee“, „Wir stellen uns uns vor“… Sondern es bezeichnet eine Bewegung: „Wir, das Volk, sind in Bewegung“.

Die Demokratie der Moderne begann damit, daß das Volk die Revolution machte. Aber auch umgekehrt: Die Revolution schuf das Volk. (Da die erste erfolgreiche Revolution in Deutschland erst 1989 und nur in Teilen des Landes stattfand, eröffnet das unbequeme Aussichten auf das Verhältnis zwischen dem mitteldeutschen und dem westdeutschen Volk und damit auf die Deutschländer der Zukunft.)

Es ist allerdings fraglich, ob der Zusammenhang zwischen Demokratie und revolutionärer Explosion, der die klassische Moderne und ihren Volksbegriff einst prägte, auch weiterhin gültig ist. Der Revolutionsgestus des Aufruhrs von 1968 – Barrikaden, Massenaufmärschen und selbsternannte ,,Avantgarden“ – wirkte eher wie eine Karikatur, die Erwartung einer Explosion wurde enttäuscht und statt einer Umwälzung trug der Aufruhr auf unerwartete Weise zur Erhöhung der Effizienz von Staatsmacht und Markt bei. Als die Revolution als Basisveränderung dann wirklich eintrat – 1989/91 in Osteuropa – geschah sie in neuen Praxisformen. Die Staatsmacht trat, wenngleich unwillig, beiseite und kollabierte. Vielleicht ist die revolutionäre Explosion der Moderne also durch die Implosion ersetzt worden, gefolgt von den Implosionen des südafrikanischen Apartheidstaates, den Implosionen mächtiger transnationaler Konzerne etc. Es ist offen, welche Folgen die Ablösung der Ex- durch die Implosion für Volk und Demokratie haben mag.

Volk und Demokratie – wenn der Aufruhr die Stärkung der Staatsmacht zur Folge hat: bereits 1848 im März in Berlin.
Aufbahrung der Märzgefallenen
Adolph Menzel, 1848

Dazwischen – und ein paar aktuelle Probleme

Ethnos und Demos befinden sich nicht nur im Widerspruch zueinander, sondern bilden den Zusammenhang der modernen Demokratie. Das Volk der Demokratie sind die, die miteinander sprechen können. Obwohl damit auch die Bedeutung der gesprochenen Sprache hervortritt, geht es primär nicht um eine Linguistik der Demokratie, sondern um die Kultur der Demokratie. Kultur der Demokratie heißt: miteinander sprechen wollen.

Die Globalisierung ist ein Vorstoß der Marktlogik gegen die Völker. In ihr verlängert sich, wenngleich diskontinuierlich, die westliche Kolonialisierung, die aus einer Allianz von Markt- und Staatslogik entsprang. Aber an der Rückseite der Globalisierung erscheinen neue Tribalisierungen.

Die Europäische Union – als Markt, Großmacht, Festung, Reich oder Nation Europa – ist in ihrem Ausgangspunkt ein Elitenprojekt ohne oder gegen die Völker. Sie stellt ihre Anhänger vor die Wahl, die Existenz der Völker explizit in Abrede zu stellen oder sich ein eigenes Volk zu konstruieren. In der Zukunft wird man die sonderbarsten Annahmen über „das europäische Volk“ hören müssen. Die häßlichsten dieser Diskurse werden rassistisch sein.

Die Europäische Union ist ein Elitenprojekt – sie stellt die Existenz der Völker in Abrede.

Ein anderer Weg der Macht zur Aufhebung der modernen Demokratie führt über die Konstruktion des einzelnen als „Bürgers“. Der Weg der Neudefinitionen führt über den „Marktbürger“ (wie er durch den Gemeinsamen Markt und die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl definiert wurde) und den „EG-Bürger“ (definiert durch die Europäische Gemeinschaft) zum „Europabürger“ und „Weltbürger“. Solche Individualisierung des politischen Subjekts überspringt im Interesse der Macht die Gesellschaftlichkeit des Menschen – den zivilgesellschaftlichen Ausgangspunkt der Demokratie, die sozial-psychische Identitätsbildung und die Praxeologie der Selbstbestimmung.

Die Menschenrechte enthalten nicht nur individuelle Rechte, sondern auch grundlegende Gruppen-, Volks- und Völkerrechte. „Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt“ (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948, Art . 21:2). Gemeinsam ist den Menschenrechten die Anerkennung des anderen und das Recht auf Unterschied. Und auch die individuellen Rechte lassen sich nur gesellschaftlich verwirklichen.

Das Volkliche und das Zwischenvolkliche verweisen aufeinander. Das Verhältnis zwischen den Völkern – die Anerkennung von Minderheiten, die Solidarität mit bedrohten Völkern – ist ein Prüfstein dafür, wie man es mit dem eigenen Volk hält. Das Zwischenvolkliche steht in einem Spannungsverhältnis zum Internationalen, das sich auf Staaten bezieht. Und es steht alternativ zur Globalisierung als der marktlogischen Entnationalisierung der Menschen und der Umkonstruktion von Menschen zu „Individuen“.

Anders denken

Vom Widerspruch, vom Spannungsverhältnis und vom Situativen her zu denken bedeutet: Volkstheorie hat Abstand zu halten zur Reifizierung des Gesellschaftlichen. Die Verdinglichung hat das „biologische“ Volk hervorgebracht und die Vermessung von „Rassenmerkmalen“, den Funktionalismus der Bevölkerungslehre und den Institutionalismus der herrschenden Staatstheorie. Solche Sackgassen sind zu vermeiden.

„Volk“ ist – wie die Identität – eher ein Frage- als ein Antwortbegriff. Wenn wir über das Volk reden wie über eine Sache, maßen wir uns Macht an. Wenn wir auf das Volk hin fragen, sind nicht wir es, die besserwissen.

Kern der Volkstheorie ist, daß der Mensch nicht allein auf der Welt ist. Mitmenschlichkeit und Tod bezeichnen die Endlichkeit des Menschen. Jenseits des Humanismus ersten Grades, der auf dem Konstrukt „des Menschen“ aufbaut – ein Singular mit megalomanen Konsequenzen – zeichnet sich ein Humanismus zweiten Grades ab. Das Menschliche liegt zwischen den Menschen im Plural. Humanismus ist als Zwischenhumanismus zu denken.

Die Theorie des Volkes ist Teil einer Philosophie des Unterschieds. Volk bezeichnet das Unübersetzbare zwischen den Sprachen, zwischen den Menschen.

Wer von den Völkern nicht reden will, sollte von „dem Menschen“ schweigen.

Henning Eichberg

Henning Eichberg (1942 – 2017), Kultursoziologe und Historiker, der seit 1982 in Dänemark lehrte, war bereits seit den ersten Ausgaben der Zeitschrift wir selbst (Gründung im Jahre 1979) der inspirierende Kopf. Sein intellektuelles Fluktuieren zwischen rechten und linken Denkströmungen, seine linksnationale, ethnoplurale Kritik am rechten Etatismus und seine radikale ökologische Orientierung wurden für uns programmatisch wegweisend, jedoch nie zu Dogmen.

Autor der Bücher:

Ausnahmezustand: Die Corona-Krise und die Rückkehr des Politischen

von Florian Sander

Ausnahmezustand: Die Corona-Krise und die Rückkehr des Politischen

Über die gesellschaftlichen Folgen der Corona-Krise

Liebe Leser! Auch auf die Gefahr hin, dass Sie weitere Beiträge zum bösen C-Wort langsam nicht mehr sehen können: Es gibt inzwischen allerhand dazu zu sagen, denn die Implikationen der Krise, als wie berechtigt man die Ängste und die Maßnahmen dazu auch ansehen mag, sind nun einmal gewaltig. Für Soziologen wie den Autor dieser Zeilen stellt sich unsere Welt derzeit wie ein einziges großes Forschungsobjekt dar, denn wir erleben derzeit eine Gesellschaft im Umbruch. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass 2020 einst in einer Reihe stehen wird mit Zäsuren wie 1945, 1968, 1989 und 2001. Auch soziologische Laien spüren längst: Es ändert sich gerade gewaltig etwas in unserer bequem, ja dekadent gewordenen Wohlstandsgesellschaft. Zwar weiß noch keiner so genau, was da gerade passiert und was sich da verändert, aber dass es geschieht – daran hat kaum jemand noch Zweifel. Über die (sozialen, nicht medizinischen) Ursachen der Krise, die vor allem im Komplex der Globalisierung und der daraus generierten Weltrisikogesellschaft (Ulrich Beck) zu verorten sind, haben wir bereits an anderer Stelle geschrieben, weswegen wir dazu hier nicht mehr allzu viele Worte verlieren wollen. Anstatt der Vergangenheit widmen wir uns an dieser Stelle nun der Gegenwart – und der Zukunft. Was passiert um uns herum eigentlich gerade?

Die (post-)moderne Gesellschaft

Einmal mehr tauchen wir zum Zwecke der Analyse ein in die wohlig-nüchternen Sphären der soziologischen Theorie, die uns in diesen coronafiebrig-hitzigen, hysterischen Zeiten stets etwas abzukühlen imstande sind und Ordnung in das Chaos zu bringen vermögen. Die Systemtheorie nach Niklas Luhmann liefert, wie auch immer man in normativem Sinne zu ihr stehen mag, eine gültige Diagnose der modernen Gesellschaftsstruktur bis ins Jahr 2020 hinein. Luhmanns Theorie stützt sich auf die These der funktional differenzierten Gesellschaft, welche, im Gegensatz zur (segmentär differenzierten) Stammesgesellschaft und zur (stratifizierten) Ständegesellschaft eine Struktur hat, die nicht mehr länger als hierarchisch oder auch nur als organisiert bezeichnet werden kann.

Inzwischen gilt: Es steht weder ein bestimmter Stand über allem noch ein bestimmtes System. Das Primat der Religion, das im europäischen Mittelalter zu beobachten war, gibt es ebenso wenig wie eines der Politik. Einher geht diese Entwicklung mit einer hochausdifferenzierten Arbeitsteilung, die in Spezialisierung und, in heutigen Zeiten, buchstäblich in „Fachidiotentum“ mündet. Die Gesellschaft spaltet sich auf in gleichberechtigte, miteinander wetteifernde Funktionssysteme wie Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Massenmedien, Sport, Erziehung, Religion und Gesundheit. Keines dieser Systeme steht über dem anderen; selbst die Politik hat nun mehr nur noch eine „regulierende“, „ordnende“ Funktion inne, aber keine herrschende oder steuernde. Nicht umsonst wird der (oft auch normativ verstandenen) Systemtheorie aus diesem Grunde eine Art neoliberaler Charakterzug unterstellt: Wo die Politik eine derart zurückgedrängte, reduzierte Funktion hat, wo Steuerungsmöglichkeiten im Großen und Ganzen verneint werden, da operiert eben auch die Wirtschaft autonom, kann die Politik ebenso beeinflussen wie die Politik sie. Eine Diagnose, die man angesichts der Folgen einer anderen großen, globalen Krise unserer Zeit, der Finanzkrise ab 2007, schwerlich als falsch bezeichnen kann – aber eben nicht als wünschenswert.

Luhmann sollte insofern auch als Diagnostiker gelesen werden, nicht als politischer Theoretiker. Konservative, die den heute umso mehr aktuellen Diagnosen eines anderen großen Differenzierungstheoretikers, nämlich Carl Schmitt, etwas abgewinnen können, müssen folglich zwar die Diagnosen Luhmanns anerkennen können, sollten demgegenüber aber nicht dessen normative Schlussfolgerungen dazu teilen. Nach Luhmann ist die funktional differenzierte Gesellschaft ein quasi unausweichliches Produkt stetiger gesellschaftlicher Evolution; eine soziale Ordnung, die sich aufgrund der modernen Erfordernisse durchgesetzt hat, wie die Arbeitsteilung in der industrialisierten Wirtschaft, und die deswegen gewissermaßen die beste und effektivste Antwort auf die komplexen Erfordernisse der Moderne darstelle. Auch wenn Luhmann es in seinen Werken nie „laut“ sagte und er es auf entsprechende Nachfrage hin vermutlich bestritten hätte: Recht häufig klingt bei ihm an, dass er die komplexitätsgesteigerte funktional differenzierte Gesellschaft für die beste Gesellschaftsform hält.

Erwachende Germania, 1848/49
Kunstdruck / Reproduktion des Gemäldes von Christian Köhler (1809-1861)
Das Gemälde kann als Kunstdruck hier bestellt werden: https://lindenbaum-verlag.de/produkt/kunstdruck-erwachende-germania/

Das Primat des Politischen kehrt zurück

Andere Zeiten, andere Konklusionen: Das differenzierungstheoretische Gegenmodell lieferte Carl Schmitt (noch Jahrzehnte vor Luhmann), der – wenn auch ohne von „Systemen“ zu sprechen – ebenfalls von gesellschaftlichen Teilbereichen wie dem Politischen, dem Ökonomischen, dem Ästhetischen etc. ausging und diesen, wie auch später Luhmann, binäre Leitunterscheidungen zuschrieb: Das Politische ist laut Schmitt dadurch politisch, dass es das, was es wahrnimmt, nach Freund und Feind unterscheidet; das Ästhetische unterscheidet zwischen schön und hässlich usw. Anders als Luhmann sah Schmitt das nicht-hierarchische Verhältnis zwischen jenen Sphären kritisch, im Sinne einer Entpolitisierung, was ihn konsequenterweise zum Liberalismus-Kritiker machte.

Liberalismus-Kritik war jedoch nur eine Facette des umfassenden Werkes des konservativen Staatsrechtlers. Kennzeichnend für Schmitts (eher rechtswissenschaftlich und weniger soziologisch inspirierte) Staatstheorie war nun das besondere Interesse für den Ausnahmezustand: Das berühmte Schmitt-Bonmot „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ machte deutlich, dass eben jener Zustand die Rückkehr, ja die erneute hierarchisch hervorgehobene Stellung, anders gesagt: das Primat des Politischen markiert. Im Ausnahmezustand verdrängt die politische Leitunterscheidung alle anderen Unterscheidungen. Konkreter und an einem Beispiel gesprochen: Befindet sich ein Staat im Krieg, so dominiert dieser sämtliche anderen gesellschaftlichen Sphären. Der Sieg, oder zumindest das Überleben ist wichtiger als die Schönheit oder Hässlichkeit eines Gemäldes. Die Wirtschaft ist nur noch insoweit wichtig, als dass sie den Rüstungserfordernissen dient; Luxusgüter stehen hinten an. Und so weiter. Nun, entdecken Sie bereits gewisse Parallelen?

Carl Schmitt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“

In der Tat: Auch der Seuchenfall ist natürlich ein Ausnahmezustand par excellence, mit allem, was auch staats- und gesellschaftstheoretisch dazugehört. Was sich viele im bisherigen postmodernen Zeitalter des Radikalindividualismus, der Spaß- und Konsumgesellschaft, der offenen Grenzen und des „Alles muss für jeden immer und überall möglich sein“ kaum noch vorstellen konnten, ist eingetreten: Mitten in der liberalen Demokratie herrschen plötzlich (sogar sehr gravierende) Freiheitseinschränkungen und Grundrechtseinschnitte. Grenzen schließen sich, es herrschen (mal offizielle; mal inoffizielle, aber „faktische“) Ausgangssperren und Kontaktverbote. Geschäfte für „Luxusgüter“ (also solche, die gesellschaftlich nicht unbedingt notwendig sind) werden über Wochen hinweg geschlossen, die Wirtschaft wird auf das Nötigste beschränkt. So wie in Kriegszeiten alle möglichen, eigentlich militärfernen Wirtschaftszweige auf rüstungsindustrielle Produktion umgestellt werden, produzieren nun Unternehmen, die ursprünglich gar nicht mit Gesundheitsartikeln assoziiert werden, Produkte, die für die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems unerlässlich sind. Die Bundeskanzlerin formuliert in ihrer Rede an die Nation, wir stünden vor der größten Herausforderung für unser Land seit dem Zweiten Weltkrieg.

Merkels drastische Äußerung ist insofern nicht übertrieben, als dass die Corona-Krise mit diesem eine große Parallele hat, die selbst die Zäsuren von 1968, von 1989 und von 2001 nicht aufbieten konnten: Sie betrifft wahrlich jeden, irgendwie. Keiner kann sich ihr mehr entziehen. Den Studentenprotesten der 68er und ihren Inhalten musste man keine Beachtung schenken. Der deutschen Einheit zumindest in Westdeutschland ebenso wenig – am „eigenen Leib“ spürte man die Veränderung primär über das Steuerrecht. 9/11 manifestierte sich in zeitweiligen, aber für die große Mehrheit wenig konkreten Ängsten; mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr hatte Otto Normalverbraucher nicht wirklich etwas zu tun und auch die überwachungsausbauenden Anti-Terror-Gesetze „spürte“ man nie wirklich selbst.

Erheblich anders nun bei Corona: Vom WC-Papier bis hin zu privaten Freizeitaktivitäten, vom regelmäßigen Gang zum Friseur bis hin zu der zuvor hoch banalen Frage, was man in einem öffentlichen Verkehrsmittel berührt und ob man sich danach ins Gesicht fasst, neben wem man in welchem Abstand sitzt oder wer wann wo wie stark hustet – die Krise ist ganz nah an uns dran und prägt unser Leben. Im Bundestag wirkt sie sich auf nahezu allen Politikfeldern und in allen Ausschüssen aus. Selbstständige und Unternehmer werden in teils existenzielle persönliche Krisen gestürzt; der psychische Zustand selbst von Normalbürgern ist angesichts der erzwungenen Stubenhocker-Existenz zunehmend labil. Menschen werden zunehmend neurotisch und neigen zu hypochondrischen Charakterzügen. Die Krise ist „totalitär“ – und sie zeigt auf, dass auch liberale Demokratien durchaus imstande sind, das Primat des Politischen wiederherzustellen, wenn der Ausnahmezustand es gebietet. Corona hat es geschafft: Die moderne, funktional differenzierte Gesellschaftsstruktur wurde, wenn nicht vollends außer Kraft gesetzt, so doch zumindest stark hierarchisiert und unter ein Primat des Politischen gestellt – zumindest zeitweilig.

Was bringt die Zukunft?

Lange schon kennen Demoskopen den Effekt, der sich stets bei größeren Krisen zeigt, und der sich auch in diesen Tagen abermals deutlich manifestiert: Die Menschen neigen wieder dazu, die Regierenden zu stützen. In Zeiten der Angst, der (scheinbar) existenziellen Bedrohung strebt man nach Muttis Rockzipfel: CDU/CSU steigen in den Umfragewerten auf bislang kaum noch erwartete Höhen; die kleineren Oppositionsparteien (AfD, FDP, Linke) verlieren spürbar an Zustimmung. Diese haben letztlich nur die Wahl, die Regierungspolitik staatstragend-zustimmend zu begleiten (was nicht hilft, da das Original immer mehr profitiert als die Kopie) oder als zeternd-emotionalisierter Meckerfritze rezipiert zu werden (was aber dem Sicherheitsbedürfnis verängstigter Menschen entgegensteht). Als Oppositionspartei kann man in solchen Zeiten so gut wie nicht gewinnen – zumindest solange, bis die Regierung offensichtlich etwas gravierend falsch macht.

In der akuten Krise streben die Menschen, wie schon infolge anderer Katastrophen, nach Sicherheit: Keine Experimente! Doch, Achtung: Auch wenn uns die Corona-Krise selbst gewiss noch einige Monate lang begleiten wird; sie wird enden – und durch eine ganz andere Krise ersetzt werden, die vermutlich noch weitaus tiefgreifender wirken wird. Die aktuellen Maßnahmen, aber auch das weltwirtschaftliche Wetterleuchten, das bereits davor zu beobachten war, werden einschneidende Folgen für unsere Wirtschaft haben, und die internationalen Kettenreaktionen, die aus den noch dramatischeren Situationen in den mediterranen Staaten resultieren, werden ebenfalls nicht auf sich warten lassen. Spätestens ab diesem Moment wird die existenzielle Angst der Bevölkerung durch (oft nicht minder existenzielle) Wut ersetzt werden: Die Zustimmung für die Regierenden wird schwinden; die Opposition wird profitieren. Konservative Kräfte sollten für diese Zeit programmatisch gerüstet sein.

Generell jedoch haben, und dies ist das explizit soziologisch Spannende an diesen Zeiten, all diese drastischen Entwicklungen schon jetzt eben nicht nur politische und (sozio-)ökonomische, sondern eben auch massive gesellschaftliche Folgen. Wir spüren – bedingt durch den Ausnahmezustand und auch in der Zeit danach – eine Rückkehr des Politischen. Genauer gesagt: Eine Rückkehr des originär politischen Akteurs, nämlich des Nationalstaates. Es dominiert wieder das nationale Interesse, und es ist der Nationalstaat (und nicht übergeordnete supranationale Einrichtungen wie die EU), der das Zepter des Handels in die Hand nimmt, und die Menschen spüren – nach Jahren der hyperindividualisierten „Ich kann alles schaffen, was ich will, und bin mir selbst der nächste“-Dekadenz –, wie sehr sie ihn im Notfall dann doch wieder brauchen.

Hoffnungsvoll stimmen auch die zahlreichen Anzeichen für einen neuen Zusammenhalt. Wir erleben ein Revival der Solidargemeinschaft: Es ist von Nachbarschaftshilfe die Rede; davon, unsere älteren Mitbürger vor den aktuellen Gefahren zu schützen. Wir erleben ein neues gesellschaftliches Miteinander, das nicht nur die Rückkehr des Nationalstaates, sondern sogar die Rückkehr des Volkes (anstatt: der „Bevölkerung“) bedeuten kann, da man intuitiv die Notwendigkeit der vor kurzem noch ach so antiquierten kollektiven Identitäten erfasst. Die allgemein erwartete physische Distanzierung führt zu einer neuen Wertschätzung zwischenmenschlicher Bindungen: Zum Partner, zur Familie, zu Freunden. Das öffentliche Leben im hyperschnell gewordenen, globalisierten und entgrenzten Spätkapitalismus wird mit einem Mal urplötzlich entschleunigt: Wir werden gezwungen zum Innehalten, zur Besinnung, zum In-uns-gehen. Zugleich bekommen wir wieder ein Gespür dafür, wie es ist, Not zu leiden, existenzielle Sorgen zu haben. Das macht uns – mehrheitlich; Ausnahmen gibt es immer – solidarischer, nachdenklicher, demütiger, weniger oberflächlich und weniger materialistisch.

Trotz der einschneidenden gesundheitlichen und ökonomischen Folgen der Krise gilt: Es ist durchaus möglich, langfristig gesehen auch positive Aspekte in ihr zu entdecken. Es ist die falsche Zeit für apokalyptischen Kulturpessimismus – der aber leider nicht zuletzt im konservativen Spektrum allzu beliebt ist und dann wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirkt, indem er positive Ansätze zur konservativen Umgestaltung der Gesellschaft paralysiert. Dieser Versuchung sollten wir nicht erliegen, sondern lieber die Möglichkeiten nutzen, einige Dinge künftig grundlegend anders zu handhaben.

Die Krise als Chance

Noch ist nicht abzusehen, wohin uns diese Reise, die mit der Corona-Krise erst ihren Anfang nimmt, führen wird. Es gibt jedoch durchaus Anzeichen dafür, dass mit ihr und infolge einer gesellschaftlich noch anstehenden, schonungslosen Ursachenanalyse, die die Negativfolgen der globalisierten und grenzenlosen Postmoderne auf den Tisch bringt, unsere Gesellschaft einen Weg einschlagen könnte, der zum Wert kollektiver Identitäten, zur Nationalstaatlichkeit und zur Solidargemeinschaft zurückführt. Jede Krise, so schlimm und so übel sie auch immer sein mag, birgt auch stets die Chance zu etwas Besserem in sich. Nutzen wir sie. Ohne Angst – aber dafür mit Mut, Tatkraft und viel Optimismus im Herzen.

Florian Sander

Florian Sander, M. A., hatte zunächst einen nebenamtlichen Lehrauftrag (2013 – 2015), danach eine hauptamtliche Dozentur (2016 – 2019) an einer Fachhochschule inne, lehrte dort Sozialpsychologie, Soziologie und Politikwissenschaft und arbeitete auch als Verhaltenstrainer. Er ist aktuell Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS), Universität Bielefeld.
Von 2009 bis 2014 war er Mitglied des Rates der Stadt Bielefeld. Seit 2018 betätigt er sich als Mitglied der Landesprogrammkommission und des Landesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik der AfD NRW sowie als Leiter des Arbeitskreises Kommunalpolitik der AfD Bielefeld, deren stellvertretender Kreissprecher er seit 2019 ist. Er war Autor für den Blog Le Bohémien (2010 – 2017), für das Online-Magazin Rubikon (2017 – 2018) und für die Linke Zeitung (2017 – 2018) und schreibt seit 2018 für das Kultur- und Lifestyle-Magazin Arcadi sowie seit 2019 auch für den Blog des Jungeuropa-Verlags, für die rechtsintellektuelle, vom Institut für Staatspolitik (IfS) herausgegebene Zeitschrift Sezession und für das Zentralorgan des Bundes Deutscher Unitarier e. V., Glauben und Wirken.

Unsere Angst: ihr Ring, uns alle zu knechten

von Klaus Kunze

Unsere Angst: ihr Ring, uns alle zu knechten

Warum unsere Ängste ihre Macht stabilisieren

Angst zu schüren ist eine Methode der sozialen Disziplinierung.

In früheren Zeiten wurde sie gern unartigen Kindern gegenüber angewandt. Benahm sich der kleine Zögling bei Tische nicht, klopfte die Mutter von unten an den Tisch und sagte drohend: „Der Frost!“ – Bei kleinen Kindern wirkt das im ersten Augenblick und für eine Weile.

Zog ein Kind vor dem Spiegel Grimassen, hieß es: „Irgendwann bleibt Dein Gesicht so stehen!“ – An eingebildeten Schrecknissen hat es nie gefehlt, Menschen einzuschüchtern und unter eine Knute zu zwingen. In langen Epochen ängstigte man die Menschen mit Teufeln, die überall auf der Lauer liegen, um Sünder zu quälen: „Sei fromm, sonst kommt der – du weißt schon wer – Dich holen!“

Sünder, das sind die Ungehorsamen schwarzen Schäfchen, die fröhlich beiseite traben. Ihre Hirten habe ihre liebe Not mit ihnen, wenn sie die Herde beisammen halten wollen. Früher donnerten Drohungen mit dem Teufel sonntags von der Kanzel. Heute wird die Herde rund um die Uhr aus Radio und Fernsehen mit Warnungen und Drohungen berieselt.

Die Rolle des Teufels spielen wechselnde Darsteller. Wenn gerade nichts Aktuelles vorliegt, heißt der Oberteufel – nun, wir kennen ihn alle. Schaltet man an einem beliebigen Tag durch die Sender, taucht er immer irgendwo auf, verliert zum hunderttausendsten Mal seinen Krieg und wird ewig am Leben erhalten.

In einem Kampf gegen X geht es gar nicht um X; vielmehr wird die Verwerflichkeit und Destruktivität eigenen politischen handelns auf den vermeintlichen oder tatsächlichen Feind projiziert, um politisch nutzbare Angst der Bevölkerung zu erzeugen. All das, was hier als Kampf gegen eine Bedrohung verkauft wird, darf gar nicht erfolgreich sein, weil sein Erfolg für die ökonomischen und politischen Zentren der Macht gerade darin liegt, nicht erfolgreich zu sein und als Mittel der Angsterzeugung und Herrschaftssicherung erhalten zu bleiben.

Rainer Mausfeld, Angst und Macht, 2. Aufl. 2019, S.60.

Er ist so wichtig, weil er für die Herrschenden eine systemstabilisierende Funktion erfüllt. Wir sollen ihnen gehorchen, weil sonst wieder so ein – Sie wissen schon, wer – kommt. Ein solcher Feind muß zwar theoretisch immer wieder besiegt, gleichwohl aber dauerhaft am Leben erhalten werden. Er ist der Existenzgrund für den Machterhalt derer, die von sich selbst behaupten, sein Gegenteil zu verkörpern und uns vor seiner Wiederkehr zu beschützen.

Wenn die Corona-Disziplin nachläßt, wird nachgeschürt

Eine Zeitlang wurde er vom Corona-Virus als Erzschuft abgelöst. Wir alle kuschen, weil unsere Politiker Corona-Angst schüren. Dazu müssen sie nicht aussprechen: „Habt Angst!“ Es genügt, wenn mit Katastrophenbildern wie aus Italien unterlegte Warnungen ständig wiederholt werden. Die soziale Disziplinierung funktioniert hervorragend. Die Schafe bleiben brav in den Ställen.

Seit ein paar Tagen scheint die allgemeine Angst nachzulassen. Menschen merken, daß in ihrem Umfeld niemand gestorben ist und eine Infektion milde verläuft. Unser Gesundheitssystem funktioniert. Die Rufe nach einem Ende der Einschränkungen werden lauter. Die Herde drängt gegen Zäune und Gatter.

Der Disziplinierungseffekt läßt sich nur aufrechterhalten, solange die Angst um sich greift. Seit ein paar Tagen wird in Radio und Fernsehen wieder zunehmend Angst vor „Rechtsextremismus“ geschürt. Für jeden Priester sind göttliche Wunder wichtig. Noch wichtiger sind Beweise für die leibhaftige Existenz des Satans, mit denen er seine Herde einschüchtern und zusammenhalten kann.

Wozu unser Extremismus benötigt wird

Für unsere herrschenden Kreise sind Beweise für die geistige Fortexistenz und Gefährlichkeit jenes – Sie wissen, wen ich meine – eine Lebensfrage. Nachdem der Kommunist Marinus van der Lubbe in der Nacht auf den 28.2.1933 den Reichstag angezündet hatte, trat am 24.3.1933 das Ermächtigungsgesetz in Kraft. Mit den bürgerlichen Freiheiten war es vorbei. Van der Lubbe kam jenem – Sie wissen, wem – so gelegen, daß das Gerücht aufkam, die Nationalsozialisten selbst steckten hinter dem Brand.

Wenn heute in Deutschland auch nur die unwahrscheinlichste Möglichkeit besteht, den Rechtsextremisten als neuen Teufel zu beschwören, wird sie ergriffen. Dann erfindet man mal eben nicht existierende Hetzjagden auf Ausländer oder deutet den Mord eines Geisteskranken in eine rechtsextreme Tat um. Gäbe es eine rechtsextreme Gefahr nicht, würde man sie erfinden.

Wenn mal wieder das Bühnenstück „rechtsextreme Gefahr“ aufgeführt wird, weiß leider niemand im Publikum, was eigentlich mit Rechtsextremismus gemeint ist. Vor ein paar Jahren brachten linksgestrickte Politologen das Schlagwort vom Extremismus der Mitte auf. Wie früher der Pfarrer von der Kanzel donnerte: „Ihr seid alle Sünder!“, wurden wir alle, wurde die Mitte der Gesellschaft, unter Generalverdacht gestellt. Man sagt uns verborgene rechtsextreme Haltungsmuster nach.

Rechtsextremismus als politologisches Sesam-öffne-dich

Nirgends steht verbindlich, was Rechtsextremismus sein soll. Die Deutungshoheit darüber liegt in Händen derselben linken Politologen, Psychologen und Soziologen, die „der Mitte der Gesellschaft“ rechtsextremistische Einstellungen unterstellen. Viele von ihnen bestreiten ihren Lebensunterhalt durch staatlich bezahlte „Rechtsextremismusforschung“. Die Verwendung des Wortes „rechtsextremistisch“ ist beliebig. Es gibt viele Versuche, Erkennungsmerkmale zu entwickeln. Alle sind schwammig. Eine anerkannte Definition gibt es nicht.

Im Gegensatz dazu ist die Juristerei eine exakte Wissenschaft, die auf Definitionen aufbaut und darauf besteht. Sie kann mit schillernden Seifenblasenwörtern nicht viel anfangen. Dementsprechend gibt es kein staatliches Gesetz, in dem steht, was Rechtsextremismus sei. Das hinderte die Bundestagsmehrheit allerdings nicht daran, ein Rechtsextremismus-Datei-Gesetz vom 20.8.2012 zu erlassen. Leider steht auch in diesem Gesetz nicht, was Rechtsextremismus gesetzlich sein soll. Das Gesetz ermächtigt zu bestimmten Datenspeicherungen und greift damit in Bürgerrechte ein, ohne im Gesetzestext zu klären, wann es aufgrund einer „rechtsextremistischen“ Gewalttat überhaupt anwendbar sein soll.

Das Bundesverfassungsgericht hat in zwei Entscheidungen bestätigt, daß der Begriff des Rechtsextremismus juristisch unbrauchbar ist

Erst recht fehlt es dem Verbot der Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts an bestimmbaren Konturen. Ob eine Position als rechtsextremistisch – möglicherweise in Abgrenzung zu “rechtsradikal” oder “rechtsreaktionär” – einzustufen ist, ist eine Frage des politischen Meinungskampfes und der gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung. Ihre Beantwortung steht in unausweichlicher Wechselwirkung mit sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten und subjektiven Einschätzungen, die Abgrenzungen mit strafrechtlicher Bedeutung (vgl. § 145a StGB), welche in rechtsstaatlicher Distanz aus sich heraus bestimmbar sind, nicht hinreichend erlauben. Die Verbreitung rechtsextremistischen oder nationalsozialistischen Gedankenguts ist damit kein hinreichend bestimmtes Rechtskriterium, mit dem einem Bürger die Verbreitung bestimmter Meinungen verboten werden kann.

BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluß vom 08. Dezember 2010 – 1 BvR 1106/08 –

Ob jemand „rechtsextremistisch“ ist, stellt keine beweisbare Tatsache dar, sondern eine wohlfeile Meinungsäußerung:

Das LG ordnet eine der Äußerungen des Beschwerdeführers offenbar fehlerhaft als Tatsachenbehauptungen ein; bei den beanstandeten Äußerungen handelt sich jedoch um Meinungsäußerungen, da nicht durch eine Beweiserhebung festgestellt werden kann, wann ein Beitrag “rechtsextrem” ist, wann sich ein Denken vom “klassisch rechtsradikalen verschwörungstheoretischen Weltbild” unterscheidet und wann man “es sich gefallen lassen muß, rechtsradikal genannt zu werden”.

BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluß vom 17. September 2012 – 1 BvR 2979/10 –

Ungeachtet dessen schmuggelt unsere Regierung gern ihre Vorstellungen, was rechtsextrem sei, selbst in behördliche Verbote ein. Wenn ein Rechtsstaat ein Handeln verbietet, muß er sich im Rahmen einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage halten. Eine solche steht in § 3 des Vereinsgesetzes: „Ein Verein darf erst dann als verboten (Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes) behandelt werden, wenn durch Verfügung der Verbotsbehörde festgestellt ist, daß seine Zwecke oder seine Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder daß er sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung richtet.“

Dem Bundesverwaltungsgericht liegt zur Zeit zu 6 VR 1.20 ein Eilantrag des im November 2019 verbotenen Vereins COMBAT 18 gegen sein Verbot vor. Der Bundesinnenminister wirft ihm vor, er sei mit dem Nationalsozialismus wesensverwandt, und seine Tätigkeit laufe auch Strafgesetzen zuwider. Beides bestreitet der Verein.

Um die Behauptung zu stützen, der Verein sei mit dem Nationalsozialismus wesensverwandt, beruft sich das Ministerium darauf, der Verein habe intensive Kontakte zur rechtsextremen Szene unterhalten. Auf diese Weise setzt es die Begriffe nationalsozialistisch und rechtsextremistisch argumentativ gleich, denn sie will den ersten mit dem zweiten beweisen: Wer rechtsextreme Kontakte pflege, darauf läuft es hinaus, sei wesensverwandt mit dem Nationalsozialismus.

Das Ministerium beruft sich dabei auch auf die Begründung des Bundestags zum Rechtsextremismus-Datei-Gesetz von 2012 . Solche Begründungen sind nicht selbst Gesetz. Es heißt dort:

Rechtsextremismus ist der Oberbegriff für bestimmte verfassungsfeindliche Bestrebungen, die sich gegen die im Grundgesetz konkretisierte fundamentale Gleichheit der Menschen richten und die universelle Geltung der Menschenrechte ablehnen. Rechtsextremisten sind Feinde des demokratischen Verfassungsstaates, sie haben ein autoritäres Staatsverständnis, das bis hin zur Forderung nach einem nach dem Führerprinzip aufgebauten Staatswesen ausgeprägt sein kann. Das rechtsextremistische Weltbild ist geprägt von einer Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit, aus der u.a. Fremdenfeindlichkeit resultiert. Dabei herrscht die Auffassung vor, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder „Rasse“ bestimme den Wert eines Menschen. Offener oder immanenter Bestandteil der über- wiegenden Mehrzahl aller rechtsextremistischen Bestrebungen ist zudem der Antisemitismus. Individuelle Rechte und gesellschaftliche Interessenvertretungen treten zugunsten kollektivistischer „volksgemeinschaftlicher“ Konstrukte zurück.

Gesetzesbegründung zum RED-G von 2012

Diese Gesetzesbegründung entspricht fast wortgleich der von Politologen erarbeiteten und zum Beispiel zu im Verfassungsschutzbericht von 2006 stehenden Ansicht:

Amtlich werden als Rechtsextremismus “…Bestrebungen verstanden, die sich gegen die im Grundgesetz konkretisierte fundamentale Gleichheit der Menschen richten und die universelle Geltung der Menschenrechte ablehnen. Rechtsextremisten sind Gegner des demokratischen Verfassungsstaates. Sie haben ein autoritäres Staatsverständnis. Das rechtsextremistische Weltbild ist geprägt von einer Überbewertung ethnischer Zugehörigkeit (Fremdenfeindlichkeit). Dabei herrscht die Auffassung vor, die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse bestimme den Wert eines Menschen. Individuelle Rechte und gesellschaftliche Interessenvertretungen treten zugunsten kollektivistischer ‘volksgemeinschaftlicher’ Konstrukte zurück (Antipluralismus).”

VS-Bericht 2006.

Ihr Ring, uns alle zu knechten

In Verdacht geraten kann damit „amtlich“ jeder, der die Menschen zwar als fundamental gleichwertig, aber nicht als fundamental gleich ansieht oder dem sein Volk so wertvoll ist, daß amtliche Politologen seine Vaterlandsliebe als „Überbewertung“ bezeichnen. Ihr ideologisches Ziel dieses Staatshandelns ist,

Individuen hervorzubringen, die in einer sozial atomisierten Gesellschaft nur noch als Konsumenten eine soziale Identität finden.

Rainer Mausfeld,Angst und Macht, 3.Aufl. 2019, S.83.

Dieser Zielvorstellung arbeiten unsere Medien permanent vor, wenn sie Ängste vor diversen Bösewichtern schüren. Ich höre seit Monaten wenig anderes in den Staatsmedien als beständige Warnungen vor irgendwelchen Bedrohungen. Sie alle rechtfertigen den weiteren Machterhalt und unsere Unterordnung unter bestimmte Parteien, deren Zustimmungswerte seit Jahren ins Bodenlose gefallen sind und weiter fielen.

Seit die Corona-Angst lodert, steigen sie wieder. Es wird auch künftig immer angebliche Wölfe geben, mit denen wir als Herde unseren Hirten zugetrieben werden sollen. Notfalls benutzt man den Universalteufel – Sie wissen schon, wen – und schüchtert uns ein. Unsere Angst ist der Ring der Macht, den Tolkien uns in „Der Herr der Ringe“ vor Augen geführt hat:

Ein Ring, sie zu knechten, sie alle zu finden,

Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf Klaus Kunzes Blog: http://klauskunze.com/blog/2020/04/19/unsere-angst-ihr-ring-uns-alle-zu-knechten/

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

NEU:

Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Hier erhältlich!

Klaus Kunze: Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen. Von der Vormundschaft zum Genderismus. Hier erhältlich!

Die deutsche Neurose

von Hrvoje Lorković

Die deutsche Neurose

Wenn ein Ausländer das Problem der deutschen Neurose anspricht, muß das zunächst als Überheblichkeit aufgefaßt werden. Um die berechtigten Besorgnisse zu lindern, muß ich deshalb gleich zu Beginn mit einigen autobiographischen Erklärungen aufwarten, was mich wiederum der Gefahr aussetzt, aufdringlich zu wirken.

Kann man so einfach Begriffe aus der Individualpsychologie auf ein ganzes Volk übertragen?

Das hier angeschnittene Problem beschäftigt mich schon mehr als zehn Jahre. Der Wunsch, etwas darüber zu veröffentlichen, verstärkte sich, als ich vor Jahren erfuhr, daß 1980 ein Buch unter dem Titel »Die deutsche Neurose« erschienen war. In diesem Buch wurde eine Reihe für das Thema relevanter Fragen überhaupt nicht berührt. Vor allem hat keiner der Autoren versucht, klar zu sagen, was er unter einer nationalen Neurose versteht. Dieser theoretischen Fragestellung bin ich mir aber schon seit 1965 bewußt. Damals trat ich zum erstenmal vor ein kroatisches Diasporapublikum mit der These, das politische Verhalten der Kroaten sei dem neurotischen überraschend ähnlich. Der erste Gedanke dieser Art kam mir schon 1947 beim Lesen eines populären Bändchens des amerikanischen Psychiaters Louis Bisch. Den Faden weiterspinnen konnte ich in meiner Heimat nicht — aus verständlichen Gründen: Es wäre politisch nicht ratsam gewesen, ein Volk, das soeben den »rettenden Hafen des Sozialismus« erreicht hatte, als von diesem Glück derart betroffen darzustellen, als wäre es vor lauter Befreiung geisteskrank geworden. Die kroatischen Emigranten zeigten ihrerseits wenig Bereitschaft, die Idee aufzunehmen. Sie neigten eher zu der Vorstellung, das kroatische Volk trage sein tragisches Schicksal mit bewundernswertem Heroismus. Ihre Verteidigung gegen jegliche Suggestion der Neuroseähnlichkeit lautete stets: »Ja, aber kann man so einfach Begriffe aus der Individualpsychologie auf ein ganzes Volk übertragen?«

Peter Bruegel der Ältere, Zwei angekettete Affen, Öl auf Eichenholz 1562

Der arkane, mysteriöse, unheimliche Charakter des Unbewußten

Damit sind wir schon zum Kern des Problems gelangt. Es scheint mir übereilt, die Frage direkt anzugehen. Besser wird es sein, mit der Deutung des Begriffs Neurose zu beginnen. Wir werden noch sehen, daß dieser Terminus eine prätentiöse Hypothese enthält. Dennoch finde ich es angebracht, den Namen »Neurose« beim Wort zu nehmen, indem man voraussetzt, es handle sich um etwas, das mit Nerven zu tun hat. Mit anderen Worten, ich werde versuchen, mich dem Begriff des Neurotischen von der Biologie her zu nähern.

Ich gehe zunächst von der neurophysiologischen Erfahrung aus, daß viele Reize, die auf uns zukommen, nicht in unser Bewußtsein eindringen, sondern gehemmt und ausgelöscht werden. Die Hemmprozesse sind nicht unserer Kontrolle unterworfen. Durch unbewußte Wahl bilden wir uns eine eigene Welt.

Ein zielgerichtetes Wesen muß in seinem Weltbild auch einen Platz für sich selbst haben. Soll es seine Rolle erfüllen, muß dieses Selbstbild der teils unbewußten Regelung unterliegen. Schaut man es aus einer solchen, eigentlich systemtheoretischen Perspektive an, verliert das Unbewußte einen Großteil seines einst so betont arkanen, mysteriösen, unheimlichen Charakters. Es spielt seine Rolle auf sehr unterschiedlichen Ebenen; der Erfolg adaptiver Aktivität hängt von einem gut programmierten und eingespielten Übergang von bewußten zu unbewußten Zuständen ab.

Neurose als die Allergie der Persönlichkeit

Nun kann das Nervensystem, ähnlich wie z.B. das Immunsystem, falsch programmiert sein. Das falsche Programmiertsein, sozusagen die Allergie der Persönlichkeit, nennt man Neurose. Sie ist meist charakterisiert durch eine unangemessene, über das Ziel hinausschießende Abwehr der Person. Der jetzt beinahe ein Jahrhundert alte Begriff spiegelt die Hoffnung seiner Paten wider, daß Ort und Art des Programmierens in materiellen Einzelheiten durchschaubar gemacht werden könne. Dies ist jedoch immer noch nicht der Fall. Der Terminus Neurose drückt also nicht ein Wissen aus, sondern ein bislang noch nicht durch geführtes Forschungsprogramm. Ein möglicherweise passenderer Name wäre »Personose«.

Das Programmieren, das man auch als unbewußtes Lernen auffassen kann, wird problematisch, wenn sich die Person vor mehrere, gegenseitig unversöhnliche Aufgaben gestellt fühlt. Das Verhalten wird nicht mehr harmonisch geregelt, es kommt zu exzessiv widersprüchlichen, kontraproduktiven Gewohnheiten. Vor allem können persönliche Probleme als organische Krankheiten auftreten. Diese sind jedoch nur scheinbar organisch, da die betreffenden Organe (Herz, Darm) keine pathologischen Veränderungen aufweisen. Dieser Bereich der klassischen Neurosen wird auch in der medizinischen Statistik erfaßt.

Der neurotische Charakter — zu, gegen oder weg von anderen

Eine andere, sehr breite Gruppe von Symptomen betrifft das abnorme soziale Verhalten, das als »neurotischer Charakter« bezeichnet wird. K. Horney hat eine einprägsame Systematik des neurotischen Charakters vorgeschlagen, indem er darunter ein Verhalten verstanden wissen will, das zu anderen tendiert, gegen die andern sich richtet oder weg von ihnen will. Im ersten Fall handelt es sich um Personen, die sich um die Hilfe anderer bemühen, sozusagen an ihnen parasitieren. In der zweiten Gruppe dominiert Aggressivität, die als überschießende Abwehrhaltung die eigene Unsicherheit maskiert. In der dritten ist Isolation von der Welt und Rückzug in die Sphäre der Phantasie — meist über die eigene Überlegenheit und moralische Vollkommenheit — charakteristisch. Horney betont, daß reine Typen selten zu finden sind und in der Regel Kombinationen auftreten. So durchläuft eine Person mit neurotischem Charakter Perioden ungestümer Aktivität, verwickelt sich in grandiose Pläne, um bald wieder aufzugeben und in Depression zu versinken.

Konfliktreiche Inhalte können unbewußt umgearbeitet und umgedeutet werden. So kann übergroße Sorge — z.B. für die Kinder — einen tiefliegenden Kinderhaß maskieren. In anderen Fällen maskiert sich der innere Konflikt als Selbsthaß. Angesichts der Aufgabe des Unbewußten, das Selbstvertrauen zu wahren, ist der Selbsthaß paradoxal. Wenn wir aber bedenken, daß das Selbstvertrauen an Kriterien gebunden ist, die aus der sozialen Umgebung herrühren, so wird verständlich, daß der Selbsthaß aus Liebe zu einem besseren Ich mehr Selbstvertrauen geben kann als eine bewußte Tolerierung des Unannehmbaren in sich.

Linke und Grüne demonstrieren gegen die deutsche Wiedervereinigung (in der Mitte Jutta Ditfurth)

Mörderische Phantasien und entflammter Selbsthaß

Eine neurotische Person kann sich selbst kritisch beurteilen, aber im Moment der Entscheidung kann sie sich von zwangsartigen, kompulsiven Gesten, Äußerungen oder nur Gedanken nicht zurückhalten. Sie kann z.B. das Selbstlob nicht einstellen, wenn es den anderen lästig ist. Es gibt kompulsiven Fleiß, kompulsive Reinlichkeit und kompulsives Pflichtbewußtsein. Kompulsive Gedanken können sich auf andere Personen richten; man wird z.B. von der Idee verfolgt, jemanden umbringen zu müssen. Für die Betroffenen ist es oft charakteristisch, daß sie im Moment, wo sie mit der Person ihrer mörderischen Phantasien konfrontiert werden, zu einem freundlichen, ja unterwürfigen Verhalten umschwenken, wodurch wieder der Selbsthaß entflammt werden kann.

Neurotischer Selbsthaß und kompulsive Gesten: Angela Merkel wirft angewidert die Deutschlandfahne weg.

Neurosen der geschlossenen Gruppe

Als neurotische Störungen wurden von Anfang an solche verstanden, die ihren Ursprung in Konflikten mit anderen Menschen haben, besonders mit solchen, denen eine besondere Bedeutung zukommt, z.B. mit Eltern und anderen Autoritäten. Schon in den bisherigen Beispielen tritt das deutlich hervor. Nichts wäre normaler als zu erwarten, daß die Theorie der Neurose etwas über politisch bedingte Störungen zu sagen hätte. In dieser Hinsicht gibt es indessen keine Einigkeit.

Eine große Anzahl von Studien, die sich mit benachteiligten sozialen Gruppen befassen — mit Minoritäten, die sich in Rasse, Sprache oder Glauben von der Majorität unterscheiden —, ist psychoanalytisch orientiert. Begriffe wie »Unterdrückungsneurose« werden hier gebraucht. Einige bekannte Autoritäten wenden sich aber entschieden gegen den Begriff der Neurose einer geschlossenen Gruppe, z.B. eines Volkes. Für sie ist jede solche Vorstellung unlogisch. In einer seiner frühen Schriften hebt E. Fromm zwei Gründe hervor. Erstens könne man von einer Volksneurose deshalb nicht reden, weil die Neurose auf ein Nervensystem begrenzt ist; die Volksseele sei nur eine Metapher. Zweitens könne es eine Volksneurose nicht geben, weil der Begriff der Neurose sich auf Ausnahmefälle beziehe. Der Neurotiker sei nicht wie die anderen, und sein Leiden komme daher, daß er nicht wie die anderen sein könne. Der Mensch der Masse könne kein Neurotiker sein, eben weil er sich in der Masse von den anderen nicht unterscheide. Die Masse schütze ihn vor der Neurose.

Der Volkswille als Sphäre verklärtester Rationalität oder die Ablehnung des Nationalen sub specie neurosis

Beide Begründungen sind meines Erachtens höchst trivial. Natürlich gibt es kein Volksgehirn, und natürlich ist jede Rede von einer Volksneurose metaphorisch. Metaphorisch ist aber auch der Terminus Neurose selbst, wie ich gezeigt habe. Auch der Begriff der Neurose als Krankheit ist metaphorisch, und letztendlich trifft das für die ganze wissenschaftliche Terminologie zu. Weiterhin ist das Volkshirn-Argument auch deshalb unannehmbar, weil es auch andere, längst akzeptierte politische Metaphern ausschließt, z.B. den Volkswillen.

Auf den Beweis, daß sich die Volksneurose im Grunde genommen nicht von einer Einzelneurose unterscheidet, kommt es hier nicht an. Wir haben es hier mit Analogien zu tun. Die Frage ist nicht, wie exakt die Analogie ist, sondern wie nützlich sie ist, wie heuristisch fruchtbar: Führt sie uns zu neuen Einsichten oder nicht? Die Ablehnung der Betrachtung des Nationalen su b specie neurosis mag rigoros sein, verführt aber zu dem belustigenden Gedanken, das Unbewußte und Irrationale sei auf das Individuum begrenzt, während alles, was das Volksleben betrifft, zu einer Sphäre verklärtester Rationalität gehöre. Indem der Blick auf des Nervensystem des Einzelnen fixiert wird, entsteht der irreführende Eindruck, als könne Volksneurose nur bedeuten, daß es in einem Volk im Durchschnitt mehr Neurotiker gibt als in einem anderen — oder sogar, daß alle Neurotiker sind. In der Tat wurde diese Idee als Argument gegen die Volksneurose benutzt, und man berief sich auf die statistischen Daten über die Frequenz der Neurotiker in Ländern mit verschiedenen politischen Systemen. Dabei zeigte sich, daß unter oppressiven Regimen diese Frequenz nicht signifikant anders war als unter liberalen. Da jedoch verschiedene neurotische Phänomene verschieden statistisch erfaßt werden, entbehrt das Argument jeder Grundlage. Schwerwiegender ist die Frage nach der Beziehung zwischen Psychologie und Soziologie.

Versuche, tiefenpsychologische Einsichten in die Soziologie einzuführen, gibt es seit langem. Die meisten sind jedoch auf Ablehnung seitens kritischer Soziologen gestoßen. Was diese an den psychoanalytischen Vorstellungen vermißten, war die Idee der gesellschaftlichen Struktur. Die den Psychoanalytikern vorgeworfene Trivialität ist eigentlich die eben erwähnte. Bildhaft kann man sich den Vorwurf anhand eines Modells klarmachen, in welchem die Gesellschaft mit einer Gasmischung in einem Gefäß verglichen wird. Die soziologische Objektion läuft darauf hinaus, daß Individuen in der Gesellschaft sich nicht wie Gasmoleküle verhalten, daß sie nicht selbständig herumschwirren und miteinander kollidieren, sondern daß es koordinierte Bewegungen von Gruppen gibt, so als wären gewisse Moleküle mit Fädchen miteinander verbunden.

Sicherlich gibt es psychoanalytische Studien, bei denen die gesellschaftliche Struktur außer acht gelassen wird und die trotzdem von hohem soziologischen Interesse sind, z.B. H. Lasswells Studien über klassische Neurosen berühmter Politiker oder G. Almonds Studien über die privaten neurotischen Grundlagen revolutionärer Wirksamkeit. Die Entwicklung eines Volkes kann jedoch nicht aufgrund solcher Studien rekonstruiert werden; dazu sind sie zu einseitig. Dieselbe Kritik trifft auch auf einige Beiträge in dem erwähnten Buch »Die deutsche Neurose« zu. Hofstätter beispielsweise basiert die Entscheidung darüber, ob die Deutschen neurotisch sind oder nicht, auf Ergebnissen von Meinungsumfragen, in denen einzelne, zufällig ausgewählte Bürger sich darüber äußern, ob sie mit sich zufrieden sind oder nicht.

Fromms Vorstellung über die schützende Wirkung der Masse beruht auf der Annahme, daß ein Volk von Neurose geschützt ist, wenn seine Mitglieder als einzelne den Schutz der Masse genießen. Ein Nationalist identifiziert sich aber nicht mit den Leuten, denen er begegnet, sondern mit einem Volksideal. Die Leiden dieses (allegorisch erlebten) Ideals macht er sich zu eigen, seinetwegen fühlt er sich beleidigt und verletzt. Schutzbedürftig ist nicht er, der sich restlos aufopfernde Kämpfer, sondern das Volk. In der Tat ist es sogar häufig so, daß die Masse für den Nationalisten als Anti-Vorbild dient; sie ist für ihn idealentleert, verführt und verkommen. Den Schutz solch einer Masse weist er ab. Und doch ist sie für ihn von Nutzen, und zwar durch das Selbstvertrauen, das er aus dem Bewußtsein seiner Überlegenheit schöpft. Ob damit dem Volk geholfen wird, ist eine andere Frage.

Kulturkampf, Eros und Gewissen

Mit dem Strukturdenken werden somit gesellschaftliche psychoanalytische Fragestellungen nicht aufgehoben; eher werden sie unendlich vervielfacht. Ein ganzes Feld möglicher Fragepermutationen, das bisher in der Beurteilung der deutschen Neurose fast keine Rolle gespielt hat, ist z.B. mit der Wirkung der Kultur verbunden. Schon Sigmund Freud hat sich ausführlich über die Kopplung Kultur-Neurose geäußert. Kultur zu haben bedeutet jedoch nicht nur die Fähigkeit, zugunsten der gesellschaftlichen Ordnung auf die Instinktbefriedigung zu verzichten, wie er sich das vorgestellt hat. Der damit verbundenen Ansicht der Kultur als höchster gemeinschaftlicher Tätigkeit, der vom Eros beschützten Versöhnung zwischen den Völkern, steht der Kulturkampf gegenüber, der Kampf eines Volkes um die Anerkennung des Wertes seiner Kultur, und zwar nicht nur auf internationaler, sondern auch auf innervolklicher Ebene. Entscheidend ist dabei die Einstellung zu einer relevanten fremden Kultur. Sie kann als eine kranke, minderwertige abgewiesen werden, kann aber auch — verschiedenartig adaptiert, maskiert und uminterpretiert — angenommen werden. Sie braucht dabei nicht in gleichem Maße von dem ganzen Volk getragen zu werden, sondern kann sich auf bestimmte Gruppen, Klassen, Kasten und Professionen beschränken und wird damit zu einer Frage der Struktur. Dabei werden Konflikte unvermeidlich.

Freud spricht von der »Gewissensangst«, die durch Nichtbefolgung der Idealforderungen der Kultur entstehen können. Nun ist das Gewissen gleichermaßen im Spiel, wenn das Fallenlassen alter Werte bei der Übernahme fremder Kulturwerte zur Versuchung wird.

Eine andere Angst kann dadurch entstehen, daß man den richtigen Moment zu verpassen befürchtet, noch rechtzeitig in eine attraktive Kultur einzusteigen. Die Vehemenz dieses Kulturkampfes zeigt, daß diese Ängste nicht leichtzunehmen sind.

Ein mögliches Kriterium dafür, ob es erlaubt ist, aufgrund solcher Konflikte von neurotischen Störungen zu sprechen, wäre der Frage zu entnehmen, ob die erreichten Gewinne die Verluste übersteigen, d.h. ob die übernommene Kultur oder eine gewisse Politik für ein Volk vorteilhaft war oder nicht. Demnach wäre es nicht ausreichend, einen Konflikt zwischen verschiedenen Tendenzen festzustellen, um von Neurotischem zu sprechen, mögen diese Konflikte auch noch so scharf sein. Die entscheidende Frage ist immer die nach den langfristigen Wirkungen. Da die Beurteilung des politischen Wirkens weit mehr Zeit verlangt als die Beurteilung des Verhaltens einer Person, ist es grundsätzlich nicht erlaubt, irgendeine zeitgenössische Bewegung, Aktion oder Strategie als neurotisch zu bezeichnen. Aus diesen, nicht aus den bisher genannten Gründen (»Schutz der Masse«, »ein Hirn — eine Neurose«) ist es erforderlich, mit Vorsicht und Zurückhaltung von politischen Neurosen zu reden und sich höchstens auf Aussagen über Phänomene zu begrenzen, die man als dem neurotischen Verhalten analog bezeichnen kann.

Zwei Seelen in einer Brust

Entsprechend den komplizierten Beziehungen in einer Gesellschaft, muß auch die Analogie mit dem neurotischen Verhalten einzelner komplex sein. Ich versuche, vier Ebenen, Stufen oder Aspekte zu unterscheiden.

Auf der ersten Stufe steht das Verhalten von Individuen, das als für ein Volk charakteristisch angesehen wird. Völlig im Einklang mit der bitter-geistreichen Bemerkung Goethes, Nationalcharakter sei nichts als eine Summe nationaler Beschränktheiten, gehören hierher Verhaltensweisen, die aus gewisser Entfernung betrachtet unzweckmäßig und irrational erscheinen mögen, wie z.B. die Art des Waschens von Vorhängen bei den deutschen Hausfrauen in nicht allzu ferner Vergangenheit.

Die eigentliche Analogie treffen wir erst auf der zweiten Stufe. Die zunächst ins Auge fallenden Phänomene sind euphorische oder depressive Ausschweifungen, die in einem Volk länger andauern und häufiger von einem zum anderen Extrem pendeln als bei einem vergleichbaren. Das dem neurotischen Ähnliche ist nicht einfach die Summe des Verhaltens einzelner, sondern die gegenseitige Verstärkung durch Informationsübertragung, Propagandamaschinen, Bindungen und Loyalitäten, also durch lauter strukturrelevante Faktoren.

Auf der dritten Stufe der Analogie wird das ganze Volk als eine Superperson betrachtet, wobei einzelne Gebiete, Parteien, Institutionen und Organisationen als antagonistische Tendenzen repräsentierend betrachtet werden. Wenn die inneren Konflikte die Gemeinschaft zerrütten, kann man sie als den wechselnden Neigungen eines Neurotikers analog betrachten, der durch sie innerlich zerrissen und handlungsunfähig wird. So wie unvereinbare »zwei Seelen in einer Brust«, wie zwei getrennte Personen zueinander stehen, so kann es zu inneren Teilungen in einem Volk kommen, wo die Parteien das Gemeinsame nicht mehr erkennen.

Die vierte Stufe bezieht sich auf das Neurotische als ein historisch entstandenes Gebilde. So wie das irrationale und kontraproduktive Verhalten meist aus traumatischen Ereignissen in der Kindheit eines Erwachsenen herrühren, so kann man ein eigentümliches Volksverhalten aus der Geschichte ableiten. So wie bei einzelnen, kann es auch bei Völkern kritische Phasen der Entwicklung geben. So wie Auseinandersetzungen mit Autoritäten das Reifen des einzelnen bestimmen, können kulturgebende Autoritäten ein Volk beeinflussen. Es ist zu erwarten, daß Kulturkonflikte am schärfsten bei rasch eintretenden Kontakten zwischen Völkern zum Ausdruck kommen, etwa bei Völkerwanderungen, Eroberungen oder Kolonisierungsvorgängen.

Bei Individuen dauert der neurotischen Zustand wenigstens so lange an, bis die Konflikte behoben sind. Innervolkliche Konflikte lassen dauerhafte Spuren: Der einmal erworbene neurotische Charakter verpflanzt sich von Generation zu Generation, weil sich inzwischen seine Manifestationen mit den Kulturformen vermischt haben und als Kulturgut konserviert werden.

Mit diesen Instrumenten in der Hand, können wir jetzt den deutschen Charakter abklopfen. Aussagen über den Charakter eines Volkes sind zwar in den modernen Sozialwissenschaften nicht beliebt. Die Angst, die Charakterisierten politisch zu bevor- oder benachteiligen, ist aber unbegründet, wenn Aussagen von perzeptiven Persönlichkeiten aus verschiedenen Kreisen und Ländern verglichen werden. Der Band »Was ist typisch deutsch?«, besonders Kaltenbrunners einleitender Essay, überwindet die genannten Schwierigkeiten und garantiert einen unparteiischen Einblick schon damit, daß er eine Zusammenfassung von Zusammenfassungen ist. Der Konsensus unter den Aussagen über die Deutschen ist hoch. Man ist sich darüber einig, daß im deutschen Charakter starke Kontraste und Schwankungen zwischen Extremen anzutreffen sind: Gutmütigkeit und Kampfgeist, Unbeholfenheit und technische Perfektion, furor teutonicus und Servilität, faustischer Drang ins jenseitig Unendliche und spießbürgerliches Behagen, Titanismus und Weltfremdheit, Drang zum Absoluten und ewiger Protestantismus, Anfälligkeit für alles Radikale und merkwürdige Politikferne, Biegsamkeit aus Bewunderung für andere und trotziger Eigensinn, innere Zerrissenheit und Sinn für Harmonie, das intensive Sich-selbst-Suchen und das Von-sich-Wegfliehen, Todessucht und zugleich der Glaube an die eigene unendliche Verbesserlichkeit.

Huttens Grab von Caspar David Friedrich, 1823 – faustischer Drang ins jenseitig Unendliche

Was wir vor uns haben, ist das Bild eines modernen — oder doch relativ modernen — Deutschen. Schauen wir nun einmal in die Berichte aus ferner Vergangenheit, auf die ersten authentischen Berichte über die Germanen. In den Texten von Caesar und besonders von Tacitus hören wir von einem fröhlichen Volk, freundlich und offen, mit einem hochentwickelten Ehrbegriff, in Ehe einander verbunden und treu. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, unsere beiden Autoren seien germanophil gewesen. Aus ihren Berichten hören wir auch manches über die germanische Kampfweise. Von einer Kadaverdisziplin ist hier keine Rede. Man kämpft spontan, unorganisiert, immer mit Ausblick auf mögliche persönliche Heldentaten. Autoritäre Unterwürfigkeit ist mit solch einem Charakter nicht zu vereinbaren.

Was bedeuten die Kontraste zwischen den modernen und den antiken Charakterisierungen? Wenn wir nicht allzu mißtrauisch sein wollen, sagen sie uns, daß es in der Zwischenzeit zu einer radikalen Änderung im deutschen Charakter gekommen sein muß. Wann und wodurch ist sie eingetreten?

Versuchen wir uns vorzustellen, wie Europa am Ende des vierten Jahrhunderts aus der Perspektive der Germanen aussah. Die römische Verteidigung, ohnehin zum Teil schon in germanischen Händen, ist zusammengebrochen. Nach dem Sieg der Goten über die Byzantiner bei Adrianopolis im Jahre 378 kann sich der westliche Teil des Imperiums nicht mehr halten, Franken und Alemannen dringen in großen Massen auf römisches Territorium ein. Sie sind Sieger, und man würde erwarten, daß sie jetzt die Organisation des Staates übernehmen würden. Sie übernehmen auch einige militärische Funktionen, werden zu »magistri mili-tum«, z.B. Stilicho; die zivilen Institutionen tasten sie aber nicht an. Sie verstehen den komplizierten Staatssapparat nicht, in dem Spuren der römischen Republik sich mit bürokratischen Funktionen des späten Kaiserreichs vermischen. Die Germanen sind nicht für das Leben in einem Imperium programmiert — und an ihm auch nicht interessiert. Sie möchten nur Land zugeteilt haben und nach eigenem Brauch weiterleben. Das aber ist in einem Imperium unmöglich. Byzanz intrigiert und stiftet Fehden zwischen den unerfahrenen Stammesfürsten, die oft den Verlockungen des süßen Lebens in der Zivilisation nachgeben.

Die Romanisierung der Germanen

Dazu wurden die Germanen von allen Seiten mit kulturellen Neuheiten überflutet. Vor allem war da die überwältigende Architektur. Es war einfach unvorstellbar, daß normale menschliche Hände so etwas vollbringen konnten, und noch verblüffender war es für sie, daß von irgendwelchen Titanen keine Spur war. Die kleingewachsenen römischen Bürger flößten keinen Respekt ein. Die Vulgarität ihrer Massenunterhaltung in Theatern und Amphitheatern war jedoch beeindruckend; etwas Vergleichbares konnten die Germanen nicht bieten. Die Vermutung muß somit nahegelegen haben, daß irgendwelche übernatürlichen Kräfte den Römern Dienste leisteten. Die sichtbare Größe der Produkte der zivilisierten Kultur verband sich so mit der Aufnahmebereitschaft für den dieser Kultur scheinbar zugrunde liegenden Glauben. Dabei war dieser Glaube der Zivilisation eigentlich entfemdet, ja entgegengerichtet. Von den inneren Widersprüchen des späten Imperiums konnten aber die Germanen nichts ahnen; für sie waren die Christen wie die Gladiatoren, Legionsoffiziere wie Quästoren nur Vertreter des einen römischen Volkes, bis gestern des einen Feindes.

So kam es, daß die Germanen in allen romanischen Gebieten romanisiert wurden und sich in den Gebieten jenseits der imperialen Grenzen aus den römischen Städten die Zivilisation der Besiegten verbreitete. Vor allem wurde sie durch die christliche Mission gefördert. Schon während des alten Kaiserreichs, schon vor Konstantin ist die Kirche zu einem geistig, aber auch finanziell mächtigen Faktor geworden. Im frühen Mittelalter werden die geistlichen Fürsten überall zu Lehnsträgern. Das gesamte Schulsystem ist in ihren Händen. Die Erziehung, die dort angeboten wird, ist in den deutschen Ländern keine deutsche, sondern eine lateinische. Die deutschen Sieger konnten offensichtlich aus ihrer militärischen Überlegenheit keinen Vorteil für sich ziehen. Das Reich wurde nicht zu einem Deutschen Reich, statt dessen wurden die seitens der Legionen nie betretenen Gebiete zu Teilen des Römischen Reiches ernannt. Eine neue Aristokratie entstand, die mit dem Volk wenig gemein haben wollte. Der deutsche Bauer, der ehemals tollkühne Kämpfer, wurde geknechtet.

Bonifatius fällt die Donareiche. Farblithographie nach einem Gemälde von Heinrich Maria von Hess 1834/44

Alles Deutsche war mit dem Barbarischen verbunden

Die neue soziale Strukturierung unter den soeben christlich gewordenen Deutschen war somit eine Folge des Kultureinflusses. Es war eine Frage des kulturellen Prestiges der deutschen Fürsten, die lateinische, christliche Kultur auf Kosten der germanischen zu verbreiten. Wenn diese Verbreitung nicht auf politische Grenzen stieß — wie im Fall des Konfliktes zwischen den Franken und den Sachsen zur Zeit Karls des Großen —, stieß die kulturreligiöse Mission auf keinen organisierten Widerstand. Das zeigt, daß in den Augen der deutschen Elite die lateinische Kultur als die einzig ernst zu nehmende dastand; es führte kein Weg an ihr vorbei. Die Folge war, daß alles Deutsche mit dem Barbarischen verbunden wurde.

Nun stellt sich die Frage, was es überhaupt bedeutet, ein Barbar zu sein. Der Ausdruck bezieht sich zunächst auf die Sprache. Die Griechen bezeichneten mit »brrr brrr« das für sie unverständlichen Sprechen ihrer Nachbarn. Verachtung der fremden Kultur beginnt mit der Geringschätzung der Sprache. Zeitgenössische germanische Versuche, in gleicher Art zu erwidern und die Sklaverei, den Grundstein des römischen Kulturerfolges, als Zeichen des Barbarentums zu deuten, waren den Germanen fremd. Sie taten, was »Barbaren« schon immer zu tun versuchten: die Kultur zu meiden oder sich diese womöglich schmerzlos anzueignen. Städte haben schon immer durch das Versprechen eines leichten Lebens die umgebende Bevölkerung an sich gezogen. Was aber einmalig war für die Kultur, die sich mit dem Vehikel des Christentums den Weg bahnte, war die Verbindung zwischen dem Komplex der Kultursuperiorität und der Verbreitung von Schuldgefühlen. Diese hatten einen völlig anderen Ursprung als die Festspiele und Theaterveranstaltungen. Für die auf eine andere Welt orientierten frühen Christen kam es einer Schuld gleich, schon überhaupt auf dieser Welt das Leben genießen zu wollen. Auf die Germanen angewandt, wurde das Leben auf germanische Art zur Schuld. Kultiviert sein bedeutete jetzt, solche Schuldgefühle zu hegen. Mit anderen Worten, Selbsthaß wurde zur Kulturtugend erhoben.

Das Schimpfwort »Barbar«, auf die Germanen gerichtet, fand aber mit der Zeit auch andere Anwendungen. Wann immer die politische Macht der jetzt längst christianisierten Deutschen im Aufschwung begriffen war, wann immer dies in romanischen Ländern als Bedrohung empfunden wurde, ist man mit dieser Wortwaffe ausgerückt. Heinrich I., Otto dem Großen (der übrigens die christliche Hierokratie systematisch ausbaute), Friedrich Barbarossa und mehreren anderen deutschen Herrschern hat man Barbarentum vorgeworfen. Die Tatsache, daß einige von ihnen Römische Kaiser waren, konnte ihnen dabei nicht helfen.

Die deutsche Unfähigkeit, sich zweideutig auszudrücken, ein Mangel an »subtilitas«

Das Epitheton »barbarisch« wurde auch in anderen Varianten angewandt. Man sprach so von einem Mangel an »subtilitas«, der für die Deutschen charakteristisch sei, von einer Unfähigkeit, sich geistreich, d.h. zweideutig auszudrücken. Man behauptete, die Deutschen seien unfähig, sogar diesen Tadel richtig zu verstehen, unter »subtilitas« verstünden sie »List« und meinten, man solle sich vor ihr in acht nehmen. Daß dies durchaus nicht immer der Fall war, zeigen literarische Werke wie der oft erwähnte (aber nicht in diesem Sinne gedeutete) »Ludus de Antichristo«. Es handelt sich um ein mittelalterliches Theaterspiel, das Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden sein soll. Um die Weltherrschaft zu erlangen, schickt in dem Stück Antichrist Heuchler zum Frankenkönig, die diesen mit Schmeicheleien zur Unterwerfung bewegen. Zum Kampf die Deutschen herauszufordern, sollte man nicht versuchen, denn »Es ragt der Deutschen Kraft hervor durch Waffentaten«. Die Heuchler wollen den König mit Geschenken besänftigen. Der Plan mißlingt aber, es kommt zum Krieg, und der Antichrist unterliegt. Im weiteren Verlauf der Handlung unterwirft sich der deutsche König aber doch dem Antichrist. Was bewegt ihn dazu? Die falschen Wundertaten, die der Antichrist präsentiert — die Heilung eines Lahmen, die Genesung eines Aussätzigen, die Erweckung eines Toten — beeindrucken den König so sehr, daß er gesteht: »Ach, durch unser Ungestüm kommen wir zu Schaden, daß wir streitend wider Gott Torheit auf uns laden.«

Stereotype Selbstbeschuldigungen, deutscher Selbsthaß und die Schuld des »Ungestüms«

Man braucht nicht viel Scharfsinn, um zu sehen: Der Antichrist, das sind eben die christlichen Missionare, die durch »subtilitas« das Land dem christlichen Kulturterror, dem »iugum Christi« unterwerfen. Die stereotypen Selbstbeschuldigungen der Deutschen sind im Spiel auch schon als fest eingewurzelt zu finden. Die Schuld des »Ungestüms«, die bis heute anhält, wird schon hier erwähnt.

Ähnliche Zweideutigkeiten wie im »Ludus de Antichristo« findet man auch in manchen Erzählungen der Sammlung »Gesta Romanorum«, z.B. in jener, in der die Genealogie des Papstes Gregor VII. auf eine Blutschändung zurückgeführt wird.

Auch der deutsche Antisemitismus ist zum Teil ein Ausdruck des unterdrückten Hasses gegen die unbegrenzte Autorität des Pantokrators Christus, den die elementarsten Kenntnisse der Bibel als Juden erkennen lassen. Andererseits ist der Jude als Händler der Importeur römischer Kulturgüter. Unter dem Volk wird er dadurch zum zwielichtigen Vertreter der Stadt, und nur an den Höfen wird er zum »Hofjuden«. Der deutsche Judenhaß hat offensichtlich auch subtilere Komponenten …

Die etablierte Macht des römischen Christentums und seiner Kultur ließ sich nicht abwerfen. Mit ihrem Aufstieg wuchs auch der deutsche Selbsthaß. Niemand hat ihn deutlicher ausgedrückt als der für die Werte des Kulturkampfes empfindliche Thomas Mann. In seinem »Doktor Faustus« sagt er von Kaiser Otto III.: »Als er im Jahre 1002 nach seiner Vertreibung aus dem geliebten Rom in Kummer gestorben war, wurden seine Reste nach Deutschland gebracht und im Dom von Kaiseraschern beigesetzt — sehr gegen seinen Geschmack, denn er war das Musterbeispiel deutscher Selbst-Antipathie und hatte sein Leben lang schamvoll unter seinem Deutschtum gelitten.« Was würde Thomas Mann erst zum Entschluß Ludwigs des Frommen gesagt haben, der die große Sammlung deutscher Folklore, die Karl der Große anfertigen ließ, als Teufelswerk verbrennen ließ?

Die Ambition, ein Römisches Reich wiederaufzubauen, übertraf die Kräfte der deutschen Kaiser; die Aufgabe war unerreichbar hoch angesetzt. Daraus sind die Folgen zu rekonstruieren: Die deutsche Ambition, den Römern ebenbürtig zu werden, mußte eine andauernde Unzufriedenheit mit sich selbst erzeugen. Das ideale Über-Ich lag außerhalb des Volkes, die Bedingung einer positiven Selbstschätzung wurde an die unerfüllbare Aufgabe gebunden, die als heilig angesehene fremde Identität sich anzueignen.

Überkompensationen, auf denen die deutschen Erfolge beruhen

Die Tiefenpsychologie weiß, daß neurotische Systeme entstehen, wenn sich die Person der großen Aufgaben nicht gewachsen fühlt, und daß unter solchen Bedingungen das Verhalten irrational werden kann. Die Irrationalität zeigt sich in der übertriebenen Hartnäckigkeit, mit der die Ziele verfolgt werden, in der brutalen und vernichtenden Selbstkritik, in der gespannten Konzentration auf sich selbst, in der Bereitschaft, das »Übel« in sich auszurotten. Schonungsloser Fleiß und Pflichtbewußtsein gehören dazu; sie bilden aber auch Überkompensationen, auf denen die deutschen Erfolge beruhen.

Die ursprüngliche, jetzt als »barbarisch« bezeichnete Persönlichkeit der Deutschen mußte sich jedoch unbewußt gegen die Ideale der zivilisierten Vollkommenheit sträuben und sich früher oder später mit Wucht gegen die ihr unnatürlichen Ziele wenden. Die innere Wende vollzog sich und errang einen symbolhaften Charakter in der Person Martin Luthers. Sie fand Resonanz bei einem Bürgertum, das sich selbst zu schätzen begann. Der bleibende Gewinn der Reformation war der Wiedererwerb der Würde für die deutsche Kultur, vor allem für die Sprache. Sie wurde befugt, den Verkehr mit der höchsten Autorität, mit Gott, zu vermitteln. Die Reform zündete aber auch die zerstörerische Wut des Bauerntums an. Am Ende kam es zum selbstzerstörerischen Dreißigjährigen Krieg. Einen solchen kann man nur führen, wenn die gemeinsame Identität verloren geht, wenn die eine Seite die andere als dehumanisiert ansieht. Eine Identität hatte es jedoch im Heiligen Reich kaum je gegeben, es gab deshalb auch keine politischen Kräfte, die die innere Spaltung überwinden könnten. Ganz anders war es in Frankreich, wo die Gefahr der Zersplitterung in einer Nacht gelöst wurde. Alle Projektionen, die bei einem Volk für den Fremden, für den feindlichen Nachbarn reserviert bleiben, wurden bei den Deutschen gegen einen Teil von sich selbst gerichtet.

Aus Konzentration auf sich selbst, im Rückzug zur Innerlichkeit, vergaßen die deutschen Protestanten, an eine politische Form zu denken, die ihrer anfänglichen Rehabilitation der deutschen Kultur entsprechen würde: Sie versöhnten sich mit dem Heiligen Römischen Reich, das nach dem großen Krieg noch anderthalb Jahrhunderte dauerte. Zu seinem Ende kam es nicht durch einen deutschen, sondern durch einen französischen Imperiumsbauer — den Katholiken Napoleon. Die Ideale eines echten Römertums waren durch die Reformation eher auf- als abgewertet. Die Last des Beweises, daß Gott auf ihrer Seite stand, lag ja bei den Protestanten. Sie waren es, die durch Ernst und Redlichkeit sich selbst und der katholischen Welt beweisen mußten, daß sie die katholischen Tugenden nicht über Bord geworfen haben. Die unterbewußt als sündhaft empfundene Abwendung von Rom verlangte ihren Preis: Man mußte ständig Beweise zur Hand haben, daß die Reform nicht einen Rückfall in die Barbarei bedeutete. Damit erlegten sich die Deutschen neue Belastungen auf. Die Spontaneität, die ihnen schon früher weitgehend versagt war, sank noch tiefer. Und die Spannung zwischen sündhafter Spontaneität, die immer rebellischere Formen annahm, und verstärkter Selbstdisziplin nahm krasse Formen an.

Reichsparteitag 1934: starre Disziplin, dem „Ungestüm“ freier Lauf gelassen und alle Zivilisationsbedenken über den Haufen geworfen

Im Dritten Reich alle Zivilisationsbedenken über den Haufen geworfen

Ein Volk, das sich keine Spontaneität erlauben kann, muß auch politisch gehemmt sein. Eine nach innen, ins eigene Gewissen schauende Elite kann die Ereignisse in der Welt nicht richtig einschätzen. Eine solche, die sich selbst nicht ausstehen kann und vor sich selbst flieht, kann die Zukunft nicht planen. Sie unterschätzt sich selbst; wenn aber die anderen zupacken und die schönen Dinge der Welt für sich sichern, empört sie sich. Auf diesem Weg kann die starre Über-Ich-Kontrolle durchbrochen werden, die eigene Unterschätzung in eine euphorische Selbstüberschätzung und geschmackloses Eigenlob umkippen. Mit dem Dritten Reich brach solch eine Zeit an. Sie war zugleich von einer starren Disziplin wie von einem gespielt spontanen, überspannten Ethnozentrismus charakterisiert, in dem alle Zivilisationsbedenken über den Haufen geworfen wurden und dem »Ungestüm« freien Lauf gelassen wurde. Nach dem Krieg wurde »gerade für uns Deutschen« das Wiedererlernen von allgemein menschlichen und zivilisatorischen Werten zur höchsten Aufgabe.

Der »deutsche Vater« als traumatisierende Autorität oder der ewige römische Komplex der Deutschen

Nach alldem, was hier gesagt wurde, würde man erwarten, daß in der psychologischen Literatur das Thema des römischen Komplexes der Deutschen eine allgemeine Akzeptanz genießt. Anders als in der theologischen, literaturkritischen und historischen Literatur ist jedoch hier die Frage des römischen Einflusses übersehen worden. Bei den älteren Autoren — Bonner, Brickner, Lewin, Schaffer — scheint der Akzent auf zwangsneurotischer Pflicht zu liegen. Diwald und die anderen Autoren des Sammelbands »Die deutsche Neurose« finden traumatische Einflüsse in den zwei Weltkriegen, besonders in der Kriminalisierung der Deutschen als Kriegsverursacher. Auch Adornos Blick bleibt auf die Gegenwart und die vorausgehenden Jahrzehnte gerichtet. Für ihn wie für Fromm spielt der »deutsche Vater« die Rolle der traumatisierenden Autorität. Woher der deutsche Vater kommt, das sagt aber keiner dieser Autoren. Der Versuch, im Vater den Abglanz des in lingua mortua sprechenden Gottes, des »ewig Anderen« (de Benoist) zu sehen, wurde nicht unternommen. Die Erkenntnis, daß in einer Zeit, wo Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg von der ganzen Welt abgeriegelt war, wo kein Handel das Land belebte, ein deutscher Vater seinen einzigen Schutz suchen und deshalb auch sein Vorbild nur im lokalen Fürsten finden konnte, wurde erst vom amerikanischen Historiker Craig gewonnen. Von einer marxistisch orientierten Frankfurter Schule würde man eher Analysen der materiellen Bedingungen der Autoritätsgebundenheit der Deutschen — z.B. des Verfalls der Weizenpreise — erwarten. A. Mitscherlich, ebenfalls ein Vertreter der Frankfurter Schule, erwähnt das Heilige Römische Reich in »Die Unfähigkeit zu trauern« nur einmal, und im gleichen Atemzug ironisiert er das »typisch deutsche« Streben nach überirdischen, illusionären Idealen. Daß mit diesem Streben das Problem nicht gelöst, sondern erst eröffnet wird, scheint er nicht bemerkt zu haben. Mitscherlich spricht oft von »kulturspezifischem« deutschen Verhalten; um welche Kultur es sich aber handelt, was an ihr spezifisch ist und wie das Spezifische entstanden ist, darüber äußert er sich nicht. Der aus dem uralten Ringen rührende Kulturkonflikt, all die gekünstelten ideologischen Stützen und Gegenstützen reduzieren sich bei ihm auf etwas Naturgegebenes, biologisch-Primitives, auf den elementar-aggressiven Instinkt. Freuds Idee, mit der Einsicht in die Ursachen des Leidens des Patienten diesem den Mut zukommen zu lassen, der ihm das Loswerden seiner fehlgerichteten Abwehrmanöver ermöglichen soll, diese Idee wird bei Mitscherlich politisch moduliert: Er sieht sich gezwungen zu verhindern, daß die während des Dritten Reiches politisch engagierten Deutschen eine Entlastung für ihr Gewissen finden. Eine eingehende Kausalanalyse muß hier unerwünscht bleiben, weil sie als Entschuldigung mißbraucht werden könnte.

Man kann mit dieser eigentümlichen Dialektik von Theorie und Praxis fortsetzen. Frau Margarete Mitscherlich-Nielssen hat sich vor einigen Jahren mit Aussagen zum Problem der deutschen Bevölkerungsabnahme hervorgetan, »wenn die Deutschen« — so sagte sie ungefähr — »sich nichts Besseres einfallen lassen als zu viel zu essen, zu rasen und Geld zu verdienen, dann sollen sie auch von der Erde verschwinden.« Ich frage mich, ob sie dieselbe Sprache mit ihren Privatpatienten benutzt. Eine revolutionäre Wende in die Praxis der Psychotherapie hat sie damit keineswegs eingeleitet: Die Überzeugung, der beste Weg, den Patienten zu heilen, sei, ihn zu beleidigen, zu beschuldigen und in die Erde zu stampfen, diese Lehre hat der autoritäre romverbundene Vater seinen deutschen Kindern schon vor mehr als einem Jahrtausend beigebracht.

A. Paul Weber, Rückgrat raus, 1951/1960

Chauvinisten, Linke, Grüne — strukturelle und inhaltliche Ähnlichkeiten

Mit den Einstellungen, die wir bei den Mitscherlichs finden, stimmen am ehesten die der Grünen und der deutschen Nationalisten überein. Es ist typisch für eine Reihe von ihnen, daß sie die Probleme der modernen Zivilisation — rücksichtslose Ausbeutung der Natur, sinkende Fähigkeit, mit Kindern umzugehen, wachsende Kriminalität u.a. — ausschließlich auf ihre Heimat begrenzt sehen. Sie machen dafür die Machthabenden verantwortlich, sprechen ihnen jedes Verantwortungsbewußtsein ab und nennen sie feige. Einmal habe ich, ohne zu fragen, eine aufrichtige Aussage über die Gründe erhalten: »Damit ich morgens beim Rasieren mir selbst nicht sagen muß: Du bist ein Feigling!«

Oberflächlich gesehen, ist darin nicht mehr als ein Verdonnern der politischen Lage zu finden: Alles in Deutschland ist abnormal, deprimierend, entwürdigend, unausstehlich. Mehr von innen gesehen, bedeutet es: »Was ich um mich sehe, kann ich beim besten Willen nicht meine Heimat nennen. Mit Leuten, die das akzeptieren, kann ich nichts gemeinsam haben.« In diesem Sinne ist es, daß mein vor dem Spiegel stehender Freund und Frau Mitscherlich einander ähneln. Beide ziehen zum Krieg für den idealen, beide beschimpfen den realen Deutschen. Noch einen dritten muß man ihnen zugesellen: denjenigen, der an einem Frühlingstag vor 75 Jahren gesagt hat: »Wenn das deutsche Volk nicht bereit ist, sich bis zum letzten Mann für den Sieg zu opfern, dann hat es gezeigt, daß es seines Führers nicht würdig ist.« Dieser Satz, strukturell wie inhaltlich jenem von Frau Mitscherlich sehr ähnlich, ist der stärkste Ausdruck dessen, was die erwähnten Beobachter mit der »Politikfremde« der Deutschen bezeichnen.

Der Schwund der eigenen Substanz als Tugend

Sind solche Aussagen kriminell? Ich möchte es nicht behaupten. Sie sagen mir nur, daß die Betreffenden über den Zustand ihres Volks unglücklich sind und daß sie unbewußt von der Angst verfolgt werden, für diesen Zustand persönlich verantwortlich zu sein. Diese Angst ist den Tiefenpsychologen nicht unbekannt: Viele Kinder fühlen sich, äußerlich völlig grundlos, z.B. für den Tod der Mutter verantwortlich. Die Last ist so groß, daß auch irrationale Mittel willkommen sind, um sie loszuwerden. »An mir kann die Schuld nicht liegen« — sagt sich so einer — »ich bin ja ständig dabei, für das Gute zu kämpfen.«

Sind solche Aussagen neurotisch? Ich glaube, es hat sich gezeigt, daß der Vergleich mit dem neurotischen Verhalten fruchtbar war. Auf eine direkte Antwort kommt es nicht an, weil es auf die Terminologie nicht ankommt. Es ist aber nie normal gewesen und es kann nicht normal sein, daß die Vordenker eines Volkes den Schwund der eigenen Substanz als Tugend und Vorbild für andere erklären. Und das sage ich nicht als Deutscher, sondern als Beobachter, als Ausländer.

Prof. Dr. Hrvoje Lorković

Prof. Dr. Hrvoje Lorković, Jahrgang 1930, Dr. rer.nat. Universität Zagreb, gebürtiger Kroate mit US-Staatsbürgerschaft, research scientist, war Privatdozent für Physiologie an der Universität Ulm. Wichtige Veröffentlichungen: »Karakteristika« — Studie, Roman, Chronik (Hills/Iowa, 1973)und Hrvoje Lorkovic / Antun Pinterovic / Mladen Schwartz, »Das kroatische Trauma. Kulturpsychologisches über ein Volk am Rande der Vernichtung« (Verlag Bublies), Professor Lorković verstarb am 11. Mai 2018.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der wir selbst-Ausgabe 2/1990.

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Finanzkapitalismus: der neoliberale Extremismus

von Klaus Kunze

Finanzkapitalismus: der neoliberale Extremismus

Warum unsere bürgerlichen Freiheiten bedroht sind und wer sie bedroht

Heute [1] um­gibt den Liberalismusbegriff ein von Kueh­nelt-Leddihn so be­zeich­ne­tes „semantisches Chaos sonder­glei­chen.“ Ganz unter­schied­liche hi­storische Strö­mungen haben libe­ra­les Gedankengut auf­ge­nommen und ver­stellen den Blick auf den ge­dank­­li­chen Kern der li­be­ralen Metaphysik: „der Präliberalismus eines Adam Smith, noch be­vor das Wort im politi­schen Sinne aufgetaucht war; der Frühli­be­ra­lismus, der ka­tholisch und aristokra­tisch war (Tocqueville, Mon­ta­lem­bert, Acton); der wirtschaftlich stark inter­es­sierte Altlibera­lismus (Cob­den, Mill, Mises, Hayek), der einem politi­schen Relati­vismus zu­neig­te und manchmal auch deistische Züge aufwies; der Neu­li­be­ra­lis­mus (Röpke, Rüstow, Briefs, Villey), der sich sehr wohl des Früh­libe­ra­­lismus erinnerte und sich besonders im deut­schen Raum entfal­te­te, wo er auch für das Wirt­schaftswunder pri­mär ver­antwort­lich war und schließlich ein Pseu­doliberalismus, der ameri­ka­ni­sche Wur­zeln be­sitzt und zu­neh­mend auch in Europa sein Unwesen treibt.“ [2] Als „Pseudo-“ be­zeich­net Kuehnelt-Leddihn, was sich heute in den USA unter “liberal” tum­melt, weil er als ari­stokratischer Früh­libe­raler mit den scheußlichen Links­­li­beralen noch nicht einmal den Sammelnamen ge­mein haben möchte.

Gerade im Zeitalter des bürgerlichen Liberalismus waren viele unter ande­rem auch ein bißchen liberal, oder sie waren liberal, aber nur auf ei­nem iso­lierten Gebiet wie dem der Ökonomie. Hier gilt es den Kern der Ge­mein­sam­kei­ten zu erkennen, der den philo­so­phi­schen Liberalismus ei­gentlich aus­macht. Nur diesen ideal­typi­schen, zu Ende gedachten Libera­lismus meinen wir. In den liberalen Ideenkreis ge­hören alle An­schau­un­gen, die allein aus proze­duralen Form­prinzipien so etwas wie Wahrheit, Gemein­wohl oder Ge­rechtigkeit schöpfen möchten. Die li­berale Or­tho­doxie läßt nach Juan Dono­so Cortés [3] Bon­mot die Ge­sell­schaften sich selbst regie­ren durch Ver­nunft, die auf ei­ne all­ge­meine Weise den Fi­nanz­starken anver­traut ist und auf eine be­son­dere Weise den In­tel­lek­tuel­len, wel­che diese un­terrichten und lei­ten. Diese ver­künden kraft des Dogmas von der Ba­lance, daß die Wahrheit aus dem ewigen Ge­spräch und daß die politi­sche Ordnung aus dem Chaos der ge­sell­schaft­­li­chen Kräfte ex ni­hi­lo her­vorgeht, so wie die unge­zügelten Ein­zel­­interes­sen das Ge­mein­wohl er­zeu­gen.

Den welt­an­schaulichen Kern dieses Libera­lismus bildet der Glaube, aus der frei­en Aktivität aller Kräfte und Gegenkräfte entstehe von selbst im all­ge­meinen jede Art von Harmo­nie, in der Diskussion die voll­kommene Wahr­heit und im Gesell­schaft­li­chen das Ge­meinwohl. [4] Dieser Glaube grün­det sich auf die teleologische Vorstellung ei­ner Hetero­gonie der Zwecke. Hier besagt er, „eine un­sichtbare Hand ver­wandle das Chaos der an sich eigen­nützigen oder kurzsichtigen Handlungen der Einzelnen in ein har­moni­sches Gleichgewicht.“ [5] „Den Kern der neoliberalen Ideologie bildet also eine Markttheologie,“ [6] an die man glauben soll.

Wem nützt Liberalismus?

Der Liberalismus ist das um­fassende me­ta­phy­si­sche Rechtfertigungssystem der in den west­li­chen Län­dern herrschenden Personen und Gruppen. [7] Seit den 1970er Jahren hat diese Ideologie in Deutschland als Neoliberalismus einen Siegeszug angetreten. Dabei blieben die unsere Gesellschaft traditionell stützenden Institutionen weitgehend auf der Strecke: Privatisiert wurden die Post, die Bahn, die Wohnungen des früheren sozialen Wohnungsbaus und andere Errungenschaften der Daseinsvorsorge. Dabei leugnete der Neoliberalismus seine Existenz als „ideologisches Umgestaltungsprojekt aller gesellschaftlichen Verhältnisse“ und gab sich als „rationale und vernünftige Anerkennung der Naturgesetzlichkeiten des freien Marktes“ aus, womit es ihm gelang, sich als Ideologie nahezu unsichtbar zu machen.“ [8]

Unser Staat und unsere demokratischen Mitwirkungsrechte sind bereits vielfach durchlöchert und ausgehöhlt. Über die Hundesteuer dürfen wir noch selbst entscheiden. Die großen, die Wirtschaft und die Kapitalflüsse regelnden Entscheidungen wurden nach Brüssel verlagert. Dem neoliberalen Projekt „ging es darum […], Nationalstaaten – unter ideologischen Schlagworten wie Globalisierung, Flexibilisierung und Deregulierung – so umzubauen, daß dadurch geeignete institutionelle Rahmenbedingungen für einen globalen Konzern- und Finanzkapitalismus geschaffen werden und zugleich der globale Kapitalismus gegen jede Form demokratischer Bedrohungen geschützt wird.“ [9]

Unser derzeitiger Par­teien­staa­t und seine liberale Herrschafts­ideo­logie, die­­nen letzt­lich der Auf­recht­er­hal­tung eines be­stimm­ten Sta­tus quo, in dem sich fakti­sche Macht­po­si­tionen nor­ma­tiv aus­prägen [10] und sta­bili­sieren. Das ist leider nicht die Macht der Bürger. Die Staatsbürger wurden vielfach „demobilisiert“ und zu „passiven Konsumenten“ herabgestuft. [11]  Sie sind der Macht unterworfen, die ih­ren öko­nomi­schen Vor­teil aus einer Wirt­­­schafts­verfassung zie­hen, [12] in der ein freies Spiel der Kräfte wei­test­­­mög­lich ist. Für sie hat sich die Be­zeichnung Ka­­pita­lismus ein­ge­bür­­­gert. Er ist die dem politischen Liberalismus entsprechende Wirtschaftsform. Ihre Gesetzmäßig­keiten füh­ren inner­staat­lich und inter­natio­nal zu analogen Wirkungen: Freie Geld­wirt­schaft be­­gün­stigt den öko­no­misch Star­­ken dadurch ent­schei­dend, daß er alle an­­de­ren als öko­no­mische Kräfte wirksam aus dem Kreis der all­ge­mein ak­zeptierten Spiel­regeln aus­schließt. Der öko­­­no­misch Schwa­­che soll sich nicht mehr mit anderen als öko­no­mi­schen Mit­­teln weh­­ren dür­fen: vor allem nicht mit Gewalt.


Gier, Hass und Verblendung: Hieronymus Bosch (1450 – 1516): Heuwagen, Triptychon, Mitteltafel: Der Heuwagen, um 1500
De wereld is een hooiberg – elk plikt ervan, wat hij kan krijgen
  = „Die Welt ist ein Heuhaufen, ein jeder pflückt davon, soviel er kann“

Die Utopie der Wahrheit kraft Diskussion

Eine ideo­lo­gische Fik­­tion dient da­zu, ihm die­sen Ver­zicht schmack­haft zu ma­chen: Die Uto­­pie der an­geblichen go­vern­ment by dis­cus­sion, der Re­gie­rung der aus der Dis­­kussion ge­bo­re­nen Ver­nunft selbst. Diese war schon in der Früh­zeit des Li­be­ra­lis­mus bloße Idee, die „so zwar der Ideo­logie des libe­ra­len Ho­n­ora­tio­ren­­regi­mes, nicht je­doch dessen Pra­­xis hi­sto­risch ent­sprach. Denn auch zu einer Zeit, als der Par­la­men­­ta­rismus noch … auf weitrei­chend ho­mogener, so­zial pri­vile­gier­ter Basis be­ruh­­te, ging es um hand­­feste Ei­gen­in­ter­es­sen, war »go­vern­­ment by dis­cus­sion« die Ideo­lo­gie, »government by cor­rup­tion« je­­doch sehr häu­fig die Wirk­lich­­keit.“ [13] Um ihre finan­zielle Über­­le­gen­heit voll aus­spie­len zu kön­nen, muß­ten theo­retisch alle ent­ge­­gen­ste­hen­­den Wert­vor­stel­­lun­gen aus­­ge­schal­tet und nur die harm­lo­se Dis­kus­sion übrig ge­las­sen wer­den.

Zur Disposition mußten konsequenterweise also alle diejenigen ei­gentli­chen Wert­inhalte gestellt werden, die sich nicht im formellen freien Kräfte­spiel von selbst einstel­len. Doch welche Ideen schützen den Liberalismus noch vor seiner ei­genen Abschaf­fung, wenn sich zum Beispiel der Respekt vor dem Pri­vateigen­tum des anderen eines Tages einmal nicht aus der frei­en Dis­kus­sion ergibt? Ratlos seufzt Ha­bermas: „In mo­dernen Wirt­schafts­ge­sell­schaf­ten spitzt sich dieses all­gemeine Pro­blem in besonderer Weise zu auf die nor­ma­tive Einbin­dung der aus traditioneller Sittlichkeit entlasse­nen stra­tegi­schen In­ter­aktio­nen.“ [14] Offiziell erklärt sich der Li­beralismus für unzu­stän­dig, eine gei­stige und morali­sche Ordnung herzustellen. [15] Das Problem ist auf allei­ni­ger Grund­lage der liberalen Vor­stel­lung ei­ner Ord­nung nicht zu lö­sen, die sich an­geblich von selbst ein­stellt, wenn sie die „aus der tra­di­tio­nel­len Sittlich­keit entlasse­nen“ in­ter­na­tio­na­len Fi­nanzstar­ken ma­chen läßt, was sie wollen. Sie kann man al­len­­falls durch eine staat­liche Ord­nung auf Grund­lage von Ord­nungs­­ideen einbinden, deren zen­tra­ler Wert ein an­derer ist als das freie Kräf­te­spiel.

Das normative Mäntelchen

Wem also nützt Liberalismus konkret? „Die liberalen Rechte, die sich, hi­sto­risch gesehen, um die gesell­schaftliche Stellung des privaten Ei­gen­tü­mers kristal­lisiert ha­ben, las­sen sich unter funktionalen Gesichts­­punk­ten als die Institutiona­lisie­rung eines marktge­steu­erten Wirt­­­­­schaftssystems be­grei­fen, während sie unter normativen Ge­sichts­punkten bestimmte pri­vate sub­jektive Freiheiten gewähr­lei­sten.“ [16] Diese nor­­mativen Freiheiten ha­ben aber, wie alle Normen, auch ei­nen funk­tionalen Zweck: Sie sind einerseits den markt­wirt­schaftli­chen Prinzipien zuge­ordnet, anderer­seits besteht ihr mate­rieller Wert­gehalt darin, alle mit dem freien Kapital­markt unver­einba­ren Prin­zi­pi­en zu ver­nich­ten. So hält der normative Kern des bür­ger­lichen Liberalismus letzt­lich eine be­stimm­te Ei­gen­tums­ordnung und eine Chan­cen­verteilung auf­recht: Be­gün­stigt ist beim Er­werb materieller Güter, wer bereits ma­terielle Güter be­sitzt. Die liberale Ethik fordert so viel wirt­schaftli­che Pri­vat­au­to­no­mie wie möglich, und bewahrt gerade noch so viel Staat, wie nötig ist, um das Eigen­tum als sol­ches und das marktgesteuer­te Wirt­schaftssy­stem zu erhalten.

Der normative Kernbestand des Liberalismus läßt sich nur verstehen durch eine Gesetzmäßigkeit, der nicht nur der Liberalismus unterliegt: Ein kom­ple­xes soziales System läßt sich nur aufrecht erhalten, wenn seine funktionalen Vor­aussetzungen normativ aufgeladen werden. So wandelt sich das Geld­ha­ben-Dürfen zum heiligen Recht des Kapitalisten, und alle konkurrierenden Wert­­prinzipien wurden zu Unwer­ten. „Reichtum wünscht sich moralisch zu nobilitieren.“ [17] Auf der anderen Seite des wirt­schaft­li­chen Zyklus mußte dem Verbraucher ein ebenso hei­liges Recht zugesprochen wer­den: Es dient funktional dazu, die Voraus­set­zungen der massenhaft pro­du­zie­renden Industriegesellschaft zu sichern. Inhalt­lich tritt es als Werthaltung auf, indem es den Begriff der Men­schenwürde uminter­pretierte: Mit ihm verbin­det sich jetzt die Vorstellung egalitärer Teilhabe am Mas­sen­konsum als Vor­aussetzung sogenannter Selbstverwirklichung. Die Menschen­rechte sind also „entgegen dem teleo­logischen Geschichts­ver­ständ­nis der Demokra­ten kei­ne endgül­tige geistige und ethische Errungen­schaft nach langen Jahrhun­der­ten der Unterdrückung und der Finsternis, sondern“ stellen „im Grunde die Funk­ti­ons- und Über­lebens­weise der Massen­demokratie dar“ und sind mit ihr „auf Ge­deih und Verderb verbun­den.“ [18]

Die liberale Ethik des Parteienstaats dürfen wir als die Ethik der­je­ni­­gen be­grei­fen, die unter den konkreten Bedingungen des Par­tei­en­staa­tes wirt­schaft­liche und sonstige Vorteile genießen, weil sie Par­tei­un­gen angehö­ren, die un­ter einem löche­rig geworde­nen staatli­chen Dach ihre Schäfchen ins Trockene bringen. Sie setzen ihr spezi­fisches Recht eigennützig so, daß es sie und ihren weiteren Machter­halt be­gün­stigt. Die Geldmacht ist an­gewie­sen auf ein Sy­stem, das funk­tio­nal alle nicht ökonomischen Machtmittel ausschaltet, indem es sie in ih­rem materiellen Wertge­halt ne­giert und tabui­siert. „Weil das Recht auf diese Weise mit dem Geld und ad­ministrativer Macht eben­so ver­zahnt ist wie mit Solidarität, verarbei­tet es in seinen Inte­grati­ons­lei­stun­gen Imperative verschiedener Her­kunft.“ [19] Das Recht ist in ei­nem politischen System, das den Regeln der Theo­rie der kommuni­ka­ti­ven Ver­nunft folgt, aus demjenigen Grund mit Geld und ad­mi­ni­stra­ti­ver Macht verzahnt, weil es das Geld und die admini­strative Macht kraft seiner eigenen Spielregeln zu den aus­schlaggeben­den, letztlich al­leinige Gel­tung bean­spru­chenden Regeln erhebt. Dem­ge­gen­über ist die von Habermas be­schwo­rene Solidarität als weiterer Impe­rativ eine pure Fik­tion in ei­nem Gesell­schafts­sy­stem, welches die Prämie auf ego­i­sti­sches und nicht auf solidari­sches Han­deln setzt.

Die liberale Theorie befaßt sich eingehend mit dem Problem der Herr­­schaft: „Wer soll re­gie­ren?“ Sie will innergesell­schaftli­che Kon­flik­­te regu­lie­ren und die Ge­sell­schaft trotz aller Ge­gen­sätze zusam­men­­­hal­ten, weil sie das ganz einfach für „vernünftig“ hält. [20] Weiter reicht ihr Ehrgeiz nicht. Der Li­be­ra­lismus stellt eine Theorie zur Mi­ni­mie­rung staat­li­cher Funk­tionen dar. Natür­lich gibt es ordo­libera­le Wirtschaftswissen­schaftler und Manager wie den von Kom­mu­ni­sten er­mordeten Alfred Herrhausen, die Marktwirtschaft und Ge­mein­­wohl­­be­zug mitein­ander verbin­den. Es gab auch Ludwig Erhard, der den li­be­ralen Gedanken der freien Marktwirt­schaft mit dem So­zial­­staat ver­­söh­nen wollte und die soziale Marktwirt­schaft erfand. Män­­ner dieses Schla­­ges sind unideologische Pragmati­ker. Weit entfernt vom liber­tären Fun­da­mentalismus benutz­ten sie auch li­berale Prin­zi­pien, verabsolutierten sie aber nicht.

Der neoliberale Extremismus

Wie jede Idee muß aber auch die liberale darauf geprüft werden, wohin ih­re ab­so­lute Dominanz über andere Prinzipien führt. Man kann sie wie je­de Idee ideolo­gisch einseitig aus einem Prinzip entwickeln: dem der Har­monie, die sich von un­sichtbarer Hand aus dem Nichts einstellt. Dieses idealtypische Bild eines normati­ven Libe­ra­lis­mus muß in gedanklicher Klar­heit entwickelt wer­­den, um das Walten liberaler Vor­stel­lungen zu er­hellen und auf­zuzeigen, wo­hin sie gedanklich konse­quent füh­ren. So kön­nen wir den libertären „Nur-Li­bera­len“ skizzieren: Sein Wer­te­ge­rüst ist denk­bar mager. „Laß doch jeden ma­­chen, was er will!“, lau­tet sein Motto. Eine Ge­sellschaft der Wölfe schreckt ihn nicht. Für über­indivi­duelle und nicht ma­teriell ver­­stan­de­ne Sinn­fra­gen ist er voll­stän­­dig blind, und zwar ganz be­wußt. [21] Ge­gen ei­ne mul­ti­kul­­tu­relle Ge­sell­­­schaft aus Mu­selma­nen, Chri­sten, Pornographen und Sa­tans­an­be­tern hätte der Libera­le keine prin­­zi­piel­len Ein­wände, solange ihm nie­mand aus religiösen Grün­­den das Geldver­die­nen verbie­ten wür­de. 

Der Neoliberalismus wünscht sich einen Staat, der den Kapitaleignern gegenüber schwach, aber auf der anderen Seite so stark ist, daß er die finanziell nicht so begünstigte Mehrheit der Bevölkerung wirksam davon abhalten kann, auf dumme Gedanken zu kommen. Er zielt „auf die Schaffung eines gewährenden schwachen Staates für Reiche und Konzerne und zugleich auf die Schaffung eines starken disziplinierenden Staats für die Bevölkerung.“ [22] Ein disziplinierender Staat ist zum Beispiel einer, der seine Bürger mit Gefängnisstrafe wegen Volksverhetzung bedroht, wenn sie zu heftig ihren Unmut über Zuwanderer ausdrücken, auf die Wirtschaft, Industrie und Kapitaleigner zur Aufrechterhaltung des Bruttosozialprodukts und ihrer Zuwachsraten doch angewiesen sind.

„Der französische Sozialanthropologe Loic Wacquant bezeichnet den neoliberalen Staat daher als Centaurenstaat, ein ‘liberaler Kopf auf einem autoritären Körper’. [23] Die ‘unsichtbare Hand’ des Marktes für unsichere Arbeitsverhältnisse findet ihre institutionelle Entsprechung in der ‘eisernen Hand’ des Staates, der bereitsteht, die Unruhen, die aus der zunehmenden Verbreitung sozialer Unsicherheit resultieren, unter Kontrolle zu halten.'“ [24] Während die hier zitierten linken Autoren bei diesen Feststellungen an soziale Unruhen durch mangelnde Verteilungsgerechtigkeit denken, treffen sie auf soziale Unsicherheiten durch unkontrollierte Masseneinwanderung ebenso zu.

Die Angst vor staatlicher „Regulierung“ und einer die Freiheit des Kapitals begrenzenden gesetzlichen Ordnung treibt den Li­be­ralen, nach einem Bilde Carl Schmitts, erst vom Staate weg­­t, während ihn die Angst vor dem So­zia­lismus schnell wie­der ein Stück weit zum Staate hintreibt. „So schwankt er zwi­schen seinen beiden Fein­den und möchte beide betrü­gen.“ [25] Jede demokratische Partizipation des Volkes liegt dem freien Kapitalfluß quer im Magen. Er glaubt daran, verborgene Wirkkräfte des freien Marktes würden wie mit unsichtbarer Hand das Gemeinwohl erzeugen. Wozu dann überhaupt noch demokratisch herbeigeführte Entscheidungen, wenn der Markt das viel besser weiß? „Logischerweise würde ein außer Rand und Band gerate­ner Liberaler ein An­ar­chist, nie aber ein Sozialist wer­den.“ [26]

Gesellschaftliche Bindungen und Pflichten der Menschen gegenüber der Gemein­schaft stören da nur. Man denkt sich dann ein Weltbild aus, das vom sozialen We­sen des Men­schen nicht viel übrig läßt. [27] „Im pervertierten Freiheitsbegriff des Neoliberalismus bezieht sich die ‘Freiheit’ einer Person darauf, daß sie sich den Kräften des ‘freien Marktes’ zu unterwerfen hat, also von allen gesellschaftlichen und sonstigen Banden ‘befreit’ und somit sozial und gesellschaftlich entwurzelt ist.“ [28] Diese Bande sind primär die der eigenen Familie, der weiteren verwandtschaftlichen Sippe, der Heimatregion und der Nation.

Po­tentielle Räu­ber, Plünderer, Ma­fiosi oder Fi­nanzhaie werden sich nicht nach einer effektiven Staatsgewalt seh­nen, die sie in ihrem Eifer nur be­hindern könnte. Ihre Ethik wird eine kri­minelle, anarchi­sche, au­to­no­me oder liberale sein, je­denfalls ei­ne ge­mein­schafts- und tendenziell staats­feind­liche. Wer sich da­gegen durch Räuber etc.pp. oder durch einen äu­ßeren Feind bedroht fühlt, wird seinen Schutz un­ter einem starken Staat suchen und eine dement­spre­chende Gemein­schafts­ideologie bzw. -ethik entwickeln. Der Libe­ra­lis­mus re­duziert den Menschen auf Öko­­nomie und fungiert damit als Herr­schafts­ideologie der öko­no­misch Starken gegenüber den öko­no­misch Schwachen. Sie redet ih­nen ein, das freie Walten rein öko­no­mi­scher Gesetze führe auch zu ih­rem Vor­teil, und diesen Vorteil sieht er aus­schließlich im Geld­ver­die­nen: So bezeich­net Fukuyama ihn ganz rich­tig als dasjenige „Re­gel­sy­stem, in dem das ma­terielle Ei­gen­in­ter­esse und die Anhäufung von Reich­tum als legitim gel­ten.“ [29]

Quentin Massys: Die Wucherer

Mit Volldampf in die One World

Der Liberalismus ist die Ideo­logie des ökonomisch Starken nicht nur im priva­ten und innerstaatlichen, sondern auch im in­ter­­nationalen Maß­stab. Seine End­zeitvision ist der globale Markt in der liberalen One World. „Der Er­werbs­sinn, die Hauptkraft der jetzigen Kultur, po­stu­liert eigentlich schon um des Verkehrs wil­len den Uni­ver­sal­staat.“ [30] Dessen Verfechter Fu­ku­ya­ma, sieht die mensch­liche Ent­­wick­­lung linear mit ei­nem Anfangs- und Endzu­stand geradewegs ins Fi­na­le der reinen Öko­no­mie ab­rol­len. [31] Im un­mit­tel­baren Interesse der öko­­nomisch stärk­­sten Macht liegt es, alle nicht öko­nomisch vor­ge­­tra­ge­nen Angrif­fe da­durch un­möglich zu ma­chen, daß die Öko­no­mie zum allein le­gi­ti­men Aus­tra­gungsort von Kon­flikten erklärt wird. Das ist die klas­si­sche Stra­tegie der USA.

Sie wird allerdings erst funktionieren, sobald alle unliberalen Stö­ren­­frie­­de be­friedet sind. Solange die Gegner des globalen Ka­pi­tal­flus­ses mit ande­ren als öko­nomischen Mitteln kämp­fen, muß die Al­lein­gel­­tung des Öko­no­mi­schen not­falls ge­waltsam her­gestellt werde; zum Bei­­spiel durch einen kleinen, vom CIA inszenierten Umsturz in ir­gend­einer Ba­na­nen­re­pu­blik. Das Freihan­delsprinzip verlangt freien Zugang aller Anbie­ter zu allen Märkten. Es be­günstigt daher die Wirt­schaftsmächte, welche auf­­grund ökonomischer Stärke billiger anbie­ten und die Wirtschaft der ausländischen Kon­kurrenz in den Bankrott trei­ben können. Haben sie auf diese We­ise ein faktisches Mo­nopol er­rungen, können sie im we­sentlichen frei über die Preise verfü­gen. Bei kriegswichtigen oder zi­vil un­ent­behr­lichen Rohstoffen ist das Em­bargo dessen, der über den Rohstoff oder seine Han­delswege verfügt, ein erprobtes Mittel ge­gen ande­re Staaten, die nicht über den Roh­stoff ver­fügen. Unter Gel­tung rein handels­mäßiger Gesetze kann ein Staat so den an­deren rui­nieren oder zur Eröffnung mi­li­tä­rischer Feind­seligkeiten nöti­gen. Die Vor­ge­schich­te des japanischen Angriffs auf Pearl Harbour ist nur ei­nes von vie­len anschauli­chen Beispielen für eine Strategie, mit den schein­bar fried­lichen Mitteln des Wirt­schafts­boy­kotts und der Han­dels­­blockade einen Geg­ner in die Knie oder zum Krieg zu zwingen.

Durchgesetzt hat sich auch im internationalen Wettbewerb erst, wer seine Macht nor­mativ be­gründet und sei­ne Gegner zur Aner­ken­nung der­jenigen Nor­men bewegt, de­ren Geltung die Macht weiter sta­bilisiert. Wo aus­schließ­lich ökonomische Ge­setze ­herrschen, ist mili­tä­­ri­s­che Macht nutz­los; eben­so wie umge­kehrt in einer von mili­tä­ri­schen Gesetzen erfüllten Welt der bloße Händler machtlos ist und wie in ei­ner von göttlichen Gebo­ten erfüll­ten Welt der Ketzer nichts zu mel­­den hat. Das En­de der Geschichte und die Her­auf­kunft einer „fried­lichen“ Han­dels­epoche aus­zuru­fen bedeutet also nichts ande­res, als den Macht­anspruch derjeni­gen kon­kreten Men­schen und Menschen­grup­pen anzumelden, die ihre Stärke und ihren Vorteil in einer Welt­ordnung sehen, die al­lein unter han­delsmäßigen Gesetzen steht. In fort­ge­schrit­teneren Ländern ver­mag man ein anderes als das Händ­ler­ethos schon gar nicht mehr zu denken. An­ders außerhalb der west­li­­­chen Wertschöp­fungsgemein­schaft: Diese eignet sich of­fenbar her­vor­­­ragend dazu, eine Zeit­lang den materiellen Wohl­stand von Indu­strie­staaten zu si­chern. Unter den Gesetzen eines glo­ba­­len Marktes ver­wan­deln sich die Güter aller Nationen in käuf­liche Wa­­ren.

Am Ende verwandelt sich der Mensch selbst zur austauschbaren Ware. Der „neoliberale Anspruch, den Menschen als Ganzes zu einer Ware zu machen und ihn marktförmig zu gestalten und damit gleichsam einen neuen Menschen zu schaffen, kommt einem totalitären Anspruch gleich.“ [32]


[1] Ich publizierte diesen Text 1995 in meinem Buch „Mut zur Freiheit auf S.115-130. Für diese Neupublikation habe ich ihn um historische Rückbezüge gekürzt, aber um neuere Fundstellen mit Zitaten ergänzt.

[2] Kuehnelt-Leddihn, Liberalismus auf amerikanische Art, Criticón 1991,105 f..

[3] Donoso Cortés, Juan, Essay über den Katholizismus, den Liberalis­mus und den Sozia­lis­mus, 1851, Hrg.Günter Maschke, Weinheim 1989.

[4] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage, S.45 ff.

[5] Kondylis, Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Weinheim 1991, S.15 f., 34.

[6] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, 2019, S.78.

[7] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentaris­mus, 1923, 2.=7.Aufl.1926/1991, S.45.

[8] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, 2019, S.73.

[9] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, 2019, S.67.

[10] Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, 3.Aufl.1929, S.337 ff.

[11] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, S.81.

[12] Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, S.66.

[13] Kremendahl, Pluralismustheorie, S.108 unter Berufung auf Karl Loewenstein.

[14] Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, S.23.

[15] Comte, Die Soziologie, S.59, “Die stationäre Lehre”.

[16] Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992., S.104.

[17] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, 2019, S.36.

[18] Kondylis, Der Niedergang., S.209.

[19] Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt 1992, S.59.

[20] Vgl. ebenso bei Dettling, Demokratisierung, S.15.

[21] Ebenso z.B. Joachim Fest, Offene Gesellschaft mit offener Flanke, FAZ 21.10.1992; Ernst Nolte, Die Fragilität des Triumphs, FAZ 3.7.1993.

[22] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, S.72.

[23] Loic Wacquant, Bestrafen der Armen: Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit, 2013, S.63

[24] Loic Wacquant, Armut als Delikt, in: Heinz Bude und A. Willisch (Hrg.), Exklusion. Die Debatte über die Überflüssigen, S.21-224 (214), zitiert nach Rainer Mausfeld, Angst und Macht, S.72.

[25] Carl Schmitt, Politische Theologie, S.77.

[26] Erik von Kuehnelt-Leddihn, Liberalismus auf amerikanische Art, Criticón 1991,105.

[27] Konrad Adam , Die Ohnmacht der Macht, Berlin 1994., S.187.

[28] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, S.84.

[29] Francis Fukuyama, Die Zukunft des Krieges, FAZ-Magazin 16.12.1994, S.16 ff. (17).

[30] Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905, Neudruck, Stuttgart o.J., S.126, 65.

[31] Francis Fukuyama, Der Mensch braucht das Risiko, DER SPIEGEL Nr.15/1992, S.256; ders. Das Ende der Geschichte – Wo stehen wir? 1992.

[32] Rainer Mausfeld, Angst und Macht, S.81.

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

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Johann Gottfried Herder – Das Volk ist der Weg

Johann Gottfried Herder

Das Volk ist der Weg

von Henning Eichberg

„Der geworfene Ball.
Wenn dem guten Menschen ein Leid unschuldig begegnet,
Ist er in Schicksals Hand wie ein geworfener Ball;
Nieder prallt er zu Boden, damit er über sich steige,
Da, wie ein Erdenkloß starrend der Böse zerfällt.“

Als Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) diesen Vers aus den „Gedanken einiger Brahmanen“ übersetzte und neudichtete, markierte er zugleich ein kulturelles und gesellschaftliches Spannungsfeld von epochaler Bedeutung. Am schlichten Bild vom federnden Ball wurde ein Bündel von Widersprüchen sichtbar, aus denen Herders geistige Tat bestand. Es war der Schritt in die (industrielle) Moderne hinein und zugleich die Begründung eines Gegenbildes.

Drei Spannungsfelder

Erstens: Ost und West. Das brahmanische Bild vom guten Menschen als Ball war ein Teil der Entdeckung Indiens, mit der sich am Ausgang des 18. Jahrhunderts der Blick Europas weitete. Die Bedeutung des Sanskrit für die abendländischen Sprachen wurde enthüllt: das „Indoeuropäische“. Ost und West begegneten einander. Und dies nicht nur auf der Ebene hoher Literatur und ferner Reisen: Auf der bloßen Haut gerade der Unterschichten Europas – Seeleute, Plebejer, „Lum­penproletariat“ – erschienen die von den Südseekulturen angeregten Bilder der Tätowierung. Das war eine Revolution in der westlichen Menschengeschichte.

Begegnungen mit dem Fremden: tätowierter Südsee-Krieger

Und doch: der Begriff Begegnung verbirgt etwas anderes, Brutaleres. Zugleich brach in jenen Jahren die industrielle Moderne an mit ihrer kolonialen Gewalt. Sie brachte die völlige Unterwerfung der nichtweißen Welt durch Europa, Genozid und Ethnozid, den Tod ganzer indianischer Völker und die Errichtung des modernen kolonialen Weltsystems. In der asiatischen Weisheitsparabel erzählte Herder – schon vor dem Sichtbarwerden jener mörderischen Konsequenzen – dem kolonialen Europa eine Gegen-Geschichte.

Eine andere Ebene: Volk und Einzelmensch. Herder war es, der den Begriff des Volkes in der europäischen Bewußtseinsgeschichte verankerte und mit neuen Inhalten füllte. Insofern war ihm die Geschichte vom springenden Ball ein Ausdruck der volklichen Weisheit Indiens, zusammen mit anderen brahmanischen Gedanken, aber Seite an Seite mit grönländischem Totenlied und nordischer Göttersage, mit arabischen und hebräischen Dichtungen, mit altenglischen Balladen und altdeutschen Tanzliedern. In der Poesie spricht das Volk als schöpferisches Kollektiv. – Aber wovon spricht es? Es spricht vom Menschen, vom einzelnen Menschen, von seinem Leben und Tod. Die Parabel erzählt vom guten Menschen, der in Unschuld federnd über sich hinausspringt, und von der Starrheit, die aufprallt und zerschellt, unfähig sich zu verändern.

Das Volk, die kollektive Existenz des Menschen in seiner Vergesellschaftung, ist also nicht außerhalb – oder gar oberhalb – des Menschen. Volk und Einzelmensch hängen zusammen. Die Moderne wird sie trennen, in Gesellschaft und Individuum. Sie wird die Soziologie neben die Psychologie stellen, als wären sie nicht eines. Sie wird die Einzelmenschen reglementieren, einsperren, im Extremfall in Konzentrationslagern konzentrieren, damit dem Kollektiv Staat Genüge getan wird. Wieder ist Herders indische Geschichte ein Widerspruch, die Subversion der industriellen Moderne noch vor ihrem Erscheinen.

Eine dritte Ebene: das Besondere und das Universelle. Herder gilt als der Vater des modernen Nationalismus. Indem er „das Volk“ als lebendige Kraft in der Geschichte sichtbar machte, bildlich in seinen Erzählungen, hörbar in seinen Liedern, erhielt das „nationale Erwachen“ der Völker Stoff und Farbe und Klang. Besonders die slawischen Völker Osteuropas erkannten sich in dem Bild wieder, das Herder aus ihrer Literatur und Geschichte entworfen hatte.

Volkstrachten in Litauen um 1870 – nationales Erwachen der Völker im Osten Europas

Der Nationalismus wurde aber nicht nur ein kulturschöpferisches, sondern auch ein blutiges Unternehmen. Im Osteuropa unserer Tage sehen wir Zeichen davon, aber auch in jenem Indien, das das Bild vom federnden und über sich selbst hinaussteigenden Ball hervorbrachte. Darum ist es angebracht – vielleicht heute angebrachter denn je –, den spannungsvollen Zusammenhang wahrzunehmen, den Herder zwischen dem Volklich-Nationalen und dem Universellen sah bzw. stiftete, zwischen dem Speziellen und dem Allgemeinen. Wieder macht der Ball es sichtbar.

Wir können den Ball nur auf eine spezielle Art spielen, nach Regeln unserer konkreten Übereinkunft, entweder als (britischen) Fußballsport oder als (irisches, antibritisches) Hurling, als (bretonisches) Soule oder als (malaiisches) Sepak raga, als (indianisches) Hüftballspiel oder als Badminton, als Tennissport oder als (indianisches) Lacrosse. Das allgemeine Ballspiel können wir nicht spielen; es ist eine Abstraktion. Aber der Ball ist zugleich universell. Was nicht bedeutet, daß es ihn in allen Kulturen gegeben habe, keineswegs. Aber: Wirf ihn einem Menschen welcher Kultur auch immer, aus welchem Regelsystem auch immer, zu, und er wird damit ein Spiel beginnen können.

So gesehen, ist da kein Widerspruch zwischen dem Speziellen und dem Allgemeinen, zwischen dem Allgemeinmenschlichen und dem Unterschied. Sie hängen zusammen. Provozierend gesagt: im Herderschen Sinne sind Nationalismus („das ist mein Spiel“) und das Universelle („dies ist ein Ball“) eine Sache. Keine nationale Besonderheit ohne ein Allgemeines, keine Universalität ohne Nationalismus. Ihr Widerspruch mit allen seinen blutigen Konsequenzen war und ist gesellschaftlich produziert, ein Produkt der industriellen Moderne. Herder, einer ihrer Gründerväter, sang ihr zugleich ein Gegen-Lied vor.

Solche vielfältigen Spannungen – Ost versus West, Volk versus Individuum, das Besondere versus das Universelle – sollten Grund genug sein, sich Herder, dieser merkwürdigen Gestalt an den Anfängen der Moderne, wieder und mit neuen Fragen zuzuwenden. Sind es die Fragen einer (Post- oder besser:) Transmoderne, die wir über zwei Jahrhunderte industrieller Moderne zu ihm zurücksenden? Oder ist vielmehr mit den osteuropäischen Revolutionen seit 1989, mit dem neuen na­tionalen Erwachen, der Nationalismus der frühen Moderne re-aktualisiert? Oder erhält jene subversive Unterströmung der Moderne eine neue Bedeutung: das Volk als Gegenbild (zum Staat)? Wovon Herder sprach: das Volkliche als alternativer Reichtum?

Ein Leben in Widersprüchen

Wer war dieser Johann Gottfried Herder? Sein äußerer Lebenslauf, wie ihn die deutsche Literaturgeschichte überliefert, wirkt eher dürr und einlinig und steht damit im Gegensatz zur Bedeutung und zur farbigen Widersprüchlichkeit des kultur­ philosophischen Schriftstellers Herder. Geboren wurde er 1744 in Ostpreußen als Sohn eines pietistischen Kantors und Volksschullehrers. Er studierte Medizin, Theologie und Philosophie an der Universität Königsberg, wo Immanuel Kant und Johann Georg Hamann stark auf ihn wirkten. Ab 1764 arbeitete er als Lehrer an der Domschule Riga und bald auch als Prediger am selben Ort. 1769 gab er diese Ämter auf, da seine ersten Schriftstellereien ihm Autorenruhm und Streit gebracht hatten. Eine Reise nach Frankreich brachte ihm die Wendung von der Aufklärung zum Sturm und Drang. Ab 1771 wirkte er als lippischer Hofprediger und Konsistorialrat in Bückeburg, wo er heiratete und Superintendent wurde. Auf Goethes Veranlassung wechselte er 1776 als Hofprediger, Oberkonsistorialrat und Generalsuperintendent nach Weimar. 1788/89 reist er noch einmal nach Italien. 1802 wurde er geadelt. Im Alter krank, mißverstanden, verbittert und vereinsamt, starb er im Jahre 1803.

Der recht lineare Gang dieses äußeren Lebens – die Biographie eines Pädagogen und Theologen – fügte sich also in das Bild jener Bildungsklasse, die die politische und kulturelle Revolution von 1770/1820 so stark geprägt hat: weder bür­ gerlich (im Sinne ökonomischer Bourgeoisie), noch adlig, noch zur Unterschicht gehörig. Mit der neuen Bildungsklasse teilte er auch deren Widersprüche: Revolutionsbegeisterung angesichts der Französischen Revolution 1789, aber Be­ mühung um den persönlichen Adel 1801. Hinzukamen die widersprüchlichen Schwingungen mit den geistesgeschichtlichen Strömungen. Herder begann als Aufklärer (und legte den aufklärerischen Impuls auch nie ab), wurde dann ein maßgeblicher Auslöser des Sturm und Drang, wandte sich aber zuletzt auch Gedanken der Klassik zu; zudem gilt er als Wegbereiter der Romantik, der er jedoch selbst nie zugehörte.

Seine Hauptbedeutung bekam Herder als Schriftsteller des Sturm und Drang, dieses Aufstands der Jungen gegen die Alten, des Gefühls und der Wildheit gegen die Scheinlogik des aufklärerisch-mathematischen und mechanistischen Weltbilds, Revolte der „Freiheit“ gegen die Macht im Absolutismus. „Zurück zu den Quellen“ – rief Herder, parallel zu Jean Jacques Rousseau in Frankreich. Denn in den Quellen liege die „Natur“, das „Originale“, das „Genie“ der Völker. Herder war es, der den jungen Goethe auf das Volkslied stieß. Ossian, Edda, Shakespeare, Homer – die „Wildheit“ der Alten stellte er gegen die neue Künstlichkeit der bürgerlich­adelig-akademischen Kultur. Leben und Werden statt kristalliner Form. Rührung und Empfindung statt der geometrischen Ordnung im Weltbild des Absolutismus. Vielfalt der Völker und Kulturen – was wesentlich ist, ist immer unübersetzbar (und dennoch ist jede Übersetzung den Versuch wert).

Theobald von Oer: Der Weimarer Musenhof. Ölgemälde, 1860. Friedrich Schiller deklamiert im Tiefurter Park. Unter den Zuhörern zweite Person ganz links (sitzend mit Blick zu Schiller) Herder, in der Bildmitte (sitzend mit Kappe) Wieland und rechts (stehend) Goethe.

Das konnte nur in Widersprüche führen. Und darum war Herders geistige Begriffswelt ein passender Überbau über dem, was er in Sprache und Stil ausdrückte: ständige Bewegung und Widersprüche allerorten, wilde Exklamation und ange­ strengtes Philosophieren, unsteter Wechsel und schroffer Zusammenprall, Kampf mit und gegen Kant, mit und gegen Goethe, christliche Theologie und neuheidnische, germanische Glaubenshoffnungen, innere Erregung und Launenhaftigkeit, – keine Ordnung nirgendwo. Kurz: Herder dachte als Chaot.

Und das mag nun auch zurückführen zu seiner Biographie, aber seiner „anderen“ (von der die Literaturlexika eher schweigen). Das ärmliche Elternhaus im ostpreußischen Dorf, aus dem eher ein glücklicher Zufall denn eine lineare Leistungskarriere hinaus in die akademische Bildungslandschaft führte. Die Ohnmacht beim anatomischen Leichenzerschneiden, die ihn zum medizinischen Beruf untauglich machte. Das Ausweichen vor dem preußischen Militärdienst. Riga als Begegnung mit der Vielfalt baltischer Völkerwelt – Letten, Juden, Deutsche, Russen … – eine Art Balkanisierung des geordneten Bewußtseins. Das Reisen in Frankreich und im Elsaß als eine erneut verwirrende und andere Begegnung mit dem Volklichen …

Also doch ein „Wirrkopf“? In der Tat, so konnten oder mußten ihn die Spätaufklärer seiner Zeit sehen, ebenso wie die Spät-Spätaufklärer unserer Tage. Und ein gefährlicher Wirrkopf obendrein: War er doch ein Ausgangspunkt für die „satanische deutsche Romantik“ (Hans Heigert 1967) und für jene „schwarze Linie“, die sich durch die Neuzeit ziehe und die den einen Gott, die eine Zivilisation, den einen Fortschritt nicht anerkennen wolle (Alain Finkielkraut 1987). Aber da­mit ist schon mehr gesagt als nur das Abfällige über den wirren Dichter. Die Widersprüchlichkeiten hatte Herder ja mit anderen gemeinsam: mit Hamann und Rousseau, mit dem „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn und dem Begründer der dänischen Folkehajskole N.F.S. Grundtvig, mit dem Glücksspieler Fjodor Dostojewskij und dem Berufsrevolutionäre Michail Bakunin. Und obendrein knüpften diese letzteren direkt oder indirekt an Herders subversiven Volksbegriff an. Und nach ihnen die russische Narodniki (narod – Volk) und die deutsche Jugendbewegung, die amerikanisch-englische Woodcraft-Bewegung (Woodcraft Folk) und die Ethnopsychoanalyse, die ungarischen „Populisten“ und die afrikanische Negritude …

Turnvater Jahn: beeinflußt von Herders subversivem Volksbegriff

Es stellt sich also eine Frage gesellschaftlicher Art: Wodurch wurde das „wilde“ Denken und Dichten Herders so bedeutsam?

Der „Chaot“ auf dem Konfigurationsbruch

Dazu muß ein Blick auf die gesellschaftliche Lage von 1770/1800 geworfen werden. Hier vollzog sich ein epochaler Bruch, der die alte Ordnung des aristokratischen und patrizischen Ständestaats zu Fall und die industrielle Gesellschaft her­ vorbrachte. Das geschah nicht nur als politische Revolution (1789 Paris – oder genauer: Korsika 1755/68, Bretagne 1788, Irland 1791/98 …). Sondern die Veränderung war von weit grundlegenderer Art, eine Veränderung der räumlichen und zeitlichen Verhaltensmuster der Gesellschaft. Bis dahin galt eine „Ordnung der Dinge“, die man als „klassische Repräsentation“ gekennzeichnet hat (Michel Foucault). Das Zeitalter von Absolutismus und Aufklärung repräsentierte sein Wissen in der Konfiguration einer universellen mathematischen Ordnung, eines Tableaus, in dem alles seinen Platz hatte, die Stände ebenso wie die Tiere, Pflanzen und Kristalle (z.B. Linnes Universalsystem). Das bildete wiederum ab, wie die Menschen der herrschenden Klassen sich bewegten und zu bewegen hatten, die Disziplinierungen der adelsständischen Exerzitien (Leibesübungen) und des Exerzierens, den höfischen Tanz und das Dressurreiten, das zierliche Fechten und das zirkulierende Spazieren in geometrisch hergerichteten Gärten französischen Stils.

Höfischer Tanz im 18. Jahrhundert: Das geometrisch choreographierte Menuett wurde nun vom stürmischen Walzer davongefegt

Im 18. Jahrhundert, zuerst in England, brach diese Konfiguration um. Der englische Garten, eine künstliche Wildnis, löste den französischen Garten ab. (Und die altenglische Literatur wurde zu einer Hauptinspirationsquelle für Herder.) Das geometrisch choreographierte Menuett wurde vom stürmischen Walzer davongefegt. Die Exerzitien verschwanden oder verfielen, und an ihre Stelle traten neue Formen von Sport, Gymnastik und Turnen mit neuen Leistungsmustern und neuer Zeitdynamik, mit neuer „Energie“. Darin wurde sichtbar, was jetzt als „Fortschritt“ und „Produktion“ zu Leitbegriffen einer neuen industriellen Moderne wurde. Fabriksystem, industrieller Kapitalismus und Urbanisierung bauten darauf auf und schufen neue Rahmenbedingungen.

Herders Biographie lag quer über diesem epochalen Bruch. Herder erlebte bereits die ersten Ansätze neuer Bewegungsmuster und neuer Konfigurationen des Denkens, aber noch vor dem Take-off der industriellen Revolution in Deutschland. Seine Grundbegriffe bildeten, obwohl er unter dem Ancien Regime lebte, häufig das Neue ab: „die Kraft“, „das Werden“, „die Fortschritte der Humanität“. Aber ein industrieller Denker war er eben doch nicht; er entwickelte weder eine Evolutions- noch eine Produktionstheorie. Er war ein sensibler Übergangsmensch, unzeitgemäß auf dem Zeitbruch aufsitzend.

Solche in bezug auf die Epochen exzentrische Position kann besonders fruchtbar sein. (Sie ist im übrigen vergleichbar dem Sitz der Hexe, haga zussa, auf dem Hag zwischen den Welten, auf dem Zaun zwischen „Zivilisation“ und „Wildnis“.) Nicht mehr das eine und noch nicht das andere. Hier ist die historische Chance des „Chaoten“. Laurence Sterne mit seinem „Tristram Shandy“ ist ein Beispiel, Grundtvig mit seiner Volkshochschule ein anderes. Weder modern (in jenem zwang­ haften und kolonialistischen Sinne) noch vormodern. Gerade aus dem Zeitbruch heraus wurden oft Bilder geschaffen, die die Epoche überdauerten und an deren Ende erneut aktuell werden. Hierher gehört Herder mit seinem Volksbegriff.

Volk als Basis, Ursprung und Widerstand

Volk – das war vor der Moderne, im Zeitalter klassischer Repräsentation: der plebs, der Pöbel, der Tölpel (Dörfler). Volk war die gelebte Unordnung, also das abfällige Gegenbild gegen die universelle Mathesis. Volk war Unaufgeklärtheit und Vagabondage, ein Störelement im System territorialstaatlicher Ordnung.

Volk in der Moderne – das wurde später aber etwas ganz anderes: eine Stufe auf dem Wege des Fortschritts. Das konnte zwar nostalgisch romantisiert werden, aber es blieb untergeordnet, nun in einem Zeitmuster: eine Stufe auf der Leiter der „einen“ Geschichte. Aufgabe des Volkes war es, sich in die volkslose Zukunft hinein aufzulösen – über das vereinigte „Europa“ in den Weltstaat hinein, in die reine Produktion und Konsumtion. So empfahl Karl Marx den Juden die Auflösung in den Kapitalismus hinein und den „reaktionären Völkern“ (Südslawen, Dänen) das Verschwinden von der Landkarte. So konzipierte der Nazismus die Auflösung des deutschen (und des dänischen, des niederländischen …) Volkes in die „produktive arische Rasse“ hinein – und die physische Vernichtung der Juden, Zigeuner, Wenden und anderer. So arbeitete die amerikanische Demokratie sich ab an der Auslöschung der indianischen Völker und der Herstellung eines „Schmelztiegels“.

Herders Volksbegriff plazierte sich exzentrisch zwischen diese beiden epochalen Muster: weder geometrische Diskriminierung noch progressive Stromlinienförmigkeit. Volk war ihm gewissermaßen das Grundmaterial der Geschichte und Ausgangspunkt der kulturellen Schöpferkraft. Es war die produktive Basis, die den Überbau der Literatur und der Ideen hervorbrachte. (Von Karl Marx’ Basis-Überbau-Modell war das nicht so weit entfernt.) Volk war der Ursprung, von dem die Bewegung ihren Ausgang nahm. Und es war ein Element des Widerstands: Volk als das Natürliche gegen das Künstliche, das Lied gegen die Plapperei, der Wilde gegen „das römische Joch“.

Um den gesellschaftlichen Zusammenhang ganz deutlich zu machen, bediente Herder sich auch des Bildes von Kopf und Körper. „Unsere ganze mittlere Geschichte ist Pathologie, und meistens nur Pathologie des Kopfes, d.i. des Kaisers und einiger Reichsstände. Physiologie des ganzen Nationalkörpers – was für ein ander Ding! Und wie sich hierzu Denkart, Bildung, Sitte, Vortrag, Sprache verhielt, welch ein Meer ist da noch zu beschiffen und wie schöne Inseln und unbekannte Flecke hier und da zu finden!“ (Von Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, 1777).

Damit ist ein politischer und metaphorischer Grundwiderspruch ausformuliert:
Kopf – Körper
oben: Ständeherrschaft – unten: das Volk
Pathologie – Physiologie
d.h. Feststellung – d.h. Wissenschaft
von Krankheit – von Denken, Verhalten und Sprache

So konnte nur ein revolutionärer Denker denken. Das darin liegende Programm – eine kritische Kultursoziologie des Volkes als Gegenbild zur Macht – zieht sich zwar als Unterstrom durch die Geschichte der Moderne (Marx, kritische Volkskunde, Frankfurter Schule, Foucault). Es ist aber bis heute nicht eingelöst.

Zugleich spricht es zu uns – 200 Jahre danach – auf neue Weise. Ist dies das Gespräch zwischen den Zeitbrüchen – vor und nach der (industriellen) Moderne? Sitzen wir, wieder im Hexensitz so wie Herder, nun also auf dem Hag zwischen alter (moderner) Ordnung und neuer („postmoderner“) Hyperordnung?

Jedenfalls stellt sich die Frage jetzt konkreter und fruchtbarer, welchen Gewinn wir heute – und insbesondere nach den Revolutionen von 1989 – aus Herders Anstößen ziehen können. Und insbesondere aus seinem widerständig-unzeitgemä­ ßen Volksbegriff. Fünf Komplexe mögen dabei von Bedeutung sein: (1.) Identität und Entfremdung, (2.) das volkliche Relativitätsprinzip, (3.) Poesie und Körperlichkeit, (4.) das „Innere“ des Nationalismus und (5.) die antikoloniale Dimension.

Entfremdung und Identität

Gerade weil die siegreiche industriell-kapitalistische Moderne im Namen von Individuum und Gesellschaft das Volk denunziert und auch nach dem Aufstand der Völker in Osteuropa denunzieren wird, spricht Herder eine aktuelle Sprache zu uns. Denn was ist ihm das Volk? Es ist ein Problembegriff, etwas was eben nicht einfach da ist, und ein sich daraus ergebender Suchbegriff. „ Wir armen Deutschen sind von jeher bestimmt gewesen, nie unser zu bleiben; immer die Gesetzgeber und Diener fremder Nationen, ihre Schicksalsentscheider und ihre verkaufen, blutenden, ausgesognen Sklaven.“ „Doch bleibt’s immer und ewig, daß, wenn wir kein Volk haben, wir kein Publikum, keine Nation, keine Sprache und Dichtkunst haben, die unser sei, die in uns lebe und wirke“ (Von Ähnlichkeit… 1777).

Nicht wir selbst sein – das ist der klassische Ausdruck für Entfremdung, der Gegenbegriff zur Identität. Damit stiftete Herder zugleich den sozialpsychologischen Identitätsbegriff, wie ihn Erik H. Erikson 150 Jahre später in die Psychoanalyse einführte. (Und Erikson bezog sich damit nicht nur auf Sigmund Freud zurück, sondern auch andererseits – als Däne – auf Grundtvig und damit auf eine unmittelbar Herdersche Denklinie.)

Volk ist also nicht etwas, worauf man naiv „stolz“ sein kann, sondern eher eine Verlustanzeige, ein Ausdruck von Kulturkritik als Entfremdungskritik – hierin argumentiert Herder wiederum parallel zu Rousseau. Entfremdung ist Leiden. „Volk“ bezeichnet einen Weg: die Suche nach etwas, worauf man stolz sein kann, oder besser: womit man sich identifizieren kann. Identitätsverlust tritt ein, wenn man fremder Nationen Diener ist, aber auch – und das kann noch bedeutsamer sein – wenn man über Fremde Herr ist. Macht ist ein Entfremdungsfaktor. Insofern enthält Herders Volksbegriff ein Stück anarchistischer Machtkritik.

Wenn es nicht Stolz und Selbstgewißheit sind, die zum Volksbegriff führen, welches positive Gefühl ist es dann? Es ist die Liebe. Wer „Volk“ sagt, sagt liebevoll „du“ zum Eigenen – und damit, wie gerade Herder zeigte, auch „du“ zum Fremden. Herders Schrift „Vom Geist der hebräischen Poesie“ (1782) ist dafür beispielhaft. Da spricht zunächst ein Aufklärer einleitend und kenntnisreich seine Verachtung aus für „diese arme barbarische Sprache“ des Hebräischen. Ihm wird geantwortet: „Es scheint, Sie haben sich mit der Sprache bekanntgemacht, aber nicht aus Liebe. „ Und die Liebe, die dialogische Zuneigung ist es dann, aus der heraus Herder das positive Bild der altjüdischen Dichtung und ihrer Sinnlichkeit entfaltet.

„Licht, Liebe, Leben „ – war Herders Leitmotiv. Die Worte sind heute immer noch und wieder auf seiner Büste in Riga zu lesen.

Das volkliche Relativitätsprinzip

Der Begriff Volk hat zugleich epistemologischen Charakter, er bezeichnet eine grundlegende Relativität. Nichts im Leben des Einzelmenschen kann für sich genommen werden, nichts ist ohne Zusammenhang. Nichts in der Wahrnehmung ist „objektiv“, nichts können wir sagen, „wie es wirklich ist“. Denn stets spricht der Mensch mit seiner Sprache zugleich deren spezifischen Zusammenhang aus – und damit nicht denjenigen einer anderen Sprache. Jeder Text kann nur aus seinen eigenen – sprachlichen, kategorialen, kulturellen – Voraussetzungen heraus verstanden werden – und ist damit grundlegend relativ.

Im 20. Jahrhundert wurde dieser Gedanke von Benjamin Lee Whorf weiterentwickelt zum linguistischen Relativitätsprinzip, der sogenannten Whorf-Sapir-These. Auch hier erwuchs die Einsicht aus der verständnisvollen Zuneigung zum Anderen. An der Begegnung mit den Hopiindianern und ihrer Sprache wurde Whorf die Begrenzung des Standard Average European (SAE) deutlich. Joshua A. Fishman, der Soziologe des jüdischen Amerika und des „Ethnie Revival“, hat darum Whorf in die Tradition des Herderschen und des „östlichen“ Denkens gestellt.

Von dem, der Texte verstehen will, verlangt das viel. Die direkte Aussage nur für sich nehmen zu wollen, ist naiv und simpel. Es übersieht das Dialogische im Verständnis: daß da ein kulturelles Subjekt ist, das den Text produziert hat, und ein anderes kulturelles Subjekt, das zu verstehen glaubt. Konkret: so sehr Herder auch für Homers Dichtung schwärmte, er mußte sie in ihrer Relativität erfahren. Der Kontrast zu Shakespeare machte ihm das deutlich, denn ich bin Shakespeare näher als dem Griechen. […] Und wenn jener Griechen vorstellt und lehrt und rührt und bildet, so lehrt, rührt und bildet Shakespeare nordische Menschen. „Und doch: beide sind „Vertraute einer Gottheit“ (Shakespeare, 1773).

Das war für Herder der universelle Bezugspunkt im allumfassenden Relativen: die Völker sind direkt zu Gott. Alle Völker. Jedes Volk. Weltgeschichte ist eine Vision: „Gang Gottes über die Nationen“. Daher ist es dem Menschen eben nicht möglich, Weltgeschichte objektiv zu schreiben.

Dennoch versucht man es immer wieder, und nicht zuletzt Herder versuchte sich daran. Aber: „Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdreich – Wen hat man gemalt? […] Endlich man faßt sie doch in nichts, als ein allgemeines Wort zusammen, wo jeder vielleicht denkt und fühlt, was er will – unvollkommenes Mittel der Schilderung!“ {Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit, 1774).

Poesie und Körperlichkeit

Herders Grundmaterial zur Rekonstruktion des Volklichen war die Literatur. Aus Texten, aus Sprache, trat ihm der „Volksgeist“ entgegen, die „Volksseele“, der „Nationalcharakter“. Nur aus Texten? Die Frage mit all ihrer Skepsis stellt sich gerade heute, da Textwissenschaften sich in „Kommunikation“ und „Semiologie“ auflösen, bis das ganze Leben nur noch aus abstrakten Zeichen besteht.

Dagegen Herder: „Natur hat den Menschen frei, lustig, singend gemacht; Kunst und Zunft macht ihn eingeschlossen, mißtrauisch und stumm. „ Die Völker offenbaren sich in „Sprache, Ton, Bewegung, Schilderung, Proportion, Tanz: und was alles also allein zusammenband, – Lied“ (Ausweg zu Liedern fremder Völker, 1774). Hier ist also mehr im Spiel als nur Zeichen und gedrucktes Wort. Herders Aufmerksamkeit richtete sich auf die Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Volkskulturellen – und damit auch der Poesie. Ohr und Lippe, Cymbeln und Pauken, Tanz und Rhythmus gehen durch seine Schriften. Das Volk hat Körper, ist Körper. Das Volk tanzt. Sprache, das Zentrum des Herderschen Volksbegriffs, ist Tanz. Eine lebendige Körperwissenschaft konnte daraus jedoch zunächst noch nicht werden. Das industriebürgerliche Zeitalter ließ allenfalls Literatur und das literaturwissenschaftliche Räsonnement zu. Immerhin: Friedrich Ludwig Jahn begründete auf Herderschen Impulsen, die er „deutsches Volkstum“ nannte, sein Turnen. Aber auch dieses verkam im späteren 19. Jahrhundert wieder zur systematischen Disziplinierung.

Ein ähnliches Schicksal prägte die dänische Folkehojskole. Grundtvig gab ihr – im Herderschen Geiste – die Vision einer „historisch-poetischen Wissenschaft“ mit auf den Weg. Das begann zwar als lebendige Mythologie und Gesang, geriet aber bald in die Gefahr, zu Vortrag und Belehrung abzusinken. Die Gymnastikbewegung veränderte später dieses Bild und folgte insofern Herders Spuren.

Was die soziale Sinnlichkeit betrifft, so befindet sich die gegenwärtige Gesellschaft noch tief in der „körperlosen“ Moderne. Doch es gibt Gegensignale. Die Trommeln der Rockmusik sprechen eine andere Sprache. Was hat es damit auf sich, daß Alain Finkielkraut, bei seiner fanatischen Verteidigung der alten kolonialen Moderne, jüngst zwei Hauptfeinde der einen Vernunft ausmachte: Herder und die Rockmusik? Neue Fragen richten sich an Herder.

Das „Innere“ des Nationalismus

Indem Herder über die Poesie den Einzelmenschen und das Volkliche in Zusammenhang brachte, das Universelle und das Besondere, den Ball und das Indische stiftete er eine neue Aufklärung. In ihr wirkte das Bewußtsein des Nationalen gewissermaßen nach innen, in Kontrast gegen den nach außen gewandten Nationalismus des späteren industriellen Europa. „Volk“ bei Herder hatte nichts mit Grenzen und Hauptstadt, mit Staat und Ökonomie zu tun, sondern mit Psychologie. Wer sind „wir“? Wer bist du? Wer bin ich? Wo kommen wir her, und wo gehen wir hin?

Herder geriet dicht an den Punkt heran, wo dies zum Konzept einer neuen Bildung als einer alternativen Nationalbildung hätte werden können, zur Volkshochschule. 1768 legte er die „Idee zum ersten patriotischen Institut fiir den Allgemein­geist Deutschlands“ vor. Er dachte damit – angesichts der staatlich geteilten Nation – an eine Art deutscher Akademie, in die Gelehrte aller deutschen Länder entsandt werden sollten, um sich mit deutscher Sprache, deutscher Geschichte und „tätiger Philosophie der Nationalbildung“ (Gesellschafts- und Wirtschaftslehre) zu befassen. Dieser Entwurf entstand noch vor Herders Wende zum Sturm und Drang und war entsprechend „von oben her“ gedacht. Den weiterführenden Schritt hin zu einer volklichen Bildung „von unten“ vollzog er nicht mehr. Noch nicht.

Das geschah erst ein halbes Jahrhundert später bei Grundtvig und mit der dänischen Folkehojskole. Hier wurde zusammengedacht und in der pädagogischen Praxis zusammengeführt, was den „inneren“ Nationalismus ausmachte – unübersetzbar Folkeoplysning (Volksaufklärung) und Livsoplysning (Lebensaufklärung des einzelnen). Licht, Liebe, Leben.

N.F.S. Grundtvig, 1843

So war es nicht zufällig, daß die stürmische Gründerzeit der meisten dänischen Folkehojskoler in die Jahre nach 1864 fiel, als Dänemark einen Krieg und weite Landstriche an Preußen-Deutschland verlor. Revanchismus, die Projektion allen Übels nach außen, war eine naheliegende Möglichkeit. Aber statt dessen: Hvad udad tabes, skal indad vindes – hieß es nun. „Was nach außen verlorenging, soll im Inneren wiedergewonnen werden.“ Es gelang, den drohenden Chauvinismus durch den nach innen gewandten Nationalismus im Herderschen Sinne zu umgehen.

Die antikoloniale Dimension

Heißt der „innere“ Nationalismus nun, daß das Gesellschaftliche entpolitisiert wird? Wird der äußere Konflikt gewissermaßen verinnerlicht (und damit verdrängt)?

Das dänische Beispiel spricht dagegen. 1920 stimmten sich die preußisch besetzten Gebiete zurück nach Dänemark. (Aber Dänemark trug zugleich einen anderen Gewinn davon: mittels der Folkehojskole den Revanchismus vermieden zu haben.) – Doch auch Herders Volksbegriff selbst war keineswegs durch falsche Innerlichkeit entschärft. Denn er war in seinem Kern antikolonial. Das Gegenbild zum Volk bei Herder hieß nämlich „Rom“.

Das Gegenbild zum Volkslied war für Herder die „klassische“ französische Literatur. Was im einen Land lebendig und auf eigene Traditionen bezogen sein kann, wirkt im anderen Land dürr und tot. Corneille, Racine, Voltaire in Deutschland, das war „Empfindung von dritter, fremder Hand“. Statt Leben also: Künstelei, tote Gedanken, zu Tode geregelte Sprache. Herders Volks- (und Natur-)begriff enthielt hier eine politische Spitze: die Kritik der kulturellen Kolonialisierung.

Dasselbe war im Begriff „Rom“ enthalten: Das römische Reich stand ihm gegen die „freien deutschen Stämme“, die römische Kirche mit ihrem Totalitätsanspruch gegen die menschliche Freiheit. Dabei unterschied Herder sehr genau zwi­ schen der römischen Größe, der er das Lob nicht vorenthielt, und dem „römischen Joch“. Das war genau derjenige Rom-Begriff, den Grundtvig als Gegenbild für den dänischen volklichen Nationalismus verwandte: Das „deutsch-römische Reich“ stand für Grundtvig gegen die Volklichkeit. Das bot also keineswegs einen freundlichen Ausblick auf alle jene Reiche, die auf das römische folgten: auf die europäischen Kolonialreiche der Moderne, auf die faschistischen Reichsversuche, auf das Sowjetreich, auf das Imperium US-Amerika.

Aber – und das war die eigentliche politische Pointe bei Herder – „Rom“ liegt nicht nur (und vielleicht nicht einmal primär) „da draußen“. Rom ist die Macht, der gerade auch die „freien Deutschen“ verfallen können. Wir alle haben ein römisches Problem.
Der deutsche Faschismus illustrierte dann, wovor die Herdersche Kritik 150 Jahre zuvor gewarnt hatte. Bis hin zu Gruß und Standarte wurde da das römisch­ imperiale Modell kopiert.
„Vor dem bösen Deutschen flieh’ ich,
Vor dem schrecklich bösen Herren“,

hieß es in Herders Nachdichtung eines estnischen Liedes, „Klage über die Tyrannen der Leibeigenen“.

„Feurig Brot ißt man am Hofe,
Winselnd trinkt man seinen Becher (…)
Wenn ich los vom Hofe komme,
Komm ich aus der Hölle wieder.“

Von dieser Problematik her wird auch verständlich, warum Herder in Deutschland nur schwerlich verstanden werden konnte. Zwar wurde sein revolutionärer Volksgedanke zunächst – noch im Zeitbruch zwischen den Konfigurationen – aufgegriffen und fruchtbar gemacht: von Goethe im Volkslied, von Fichte in den „Reden an die deutsche Nation“, von Jahn im „volkstümlichen“ Turnen, von Arndt, den Brüdern Grimm und der Nationalromantik. Aber dann wurde es still um ihn, und gerade das laute Tönen oberflächlicher „Herder“-Reden im Bismarck-Reich und im NS-Deutschland machten ohrenfällig, wie weit man sich von Herders „Hexensitz“ entfernt hatte. Jetzt hatte die Stromlinienform der Moderne gesiegt. Nur im Marginalen, im Ex-zentrischen des weiteren Europa war die Dynamik von Herders Volksbegriff zu spüren: bei den slawischen Völkern, bei kleinen Völkern und ethnischen Minderheiten. Nicht zuletzt im Judentum, das mit Martin Buber den bedeutsamsten Herderschen Philosophen des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat: Volk sagen heißt „du“ sagen.

Die antikoloniale Dimension in ihrem vollem Umfang macht es auch verständlich, warum nun in unserer Zeit in der Dritten Welt die Aufmerksamkeit für den Herderschen Volksbegriff gewachsen ist. „Heritage or , Volksgeist’?“ – unter dieser Überschrift zog z.B. 1983 auf einem Kongreß in Libyen B.A. Hussainmiya, ein Kulturwissenschaftler aus Sri Lanka, die Linie von „Herder, dem deutschen Nationalisten“, zu den antikolonialen Kulturkämpfen in der Dritten Welt von heute. Herders „Volksgeist“ und Fichtes „Reden an die deutsche Nation“ seien die Quellen, aus denen der Widerstand Afrikas, Asiens und Lateinamerikas gegen die neokoloniale Gewalt seine philosophischen Anregungen beziehen können – bis hin zu Muammar al-Gaddafi.

In solchem Sinne war Herder also nicht nur „der Vater des modernen Nationalismus“. Sondern er war zugleich der Vater des modernen Internationalismus – aber eben nicht eines formellen Internationalismus, wie er sich auf den Kongressen der hohen Politik abspielt, sondern eines substanziellen volklichen Internationalismus. Oder treffender gesagt: jenseits von Nationalismus und Internationalismus (und vor beiden) dachte er konkret einen dritten Weg. Das Volkliche und das Universelle als Einheit.

„Trauet den Weißen nicht“ hieß ein Lied aus Madagaskar, das Herder unter seinen Volksliedern übersetzte.
„Trauet den Weißen nicht, ihr Bewohner des Ufers!
In den Zeiten unserer Väter landeten die Weißen auf dieser Insel. Man sagte zu ihnen: da ist das Land, eure Frauen mögen es bauen, seid gerecht, seid gut und werdet unsere Brüder.

Die Weißen versprachen, und dennoch warfen sie Schanzen auf. Eine drohende Festung erhob sich; der Donner ward in eherne Schlünde gesperrt; ihre Priester wollten uns einen Gott geben, den wir nicht kennen; sie sprachen endlich von Gehorsam und Sklaverei.

Eher den Tod! – Lang und schrecklich war das Gemetzel; aber trotz den Donnern, die sie ausströmten, die ganze Heere zermalmten, wurden sie alle vernichtet. Trauet den Weißen nicht.

Neue, stärkere und zahlreichere Tyrannen haben wir ihre Fahne am Ufer pflanzen gesehen. Der Himmel hat für uns gefochten. Regengüsse, Ungewitter und vergiftete Winde sandt’ er über sie, sie sind nicht mehr, und wir leben und leben frei.
Trauet den Weißen nicht, ihr Bewohner des Ufers!“

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im Buch:

„Die Geschichte macht Sprünge“ von Henning Eichberg.

Henning Eichberg

Henning Eichberg (1942 – 2017), Kultursoziologe und Historiker, der seit 1982 in Dänemark lehrte, war bereits seit den ersten Ausgaben der Zeitschrift wir selbst (Gründung im Jahre 1979) der inspirierende Kopf. Sein intellektuelles Fluktuieren zwischen rechten und linken Denkströmungen, seine linksnationale, ethnoplurale Kritik am rechten Etatismus und seine radikale ökologische Orientierung wurden für uns programmatisch wegweisend, jedoch nie zu Dogmen.

Autor der Bücher:

Nächstenliebe zwischen christlichem Glauben und Zeitgeist

von Pius Geissel

Nächstenliebe zwischen christlichem Glauben und Zeitgeist

Was meint Nächstenliebe tatsächlich und wie wird der Begriff heute interpretiert und auch missbraucht?

Das zentrale Problem Europas, quasi die europäische Frage, ist heute die Frage nach der Identität. Sowohl nach der nationalen bzw. den nationalen Identitäten als auch einer europäischen Identität im Banne der Globalisierung.

In den letzten Jahrzehnten haben ganze Generationen scheinbar vergessen, wer sie eigentlich als Volk, als Völker, wirklich sind, wo sie herkommen und was in diesem Zusammenhang eigentlich Identität bedeutet. Nachkommenden Generationen wurde dann nicht mehr erzählt, worum es sich bei den Begriffen Volk, Nation und Europa handelt.

„Keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft, auch kein Staat kann ohne Gedächtnis und ohne Erinnerung leben. Ohne Erinnerung zu leben bedeutet ja, ohne Identität und damit ohne Orientierung zu leben.“, formulierte einmal unser ehemaliger Bundespräsident Roman Herzog. Doch auch er hat den den Verlust der deutschen und ebenso der europäischen Identität nicht aufhalten können.

Essenziell für diesen Identitätsverfall ist das Abkommen vom Glauben. Das Christentum hat sich aus den Städten zurückgezogen, aus den Theatern, den Kirchen, den Wohnzimmern – es war klar, dass es sich auch aus den Herzen der Menschen zurückziehen würde. Und so kam es, dass das Christentum zu einer moralischen Sekundärinstanz wurde. Es teilt sich seinen Platz mit Bürgerrechten und Verfassungstexten. Passt es einer Seite gut in die eigene Argumentation, benutzt man es als Rechtfertigung. Natürlich ohne ein Problem damit zu haben, es bei der nächsten Gelegenheit wieder zu verschreien. Darum ist es maßgeblich für den Europäer, aber auch für den Teilnehmer politischer Diskussionen, das Christentum zu verstehen.

Missverstandene Nächstenliebe

Eine der wesentlichen Inhalte des Christentums ist die Nächstenliebe. Dennoch wird kaum ein Glaubensinhalt in der breiten Öffentlichkeit so falsch verstanden wie sie. Oft begegnet einem in Debatten Empörung über christliche Staaten wie Polen und Ungarn und ihre Einstellung zur Aufnahme von Flüchtlingen. Oft bekommt man als Christ zu hören, dass man für die Akzeptanz aller Ansichten, Religionen, Weltanschauungen und Lebensweisen sein müsse – Jesus habe doch Nächstenliebe gepredigt. Die Leute, die das denken, haben das Konzept der Nächstenliebe nicht verstanden. In ihren Köpfen verkommt das Christentum zu einem humanitären Verein. Umso schlimmer, dass sich seine öffentlichen Vertreter selbst immer mehr in diese Richtung bewegen.

Das Christentum ist unbedingt transzendent zu verstehen. Streicht man Gott heraus, bricht das gesamte Konzept zusammen. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass die christliche Lehre ohne Gott keinen inhärenten Wert besitzt. Ebenso verhält es sich mit der Nächstenliebe. Sie ist ohne Gott nicht denkbar.

Doppelgebot und Altgriechisch

Die Nächstenliebe wird an mehreren Stellen der Heiligen Schrift formuliert. Fundamental ist jedoch, wie Jesus sich über sie äußert. Im Markusevangelium verfasst er sie als zweiten Teil des Doppelgebots der Liebe. Den ersten Teil bildet das Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft“ (Mk 12, 30). Diese beiden Gebote nennt Christus nicht zufällig gemeinsam, als man ihn nach dem wichtigsten Gebot fragt. Sie können nicht getrennt werden. Im Bezug auf die Nächstenliebe heißt das: Wir können unseren Nächsten nur durch Gott und um Gottes Willen lieben. Nächstenliebe ist kein Selbstzweck. Wir sollen unseren Nächsten lieben, weil wir Gott lieben sollen und weil „jeder Mensch Sein Ebenbild ist“ (Der große Katechismus, 905).

Das Griechische kennt drei Wörter für Liebe. Das sind Eros – die sinnliche Liebe, Philia – die freundschaftliche Liebe und Agape – die göttliche Liebe. Spricht die Bibel von Nächstenliebe, spricht sie von Agape. Dadurch kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Nächstenliebe bedeutet, den Nächsten wie Gott zu lieben. Dadurch bekommt Nächstenliebe einen unbedingt transzendentalen Charakter. Sie bedeutet, den Nächsten wegen Gott, durch Gott und auf die Weise zu lieben, wie Gott die Menschen liebt. Ich soll den Anderen „nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen ansehen, sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus.“ (Benedikt PP. XVI., Deus caritas est)

Einige würden eventuell einwenden, dass es anmaßend wäre, die Menschen so lieben zu wollen, wie Gott es tut. Das wäre es auch, wenn es aus eigener Kraft geschehen würde. Tatsächlich wird jeder Christ aber durch die Taufe Teil des Leib Christi und kann somit Teil haben an der göttlichen Liebe.

Der heilige Franz von Sales beschreibt dies sehr treffend: „So gilt die gleiche Liebe Gott und unserem Nächsten; durch sie werden wir zur Vereinigung mit der Gottheit emporgehoben und steigen zum Menschen herab, um in Gemeinschaft mit ihm zu leben. So jedenfalls lieben wir den Nächsten als Bild und Gleichnis Gottes, geschaffen, um mit der Güte Gottes verbunden zu sein, an seiner Gnade teilzunehmen und sich seiner Herrlichkeit zu erfreuen. Den Nächsten lieben heißt Gott lieben im Menschen oder den Menschen in Gott; es heißt Gott um seiner selbst willen lieben und das Geschöpf um der Liebe Gottes willen.“ (Traktat über die Gottesliebe)

Augustinus von Hippo (354 – 430 n. Chr.)

Nächstenliebe als alltagstaugliches Konzept

Was aber bedeuten diese Erkenntnisse über die Nächstenliebe nun für ihre reale Ausübung? Dilige, et quod vis fac (lat.: Liebe und tu, was du willst). Dazu ruft der heilige Augustinus auf. Ergänzt wird diese Botschaft wunderbar durch ein Wort Aquinas‘: Amare est velle bonum alicui (lat.: Lieben heißt: jemandem Gutes tun wollen). Die Nächstenliebe gebietet uns also, dem Nächsten ernsthaft liebevoll Gutes tun zu wollen. Daher ist es fatal falsch, Nächstenliebe mit Toleranz oder Akzeptanz gleichzusetzen. Denn liebe ich meinen Nächsten wirklich, dann kann ich sein schlechtes Verhalten nicht mit ansehen. Wird Sünde sichtbar, wird es zur Pflicht jedes Christen, seine Stimme dagegen zu erheben. So ist es ein geistliches Werk der Barmherzigkeit, die Sünder zurechtzuweisen. Jemandem Gutes tun wollen, meint für einen Christen auf lange Sicht immer, an der Erlösung des Nächsten mitzuarbeiten.

Ist das denen klar, die Polen und Ungarn fehlende Nächstenliebe im Umgang mit Flüchtlingen vorwerfen? Ist das denen klar, die unter dem Deckmantel der Nächstenliebe für die Akzeptanz moralisch verwerflicher Handlungen einstehen?

Die Charakterisierung der Nächstenliebe, die die Heilige Schrift trifft, nämlich den Nächsten so zu lieben, wie sich selbst, zeigt wie falsch so etwas wäre. Auch wenn es en vogue ist, sich so zu lieben wie man sei und self appreciation im Trend liegt, ist christliche Selbstliebe anders. Ihr liegt nicht zu Grunde, mit sich selbst und vor allem den eigenen Fehlern zufrieden zu sein, sondern emsig an sich zu arbeiten. Christen sollen sich bemühen, Gott immer besser zu dienen und ihr Glück nur in Ihm zu suchen (vgl. Der große Katechismus, 908). Dieses Verhalten auch auf andere zu übertragen, ist wahre Nächstenliebe.

Nächstenliebe als Politikum

Man beobachtet tagtäglich, wie Organisationen, die sich als christlich bezeichnen, scheinbar vergessen haben, was Nächstenliebe bedeutet. So teilte das Referat Kinder und Jugend des Erzbistums Hamburg unlängst ein Bild, auf dem The Genderbread Person abgebildet war und pseudowissenschaftlich über Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck und sexuelle Orientierung berichtet wurde, auf Instagram. Auch an anderen Stellen werben offizielle Vertreter der katholischen und evangelischen Bistümer für die Akzeptanz von Homosexualität nebst anderen Verwirrungen. Es ist klar, dass dies mit der christlichen Botschaft im Allgemeinen und mit der Nächstenliebe nichts zu tun hat. Angebracht wäre ein liebevoller, doch bestimmter Umgang, dessen Ziel die Bewältigung dieser Unordnung ist.

Auch, wer meint, die Nächstenliebe gebiete, massenhaft Menschen in das eigene Land zu lassen, zusätzlich aus Kulturräumen, die dem eigenen konträr gegenüberstehen, irrt. Nächstenliebe bedeutet nie Selbstvernichtung. Betroffenen in Krisengebieten Hilfe leisten, das ist Nächstenliebe. Aber Menschen aufnehmen und versorgen, deren einziges Ziel es ist, sich auf Kosten anderer zu bereichern, hat nichts mit Nächstenliebe zu tun. Der afrikanische Kurienkardinal Robert Sarah sagte dazu: „Besser ist es, Menschen dabei zu helfen, in ihrer eigenen Kultur aufzublühen, als sie dabei zu unterstützten, in ein völlig dekadentes Europa zu kommen.“

Kurienkardinal Robert Sarah

Zur politischen Dimension der Nächstenliebe und insbesondere der damit verbundenen Feindesliebe weist Carl Schmitt in Der Begriff des Politischen auf die Wortwahl der Bibel hin. Das Deutsche kennt nur ein Wort für Feind. Im Lateinischen gibt es allerdings zwei Vokabeln: inimicus für den privaten Feind und hostes für den politischen Feind. Jesus spricht in der Bergpredigt vom inimico, dem privaten Feind. Was für den gesunden Menschenverstand klar ist, wird also bestätigt: Seinen Feind zu lieben, bedeutet nicht, als Staat oder Kirche vor ihm zu kapitulieren. Das feindliche Individuum soll geliebt werden, nicht jedoch die feindliche Macht und das, wofür der Feind steht. Schmitt fügt hinzu: „Auch ist in dem tausendjährigen Kampf zwischen Christentum und Islam niemals ein Christ auf den Gedanken gekommen, man müsse aus Liebe zu den Sarazenen oder den Türken Europa, statt zu verteidigen, dem Islam ausliefern.“ Inzwischen sind Christen zwar auf diese Idee gekommen, das macht seine Aussage aber nicht unwahr. Feindesliebe kann sich immer nur auf den privaten Bereich beziehen. Ebenso verhält es sich mit dem Hinhalten der anderen Wange – auch einem Inhalt der Bergpredigt.

Das heißt nun nicht, dass Nächstenliebe kein Argument in einer politischen Diskussion sein darf. Sie muss jedoch richtig begriffen werden. Es handelt sich bei ihr um göttliches Wirken. Sie entspringt aus Gott, wird durch Gott und führt zu Gott. Ohne Glauben fehlt ihr das Fundament. Sie ist kein Selbstzweck. Sie darf außerdem niemals als Deckmantel falscher Toleranz missbraucht werden. Ihr Wesen ist strebend, nicht statisch. Sie gibt sich nicht mit Mittelmäßigem zufrieden oder akzeptiert schlechte Umstände. Sie ist nicht wehrlos.

von Pius Geissel, angehender Student, korporiert, katholisch, Hanseat, als @gottvaterland auf Twitter aktiv.