Das Verblassen heidnischer Glaubensvorstellungen bei den Germanen und die Ausbreitung des Christentums

von Dr. Christian Böttger

Das Verblassen heidnischer Glaubensvorstellungen bei den Germanen und die Ausbreitung des Christentums

Oft begegnet man der Auffassung, bei den Vorfahren unseres Volkes sei das Christentum ausschließlich gewaltsam verbreitet worden. Aber war das wirklich so? Oder handelte es sich bei der „Überwindung urgesellschaftlicher Glaubensvorstellungen“ vielleicht sogar um einen gesetzmäßigen Prozeß, wie es marxistische Religionswissenschaftler herausgestellt haben? Eines scheint aber festzustehen: dieser historische Vorgang ist von einem ganzen Komplex unterschiedlicher Faktoren beeinflußt worden. Monokausale Erklärungsversuche werden sich hier immer als untauglich erweisen. Auch bei dieser Entwicklung müssen Faktoren wie Anpassungsfähigkeit, Wechselwirkungen, Rückkopplungen und Selbstorganisation Berücksichtigung finden. Das macht diesen Vorgang so spannend. Schauen wir uns deshalb zunächst das System der Glaubensvorstellungen bei den Germanen etwas näher an.

1. Zur altgermanische Religion

1. 1. Einige allgemeine Bemerkungen

Bei den Germanen, wie auch bei den antiken Völkern, wird die Beziehung zum Transzendenten nicht erst durch einen Kultakt hergestellt, sondern die ganze menschliche Lebenswelt ist geheiligt. Heiliger Boden ist überall, nicht nur auf dem Thingplatz, in heiligen Hainen, oder in einem Tempel, sondern auch auf dem Acker und auf dem Bauernhof. (1)

Obwohl den germanischen Göttern große Ehrfurcht entgegengebracht wurde, können sie keinesfalls als sittliche, tugendhafte Vorbilder für ihre Verehrer betrachtet werden. Sie sind aus demselben Holz geschnitzt wie die Menschen und handeln nicht nach abstrakten moralischen Grundsätzen. Tugendhaftes Verhalten wird nicht durch Jenseitsvorstellungen motiviert, sondern gründet sich auf ein Ehrgefühl, welches die feste Verankerung des Individuums in der Gemeinschaft erzwingt. Durch ein Opfer setzt sich der Mensch in unmittelbare Beziehung zu den göttlichen Mächten. Die Gottheit wird aber keineswegs verpflichtet, dem Opfernden eine Bitte zu gewähren, es ist keinesfalls als eine Art Tauschhandel anzusehen. „Das Opfer öffnet nur den Weg zu einem Wirken der Gottheit“ (2), die aber eine unverkürzte Freiheit behält.

Setzt der Mensch sich in unmittelbare Beziehung zu den Göttern, muß er sich im Klaren sein, daß er eine gefährliche Sphäre betritt. Er kann auch den Zorn der Götter auf sich ziehen, wenn er zu hohe Anforderungen stellt.

Opfer wurden meist in der Nähe markanter Punkte niedergelegt, wie z. B. bei großen Steinen, Bäumen, auch an Quellen, in Flüssen und Mooren, besonders aber auf Hügeln oder Bergen. In der Bedeutung, die den Bergen zukommt, zeigt sich die im ganzen vorchristlichen Europa verbreitete Anschauung, daß jede Erhebung des Bodes eine Kraftstelle der Erde darstellt, „wo sich die unterirdische Mächtigkeit zusammengeballt hat“ (3), und deshalb Anlaß zur kultischen Verehrung gibt.

Eine geschlossene Priesterkaste, wie sie uns z. B. von den Kelten überliefert ist, fehlte bei den Germanen völlig, obwohl die Priester z. T. eine sehr einflußreiche Stellung hatten und größere Autorität als die Stammesoberhäupter und Könige besaßen.

Eine sehr große Rolle im religiösen Leben spielten die Frauen in denen man etwas Heiliges und Prophetisches vermutete. Seherinnen wie die Veleda konnten eine gewaltige Machtfülle erlangen und Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten ausüben.

Veleda – Gemälde von Alexandre Cabanel (1852)

Die Wahrsagekunst spielte überhaupt eine wichtige Rolle im öffentlichen und persönlichen Leben; geweissagt wurde aus dem Vogelflug, aus dem Verhalten heiliger weißer Pferde und vor allem aus den Runen. (4)

Auch magische Gebräuche waren üblich, obwohl man hier sich stets den Unterschied zwischen Magie und Religion deutlich machen sollte. Dennoch ist die Trennungslinie zwischen Religion und Magie nicht sehr scharf gezogen.

Der Glaube an eine Wiedergeburt war sehr verbreitet. Den Kindern wurde oft der Name von verstorbenen Familienangehörigen gegeben, weil man annahm, sie würden dadurch wiedergeboren. (5)

Ein Dogma, daß man als Grundvoraussetzung des Glaubens annehmen mußte, kannte der Germane nicht. Er kannte nur die uralte Überlieferung und die sich daraus ergebenden sittlichen Verpflichtungen gegenüber Sippe, Stamm oder Gefolgschaft.

1. 2. Wandlungen

Die kultischen und mythologischen Vorstellungen der germanischen Stämme sind keineswegs als eine über die Jahrhunderte hinweg konstante, unveränderliche Erscheinung aufzufassen, sondern sie tragen vielmehr stets der gesellschaftlichen Wirklichkeit Rechnung, auch wenn sich einzelne Elemente wie z. B. der Fruchtbarkeitskult als relativ stabil erwiesen haben.

Mit den sich verstärkenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen germanischen Stämmen und den Römern, begannen sich noch vor Beginn unserer Zeitrechnung die stammesgesellschaftlichen Verhältnisse allmählich zu zersetzen. Das zeigt sich besonders in dem stärkeren Hervortreten des Gefolgschaftswesens und einer verstärkten Absonderung des Stammesadels.

Diese Veränderung im sozialen Gefüge fand auch eine Widerspiegelung in den Göttervorstellungen. „Es entstand eine Hierarchie von Geistern und Göttern, in der die einen den anderen untergeordnet und dienstbar waren.“ (6) Auch die Festigung besonderer Jenseitsvorstellungen ist in diesem Zusammenhang zu nennen. „Tapfere und gefallene Krieger wurden von den Wallküren in die Palasthalle Odins (Walhall) geleitet, wo sie schmausten, zechten und kämpften.“ (7) Der Wodans- oder Odinskult verdrängte mit dem stärkeren Hervortreten des Gefolgschaftswesens den Kult anderer Götter, die nun auf den 2. Platz rückten, wie z. B. den Kult des Himmelsgottes Tiwaz (Ziu, Thiu, Tyr).

Der Aufstieg Odins (Wodan), der Gott der Edlen, vom ursprünglichen Sturm- und Totendämon zum obersten Himmels-, Toten- und Kriegsgott, trägt der gewachsenen Rolle des Stammesadels innerhalb der Gesellschaft Rechnung.

Abbildung des einäugigen Odin auf Sleipnir mit vielfachem Dreizack aus der isländischen Eddahandschrift aus dem Jahre 1760

Odin/Wodan galt als Meister der Kriegslisten und verkörpert eher die magische Seite des Krieges. Er hat eine düstere, dämonische Wesensart und unterscheidet sich darin grundlegend von Thor/Donar.

Thor/Donar, der eigentliche Krieger, der das Kampfgetöse liebt und mit vernichtender Wucht seinen Hammer schwingt, ist ansonsten im Gegensatz zu Odin der echte treuherzige Menschenfreund. Er ist keine königliche Figur wie Odin, sondern der Gott der freien Bauern, der als Ase eher einen wanischen Wesenszug trägt, d. h. er hat einen Anteil an der Fruchtbarkeit der Erde.

Thor (von Marten Eskil Winge, 1872)

Zu den Wanengöttern rechnet man die für Wachstum und Zeugung verantwortlichen Fruchtbarkeitsgötter. Zu ihnen zählen Njörd (Ernte, Fischfang, Jagd), der friedfertige Vegetationsgott Freyr (auch Fricco, Ing, Frodi) als Gott der Fruchtbarkeit und des Erntesegens. Zu ihm gehören phallische Kulte. Als Wanengöttin der sinnlichen Liebe gilt Freyja.

Göttin Freya

Die Tatsache, daß besonders die friedliche Bauernbevölkerung Anhänger der Wanenreligion war, läßt die Vermutung zu, daß der Mythos vom Krieg zwischen Asen und Wanen eine Polarität in der germanischen Gesellschaft widerspiegelt, und zwar die Polarität zwischen friedlicher Bauernbevölkerung und einer sozial herausgehobenen Gesellschaftsschicht. (8)

Bis zum heutigen Tag hat der Mythos vom Krieg der beiden Göttergeschlechter zu einer Vielzahl von Spekulationen Anlaß gegeben. Einmal wollte man in den Wanen, die nach einem Friedensschluß in die Genossenschaft der Asen aufgenommen wurden, slawische oder finnische Stämme sehen, zum anderen betrachtete man diese Mythe als Reflex historischer Kriege zwischen germanischen Völkern. Wieder andere Forscher verlegten den Ursprung dieser Mythe zurück bis ins Neolithikum. Sie betrachteten die Träger der schnurkeramischen Streitaxtkultur als Anhänger der Asenreligion und die Träger der großsteingrabbauenden Trichterbecherkultur als Anhänger der Wanenreligion. (9) Eine Unterwerfung und Indoeuropäisierung der letztgenannten Gruppe hat – und dafür liefern Sprachforschung und Genanalysen Anhaltspunkte – stattgefunden. In marxistischen Darstellungen spiegelt der Konflikt zwischen Asen und Wanen die nicht ganz konfliktlose Absonderung des Gentiladels zu Beginn unserer Zeitrechnung wider.

Welcher Interpretation man auch immer zuneigen mag – fest steht eines: Gesellschaftliche Ereignisse und Veränderungen schlagen sich in irgendeiner Form auch in den Glaubensvorstellungen nieder und leiten dort ebenfalls Wandlungsprozesse ein.

Im Laufe der weiteren Entwicklung, besonders seit der Völkerwanderungszeit, wurde allmählich den stammesgesellschaftlichen Glaubensvorstellungen der „Boden“ entzogen. Die Stammesreligion ist sehr stark an den Stammesboden gebunden. In Zeiten großer Wanderungen mußten Kulthandlungen, die mit großen Steinen, Bäumen, Quellen, Flüssen und Bodenerhebungen verbunden waren, zwangsläufig ihre Bedeutung verlieren. Der ständige Ortswechsel führte so zu einer Profanisierung des ganzen Lebens, zu einem Glauben an die eigene Kraft und Macht, der den heidnischen Götterhimmel zusammenbrechen ließ. (10) Der Weg war frei für den Vormarsch des Christentums.

2. Die Ausbreitung des Christentums

Die Christianisierung der Germanen verlief in mehreren Etappen.

2. 1. Die gotische Mission

Bischof Wulfila erklärt den Goten das Evangelium. Der Holzstich wurde 1890 veröffentlicht. — Adolf Bär und Paul Quensel: Bildersaal deutscher Geschichte. Zwei Jahrtausende deutschen Lebens in Wort und Bild, Stuttgart 1890

Für das Jahr 376 kann die allgemeine Annahme des arianischen Christentums durch die Goten angenommen werden. Schon 341 war Wulfila (um 311 – 383) zum Bischof der gotischen Christen geweiht worden und hatte mit seiner Missionstätigkeit vor allem bei der einfachen Bevölkerung Erfolg.

Das arianische Christentum geht auf den alexandrinischen Presbyter Arius zurück, der die Identität zwischen Gottvater, Christus und dem hl. Geist leugnete. Er vertrat vielmehr die Auffassung, daß Christus seinem Wesen nach Gott nicht gleicht, sondern als dessen höchstes Geschöpf menschliche Qualitäten habe.

Von den Goten ausgehend gelangte das arianische Christentum auch zu anderen germanischen Stämmen, so zu Wandalen, Langobarden, Burgunden, Herulern und Rugiern. Der Einfluß gotischer Missionstätigkeit reichte bis nach Thüringen. Vom Thüringer König Hermenefred (vor 485 – vor 534) ist bezeugt, daß er arianischer Christ war. (11) Weiter nach Norden vermochte das Christentum damals aber noch nicht zu dringen.

Die größte Leistung des Gotenbischofs Wulfila besteht darin, die Bibel ins Gotische übersetzt zu haben, wofür er ein eigenes Alphabet mit 27 gotischen Buchstaben schuf, 18 oder 19 entnahm er dem griechischen Alphabet, die übrigen dem lateinischen Alphabet und einige den Runenzeichen. (12)

2. 2. Der Übertritt des Frankenkönigs zur Römischen Kirche

Von den Franken wurde der obergermanisch-rätische Limes seit Anfang des 3. Jahrhunderts immer häufiger überrannt. Die Römer versuchten sie als Föderaten im Grenzgebiet anzusiedeln und zur Abwehr neu eindringender Stämme zu verpflichten. Als dann 486 der Frankenkönig Chlodwig (466 – 511) Gallien unterwarf, wurden im Neuansiedlungsprozeß die Blutsbindungen überwunden. Eine Territorialorganisation löste die Sippenordnung ab. Die fränkischen Siedler erhielten Parzellen als Allod, aus denen sich später das Privateigentum entwickelte. Die Adligen erhielten größere Anteile. Der König hatte das ganze eroberte Land als sein Eigentum betrachtet und der Verfügungsgewalt des Things entzogen. Das alles kann als entschiedener Bruch mit den stammesgesellschaftlichen Verhältnissen angesehen werden.

Doch auch auf religiösem Gebiet wurde ein Bruch mit der Stammesgesellschaft vollzogen. Im Jahre 498 erfolgte der Übertritt Chlodwigs zur römischen Kirche. Dieser folgenschwere Übertritt war eine wohlberechnete Maßnahme von großer politischer Tragweite. Dieser Kirche gehörten die meisten Alteinwohner in den eroberten Gebieten an. Auf diese Weise konnte ein vertrauensvolles Verhältnis zur alteingesessenen romanischen Bevölkerung in den eroberten Gebieten hergestellt werden. Zum anderen war Chlodwig mit der Kirchenorganisation, deren Leitung er seinem Willen unterwarf, eine Institution zur Festigung und Ausdehnung seines Herrschaftsbereiches in die Hand gegeben. Die Entscheidung für Rom war also ganz im Sinne der beginnenden feudalen Entwicklung. Im Gegensatz zur arianischen Kirche spielten in der römischen Kirche Reichtum und Großgrundbesitz eine erhebliche Rolle. Das arianische Christentum, das gegen Dogma und Besitzstreben der römischen Kirche kämpfte, mußte so gesetzmäßig untergehen. Es entsprach nicht mehr den Erfordernissen der eingeleiteten feudalen Entwicklung.

2. 3. Die iro-schottische Mission

In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts (496/506 und um 536) wurden die heute süddeutschen Gebiete der Alemannen und Bayern in das Frankenreich einbezogen. Die Christianisierung dieser Gebiete erfolgte aber erst am Anfang des 7. Jh. Die Missionierung ging hier gar nicht mal von fränkischen, sondern vorerst von iro-schottischen Mönchen aus, denen der desolate Zustand des Frankenreiches nach dem Tode Chlodwigs 511 zugutekam. Die iro-schottische Kirche war von Rom relativ unabhängig. Zwischen Kelten und Rom hatten sich in Britannien im 5. Jh. die noch heidnischen Angelsachsen geschoben. Diese somit isolierte iro-schottische Kirche war nach dem Abzug der Römer aus der „altbritischen“ (römische Staatsreligion) hervorgegangen und nahm dann eine Eigenentwicklung. Sie tat sich durch Aktivitäten auf geistig-kulturellem Gebiet hervor und setzte die wissenschaftlichen Kenntnisse des 4. und 5. Jh. in ununterbrochener Folge fort. Damit stand sie ganz im Gegensatz zu der langsam verweltlichenden, prunkliebenden römischen Kirche, deren Geistesleben sich in einer kritischen Situation befand. Die iro-schottischen Mönche, die auch z. T. an den Bräuchen ihrer keltischen Heimat festhielten, verstanden noch durch ihre Vorbildwirkung und ihre leidenschaftliche Art das Volk zu begeistern. Die deutsche Geschichtsschreibung des wilhelminischen Zeitalters hat dieser Kirche einen mangelnden Ordnungssinn vorgeworfen. (13) Aber es wird sich hier wohl weniger um einen mangelnden Ordnungssinn, als vielmehr um fehlende Machtstrukturen, um ein Fehlen von gewaltsamen Herrschaftspraktiken gehandelt haben. Der eigentlich fränkische Klerus war – bedingt durch die Thronwirren – in eine Krise geraten. Die Synoden hörten 695 ganz auf. Die iro-schottische Kirche füllte in Süddeutschland einstweilen die entstandene Lücke. Seit dem 8. Jh. galt auf diese Weise auch Thüringen als bekehrt.

Bonifatius fällt die Donareiche in Hessen. Farblithographie, um 1900, nach dem Fresko, 1834/44, von Heinrich Maria von Hess.

Der Umschwung für Rom erfolgte in deutschen Landen durch Bonifazius (673 – 754 n. Chr.), eigentlich Winfrid, ein angelsächsischer Benediktinermönch. In der zweiten Hälfte des 7. Jh. hatte sich bei den Angelsachsen der Katholizismus durchgesetzt. Die frühere deutsche Geschichtsschreibung glorifizierte Bonifazius als den „Apostel der Deutschen“. In Wahrheit jedoch war er nur ein fanatischer religiöser Eiferer, ein Vorkämpfer päpstlicher Allmacht. Bonifazius hatte einen wesentlichen Anteil an der Erneuerung und am Ausbau der Kirche in den später deutschen Gebieten des Frankenreiches. Auf einer erstmalig wieder 742 durchgeführten Synode wurde Bonifazius die Kirchenleitung des austrasischen Teilreiches übertragen. (14) Als Missionar hatte er sich schon Jahre vorher in Friesland, Thüringen und Hessen betätigt, wobei er sich recht zweifelhafter Praktiken bediente. Seine größte „Heldentat“ ist aus Hessen überliefert. Hier fällte er 723 angeblich eigenhändig die damals bei den Chatten heilig geltende Donareiche bei Geismar und glaubte damit eindeutig, die Überlegenheit der christlichen Religion bewiesen zu haben. Weniger Glück mit seinen Bekehrungspraktiken hatte er allerdings in Friesland. Als er 754 einen erneuten Anlauf nahm, Friesland dem christlichen Glauben zu unterwerfen, erschlugen ihn kurzerhand die um ihre Freiheit und Selbständigkeit bangenden Friesen. Und dies ist auch nicht verwunderlich. Denn, wer den Göttern abschwor und sich taufen ließ, bekannte sich nicht nur zur Staatsreligion eines nach ständiger Expansion strebenden Staates, sondern der war auch bereit eine Haltung anzunehmen, die vermutlich von den Friesen als „Knechtsgesinnung“ wahrgenommen wurde und eine entsprechende Demutsideologie beinhaltete.

Bonifatius wird bei dem Versuch einer neuerlichen Missionierung von den Friesen im Jahr 754 getötet.

2. 4. Die gewaltsame Missionierung der Sachsen

Am längsten setzten sich die Sachsen allen Versuchen einer politischen und religiösen Unterwerfung zur Wehr. Da eine friedliche Bekehrung hier keine Früchte trug, wurde der gewaltsame Weg beschritten. Im Jahre 772 zog Karl d. Große gegen sie ins Feld, ließ Massentaufen anordnen und zerstörte die Irminsul, eine Säule des Himmelsgottes Irmin oder die Darstellung der Himmelsachse, die den Sachsen als Heiligtum galt.

Hermann Wislicenus: Karl der Große zerstört die Irminsäule (Wandbild im Kaisersaal Goslar)

In Widukind fanden die zum Volkskrieg angetretenen Sachsen ihren Herzog und Volkshelden. Im Jahre 785 mußte dieser allerdings die Sinnlosigkeit des Kampfes einsehen und wurde Christ. (15) Karl der Große erließ ein Gesetz für die Sachsen, das die Unterordnung unter Kirche und Krone erzwingen sollte. Jedem drohte die Todesstrafe, der die Taufe verschmähte, wer an alten Sitten und Gebräuchen festhielt, Tote verbrannte, die Fastenzeit nicht einhielt oder ein neugeborenes Kind nicht taufen ließ. Daß diese Gesetze nicht nur auf dem Papier standen, beweist die Hinrichtung von 4.500 Aufständischen an nur einem Tag. Der letzte Widerstand wurde erst 804 endgültig gebrochen. Die Sachsen wurden aus allen Gebieten nördlich der Elbe nach Franken zwangsumgesiedelt und das Land den Obotriten übergeben. Somit waren nun alle deutschen Stämme unter die Herrschaft des Kreuzes gebracht.

3. Christliche Glaubensinhalte in heidnischen Formen

Manchmal knüpften die Missionare auch bei der Vermittlung von bestimmten christlichen Stoffen an die Vorstellungswelt der Germanen an. Das eindrucksvollste Beispiel hierfür ist eine fast 6.000 Verse umfassende Stabreimdichtung, der Heliand.Sie entstand nach dem Tode Karls d. Großen auf Geheiß Ludwig d. Frommen, der sich, und das sei hier nur nebenbei bemerkt, dadurch hervortat, daß er die zuvor gesammelte und schriftlich fixierte germanischen Sagen und Heldenlieder verbrennen ließ.

Der Heliand, der das Leben und Wirken Christi so undogmatisch wie möglich schildert, sollte der Christianisierung besonders der nördlichen Gebiete dienen, die sich erneut zum Aufstand gegen die herrschende Klasse rüsteten (841 Stellinga-Aufstand). „Christus wird dargestellt als Gefolgsherr, als der Volkskönig, der Beschützer des Landes und des Volkes; seine Jünger erscheinen als eine Gefolgschaft, als wortweise und edelgeborene Helden…, die als das Wichtigste im Leben ihre Treue zu ihrem Herrn ansehen, die für ihn sterben wollen“ (16). Die Bergpredigt wird in einer Breite von etwa 700 Versen auf einem Volksthing wiedergegeben. „Die einzige kriegerische Handlung – als Petrus des Malchus Ohr abschlägt – wird entgegen dem neutestamentarischen Bericht breit zu einer Kampfschilderung ausgemalt“ (17). Da nun aber von Gefolgschaftstreue keine Rede sein kann, als die Jünger ihren Herrn bei der Gefangennahme verlassen, mußte der Dichter sich etwas einfallen lassen: es sei keine Feigheit gewesen, sondern schon vorher von Wahrsagern verkündet worden.

4. Das Weiterleben heidnischer Glaubensinhalte in christlichem Gewand

Überall da, wo die Einführung des Christentums nicht mit einer feudalen Unterwerfung einher ging, geschah dies beinahe problemlos. So wurde um das Jahr 1000 auf Island das Christentum durch Mehrheitsbeschluß auf dem Althing angenommen. (18) Dieser problemlose Übergang hat zu der Annahme geführt, daß es dem Germanen bei diesem Übertritt weniger um den christlichen Glaubensinhalt als vielmehr um die Kulthandlung ging. Kerzenlicht, Glockenklang und Glockenklingeln, funkelnde Meßgewänder und Weihrauchduft waren neue Erfahrungen, die sicherlich einen tiefen Eindruck hinterließen. Aber bedeutete für die Germanen der Übertritt zum Christentum nur einen Wechsel der kultischen Sitte? Wenn ja, warum? Handelte es sich beim Christentum nicht um eine Religion, die den Menschen völlig umwälzen sollte? Bei der Beantwortung dieser Frage möchte ich auf den anthroposophischen Historiker und Volkskundler Werner Georg Haverbeck (1909 – 1999) verweisen. Nach seiner Auffassung sind auch im Christentum die alten Urbilder des europäischen Urglaubens enthalten, z. B. Tod und Auferstehung (Baldurs Tod und Wiederkehr). Diese Tatsache mag den Übertritt zum Christentum erleichtert haben.

Odins letzte Worte an Baldr

Doch nicht nur die alten Urbilder kann man im Christentum wiederfinden. Die Missionare haben oft auch vorsätzlich (also ganz bewußt) an heidnische Elemente und Vorstellungen angeknüpft. Daniel von Winchester, er war dort Bischof von 705 bis 744, warnte seinen Freund Bonifazius brieflich vor dem Versuch, alles Heidnische rücksichtslos zu vernichten, weil es zu tief im Volke verwurzelt sei. Er riet vielmehr dazu, das Christliche daran anzufügen. Auf diese Weise wurden heidnische Opfermahle in christliche Freudenmahle umgewandelt. Für diese von der Kirche geduldete und geförderte Praxis gibt es zahlreiche Belege. So wurden alte heidnische Zaubersprüche, wie z. B. der Wiener Hundesegen, der Lorscher Bienensegen und die Blutsegen vom Christentum übernommen und ins christliche verkehrt. Statt der heidnischen Götter, wurden in die Texte Christus und Petrus oder Christus und Maria eingesetzt. (19) Von Jahrhundert zu Jahrhundert wurden solche Zaubersprüche im christlichen Gewand im Volke weitergegeben.

Einen Übergang zu einem allgemeineren Synkretismus bildet das formale Weiterleben heidnischer Glaubensinhalte unter christlichem Vorzeichen z. B. im sog. „Questenfest“. (20) Es wird seit alters her am Pfingstmontag in dem kleinen Ort Questenberg am Südrand des Harzes begangen – heute natürlich als „Brauch ohne Glaube“. An diesem Tag treffen sich hier die Bewohner schon bei Sonnenaufgang, um einen mit Reisig geschmückten Kranz von einem 10 Meter hohen Baumstamm herunterzuholen und zu verbrennen. Am Nachmittag wird dann der Kranz mit neuem Birken- und Buchengrün befestigt. Ein Sonnenkult wird als Ursprung des Festes vermutet, was aufgrund der frühen Tageszeit der Bauchhandlung, zum Sonnenaufgang, naheliegend wäre. Die neuerlich entfachte Diskussion über den germanischen oder slawischen Ursprung des Festes (21) ist eigentlich überflüssig, da Sonnenkulte ihre Wurzeln in der Bronzezeit haben. Wandernde Völker – hier in dem Falle die Slawen – verlieren meist ihre Bräuche und übernehmen die Flurnamen und Kulte der Vorbevölkerung, die niemals gänzlich verschwindet. So ist speziell im Wendland, auf das sich die Slawenthese mit den festgestellten Parallelen bezieht, ein größeres germanisches Restsiedlungsgebiet archäologisch nachweisbar. (22)

Heute stehen selbstverständlich bei diesem Brauch weniger Glaubensvorstellungen und ihre Herkunft, sondern vielmehr seine soziale Funktion im Vordergrund. Bräuche gewähren dem Individuum Identität durch aktives Beteiligtsein, durch soziale Interaktion. Der Einzelne findet Bestätigung und Verankerung in einer für ihn als charakteristisch erlebten Gruppenidentität, die ihm die Vorzüge und die menschliche Wärme der damit verbundenen Gruppensolidarität erlebbar macht. Die Brauchausübung vermittelte das Gefühl der Geborgenheit und die Gewähr, zur Gemeinschaft zu gehören. (23)

5. Das Verschmelzen heidnischer und christlicher Glaubensvorstellungen

Die Verschmelzung von Elementen verschiedener Kulturen zu einem neuen System nennt man in der Ethnologie „Synkretismus“. (24) Bei näherem Hinschauen ist fast jede Kultur bis zu einem gewissen Grad „synkretistisch“. Die Kombination von Traditionen und Elementen vorchristlicher und christlicher Glaubensvorstellungen sind für uns gut nachvollziehbar vor allem aus Lateinamerika überliefert. Doch auch bei den Germanen waren diese Elemente und Traditionen des vorchristlichen Glaubens durch die Missionierung keineswegs ausgerottet, sondern verschmolzen mit Elementen des neuen Glaubens zu einem eigentümlichen „Synkretismus“. Dieser Synkretismus, der im Volksglauben späterer Zeiten seine Spuren hinterlassen hat, wird zwar selbst in der Volkskunde heute manchmal geleugnet oder lächerlich gemacht, ja als NS-Phantasterei dargestellt. Dennoch können wir in vielen Bräuchen wie die der Sonnenwendfeiern, im Weihnachts- oder Fasnachtsbrauchtum zahlreiche Belege dafür finden. Warum sollte auch das, was für Lateinamerika als gesichert gelten kann, nicht für unsere Heimat ebenfalls zutreffen?

Schlußbetrachtung

Glaubensvorstellungen existieren nicht losgelöst von gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern tragen stets auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit Rechnung. Schon die kriegerischen Auseinandersetzungen der Germanen mit den Römern haben zu Veränderungen in der Glaubenswelt der Germanen geführt. Sie zeigen sich in einer Vertiefung der Jenseitsvorstellungen und einem stärkeren Hervortreten des Individuums. Den größten zersetzenden Einfluß auf die Glaubenswelt der Germanen hatte die Völkerwanderungszeit, denn die Stammesreligion ist sehr stark an den Stammesboden gebunden. Nur, wo die Verbindung zum Volksboden erhalten blieb, kam es zum Widerstand gegenüber dem Christentum. Die Gründung großer Reiche, in denen mehrere Stämme und Völker zusammengefaßt werden sollten, begünstigte das Vordringen einer Weltreligion wie es das Christentum darstellt. Stämme und Völker ließen sich auf diese Weise ideologisch überwölben. Das Römische Christentum stellte damit nicht nur eine neue Religion dar. Es ging auch einher mit einer neuen Gesellschaftsordnung, dem Feudalismus.

Quellen und Anmerkungen:

  1. De Vries, Jan: Die geistige Welt der Germanen, Halle/Saale 1945, S. 156
  2. Ebenda, S. 187
  3. Ebenda, S. 166
  4. Die Germanen. Ein Handbuch, Berlin 1983, Band 1, S. 183; S. 366 f.
  5. Ebenda, S. 368
  6. Die Germanen. Ein Handbuch, Berlin 1983, Band 2, S. 248
  7. Ebenda, S. 261
  8. Ebenda, S. 262
  9. Vgl. De Vries, Jan: a. a. O., S. 159
  10. Ebenda, S. 196 ff.
  11. Die Germanen. Ein Handbuch, Berlin 1983, Band 2, S. 282
  12. Mettke, Heinz: Älteste deutsche Dichtung und Prosa, Leipzig 1982, S. 10
  13. Ullsteins Weltgeschichte, hrsg. v. Pflugk-Harttung, Berlin 1905, Bd. Mittelalter, S. 79
  14. Deutsche Geschichte in 12 Bänden, Band 1, Berlin 1985, S. 291
  15. Der Historiker und Volkskundler Werner Georg Haverbeck sah in der Verständigung zwischen Karl dem Großen und dem Sachsenherzog Widukind, dem Opfer Widukinds in Form seiner Taufe, die Voraussetzung für die Entstehung des deutschen Volkes unter Einschluß des Sachsenstammes (Niedersachsen). Vgl. Haverbeck, Werner Georg: Wittekinds Sieg, Dresden 1997
  16. Mettke, Heinz: Älteste deutsche Dichtung und Prosa, Leipzig 1982, S. 53
  17. Ebenda, S. 53 f.
  18. Vgl. De Vries, Jan: a. a. O., S. 160
  19. Mettke, Heinz: a. a. O., S. 27
  20. https://www.youtube.com/watch?v=XtgfaQilUh0
  21. Reinboth, Fritz: Hat das Südharzer Questenfest wendische Wurzeln? In: Unser Harz, Jg. 49, H. 12, S. 230 ff.
  22. Vgl. Karte in: Herrmann, Joachim: Die Slawen in Deutschland. Ein Handbuch. Berlin 1985, S. 28 = Karte in: Böttger, Christian: Ethnos. Der Nebel um den Volksbegriff. Schnellbach 2014, S. 344
  23. Ulbrich, Björn: Im Tanz der Elemente: Kult und Ritus der heidnischen Gemeinschaft. Vilsbiburg 1990, S. 38 f.
  24. Haller, Dieter: dtv-Atlas Ethnologie. München 2005, S. 97

Zu Anmerkung 21

https://www.karstwanderweg.de/publika/uns_harz/49/230-233/index.htm

Dr. Christian Böttger
Dr. Christian Böttger

Dr. Christian Böttger

Christian Böttger, geb. 1954, Facharbeiterausbildung als Gärtner für Zierpflanzenbau mit Abitur 1974, studierte von 1983-1988 Ethnographie, deutsche Geschichte und Volkskunde an der Humboldt-Universität zu Berlin. Danach arbeitete er bis Ende 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde am Zentralinstitut für Geschichte (Akademie der Wissenschaften der DDR) an einem Forschungsprojekt auf dem Gebiet der Kulturgeschichte sozialer Reformbewegungen in Deutschland um 1900. Ende 1993 promovierte er an der Humboldt-Universität zum doctor philosophiae. Anschließend war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Lexikonprojekten beschäftigt.

Autor der Bücher:

Christian Böttger: Ethnos. Der Nebel um den Volksbegriff.

NEU:

Christian Böttger: Autonomie für die Afrikaanse Nation! Ein Superethnos in Südafrika

„Normale Katastrophen“ – Für eine andere Sicht auf Krisen

von Florian Sander

„Normale Katastrophen“ – Für eine andere Sicht auf Krisen

Der amerikanische Soziologe Charles Perrow hat in den 80er Jahren einen risikosoziologischen Ansatz entwickelt, den er mit der Formulierung der „normal accidents“ umschrieb. Er schuf damit eine Katastrophensoziologie, die zur sozialen Systematisierung insbesondere von technischen Unfällen beitrug und zugleich die in Opposition etwa zu Ulrich Beck stehende These vermittelte, dass Unfälle und Katastrophen nicht grundsätzlich vermeidbar und daher ein Stück weit Normalzustand sind. Angesichts sowohl der „Krisen“ rund um Euro, Finanzen, Staatsschulden, Terrorismus und Atomkraft bis hin zu Migration und nicht zuletzt der „Krise der Krisen“ schlechthin, Corona, wird es Zeit, sich diese These ins Gedächtnis zu rufen und zu fragen, inwieweit sie auch außerhalb von techniksoziologischen Fragestellungen zur Anwendung kommen kann und sollte.

Der große Brand von London, 1666 (unbekannter Künstler)

Vier Risikokulturen

In Zeiten wie diesen, in denen über die neue Hegemonie des linksgrünen Zeitgeistes auch eine Art neuer politischer Utopismus Einzug gehalten hat (Vision: ein multikultureller Superstaat EU, bis hin zum kosmopolitischen liberalen Weltstaat), ist auch der Umgang mit Krisen und Risiken ein anderer geworden – wie es immer der Fall ist, wenn semitotalitärer Utopismus zum Mainstream wird. Hier kommt eine andere Größe der Risikosoziologie ins Spiel: Die Anthropologin Mary Douglas umschrieb diese Art der politischen Kultur in ihrer „Cultural Theory“ mit dem Begriff der egalitären „Sektierer“. Eine Form der politischen und sozialen Herangehensweise, die zum „Nullrisiko“ tendiert: Risiken sollen komplett vermieden werden, Krisen und „Unglück“ mittels vor allem staatlicher Intervention eliminiert werden. Am Ende steht die Vision eines moralisch reinen, sicheren, glücklich machenden Utopia.

Dieser politischen Kultur stellt Douglas in ihrer Typologie außerdem die Kulturen der Hierarchie (Konservatismus), des Fatalismus (Politikverdrossene) und des Marktindividualismus (Liberalismus) gegenüber. Erster will die Dinge staatlich regeln und Ordnung in das Chaos bringen. Fatalisten ist es einfach egal. Der Individualist wiederum verfolgt das Trial-and-Error-Prinzip: Fortschritt wird als Chance begriffen, individuelle Freiheit als höchster Wert angesehen.

Nun haben es gerade soziologische Typologien stets an sich, dass sie analytische Kategorien schaffen, die Reinformen von etwas darstellen, die in der Empirie eher als Mischmodelle vorkommen. Mit der neuen Dominanz des grünen Mainstreams jedoch ist ernsthaft die Frage zu stellen, ob wir nicht immer mehr auf eine Reinform dieses moralistisch-egalitären Sektierer-Typus hinsteuern – und ob hier nicht mit Elementen anderer politischer Kulturen gegengesteuert werden sollte. In dieser Zielsetzung geht es jedoch nicht um neue „Reinformen“, sondern um besser dosierte Mischverhältnisse.

Unnormale Katastrophen und Krisenverschärfung

Aufmerksame Beobachter politischer Vorgänge konnten in den letzten Jahren immer wieder erkennen, wie echte oder vermeintliche Krisen gezielt genutzt wurden, um dadurch politische Veränderungen zu bewirken. Im Falle von Terrorismus (Al Qaida und IS) und Sicherheitsgesetz-Verschärfungen wurde dies vor etwa 20 Jahren besonders sichtbar, ebenso aber auch im Zuge der Eurokrise, die genutzt wurde, um durch die Hintertür die Voraussetzungen für einen neuen Super-Staat und kontinuierliche Bankenrettungspolitik zu schaffen. Das Resultat bestand in zunehmender Gewalt in griechischen Städten, Deutschenfeindlichkeit dort und in Italien sowie Massenprotesten in Spanien. Was die politische Reaktion auf Corona anrichtet (und der etablierten Politik ermöglicht), muss an dieser Stelle nicht mehr erklärt werden: Die sozioökonomischen Folgen für Millionen von Menschen sind verheerend und übertreffen das das Ausmaß der Folgen von Covid-19 selbst mittlerweile deutlich.

Der angestrengte Versuch der Krisenvermeidung führt zum Gegenteil. Die Nicht-Akzeptanz der „normalen Katastrophen“ verschärft eben diese und macht sie zu „unnormalen Katastrophen“. Entweder durch Hysterie oder aber durch undemokratische Hektik und die gezielte Verhinderung von Lerneffekten (Beispiel: Krampfhaftes Verhindern von Euro-Austritten – metaphorisches „Alkohol-Liefern an Alkoholiker“). Die Parallelen der Makro-Ebene mit der Mikro-Ebene des Alltags werden hier deutlich. Indem man krampfhaft versucht, Krisen und die daraus entstehenden harten Aufpralle „abzufedern“, werden Lerneffekte konsequent verhindert und die Krisen noch mehr in die Länge gezogen als eigentlich nötig. Ähnlich in der Bildungspolitik: Sitzenbleiben soll abgeschafft werden. Bloß kein Unglück. Bloß keine negativen Folgen. Schaffen wir lieber das Paradies auf Erden für alle.

Die Pest in Basel, 1493. Nach einer Darstellung von Heinrich Maria von Hess (1798-1863). Abgebildet sind: Sakramente an Kranke durch Geistliche, die Furcht im Volk und das Wegschaffen der Toten.

Kein Licht ohne Dunkelheit

Doch Leute, die nie Dunkelheit gesehen haben, können sich nicht am Licht erfreuen. Wer nie die Krise erlebt hat, wem eigene Fehler nie bewusst geworden sind, der kann aus ihnen auch nicht lernen. Kinder, denen nie Grenzen gezeigt wurden; Jugendliche, deren Fehler – sei es Gewalt, Drogen oder auch nur Faulheit – nie sanktioniert worden sind, werden am Leben mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern. Erst das Erleben und Akzeptieren einer Krise schafft das Glück im Nachhinein. Fehler, Krisen, Katastrophen und Unfälle sind Teile des Lebens und der Gesellschaft. Politisches Ziel muss es daher sein, diese nicht als Schreckgespenster zur Panikmache und für grünes Sektierertum zu missbrauchen, sondern sie zwar als Fehlerquellen kenntlich zu machen, aber aus ihnen zu lernen und in der gebotenen Gelassenheit zu akzeptieren. Ein altes Sprichwort, das einem in diesem Zusammenhang nicht sofort einfällt, aber diese Erkenntnis dennoch treffend zusammenfasst, lautet: „Not macht erfinderisch“. Es sind die Krisen, die Notlagen, die Probleme, die das Beste aus uns herausholen, sei mit „uns“ nun die Gesellschaft als Ganzes gemeint oder wir als Einzelpersonen.

So schwer es uns und einem selber – der Autor nimmt sich davon übrigens nicht aus, man möge diesen Text also bitte nicht als moralischen Zeigefinger, sondern als Vorschlag verstehen – also manchmal auch fallen mag: Wir sollten einen gelasseneren und nachdenklicheren Umgang mit Krisen wagen. Oft genug haben wir dies auch selbst in der Hand: Nicht, wenn es um unmittelbare Gefahr für Leib und Leben geht; durchaus jedoch dann, wenn besonders psychologische Faktoren im Spiel sind – sei es im Rahmen des Finanzsystems, sei es in Form gesundheitlicher Krisen oder sei es in Form persönlicher, individueller Schicksalsschläge. Auch Krisen sind sozial konstruiert und entfalten daher ihre teils panik- oder zumindest angsterzeugende Macht über Wahrnehmungen, Interpretationen, Reflexe und Assoziationen, die jedoch dekonstruiert werden können. Sicher: Es wird nicht immer funktionieren. Gesünder und effektiver als in vorauseilender Panik und krampfhaft zu versuchen, jede Krise, jedes Unwohlsein, jedes Unglücklich-Sein von Vornherein zu verhindern (und dadurch alles nur noch schlimmer zu machen), ist dies jedoch allemal.

Florian Sander

Florian Sander ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er ist Mitglied der Landesprogrammkommission und des Landesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik der AfD in NRW sowie Kreisvorsitzender der AfD Bielefeld und Mitglied des Rates der Stadt Bielefeld. Er schrieb u. a. für ‚Le Bohémien‘, ‚Rubikon‘, ‚Linke Zeitung‘, den ‚Jungeuropa‘-Blog und ‚PI News‘, ist inzwischen Autor für ‚Arcadi‘, ‚Sezession‘, ‚Glauben und Wirken‘, ‚Wir selbst‘ und ‚Konflikt‘ und betreibt den Theorieblog ‚konservative revolution‘.

Cowboys und Indianer… Chinesen auch. Über Empörungsakrobaten, Dauerbeleidigte und „rassistischen“ Sprachgebrauch

von Hans Wulsten

Cowboys und Indianer… Chinesen auch. Über Empörungsakrobaten, Dauerbeleidigte und „rassistischen“ Sprachgebrauch.

Meine Eltern waren ja so was von ungerecht, also ich meine verständnislos, also bar jeden Gefühls, was ein Cowboy wirklich braucht. Einen Meuchelpuffer nämlich, ein Schießeisen. Vermutlich waren sie frühe Gutmenschen, jedenfalls bekam ich zwar eine Cowboyausrüstung, so mit allem drum und dran, Hut, Weste, Stulpen, Gürtel, Holster, aber eben ohne Schießeisen.

Mein Vater hatte Lehren aus dem Krieg gezogen… es sollte NIE WIEDER geschossen werden, von seinem Erstgeborenen schon gar nicht. Aber, so fragte ich mich, was ist ein Cowboy ohne Knarre? Ein Nichts.

Also nahm ich Stöckchen, sägte mir dann mit der Laubsäge eine Knarre, alles ungenügender Ersatz, und tauschte meine Murmeln mit gleichaltrigen Kollegen, die ein Schießeisen hatte. Dann ging die Ballerei los. NEIN, ich bin nicht traumatisiert, ich habe meinen Eltern verziehen.

Mein jüngerer Bruder hatte eine Patentante, die kam aus den USA zurück und brachte was mit? Richtig, „echte“ Colts. 2 Stück. Mit Knallplätzchen. Und so ballerte mein Bruder rum und niemand sagte etwas, es war ja ein Geschenk der Patentante.

Dafür hatte ich dann eine Echtfeder-Indianerhaube, Ausgabe großer Häuptling, die Federn gingen bis zum Po. Na jedenfalls kämpften wir wie die Wahnsinnigen und schlachteten bevorzugt die Rothäute ab. Unsere Nachbarn wateten in Blut. Ich schwöre.

Hugh! Ich habe gesprochen.

Also waren wir ständig irgendwie verkleidet. Nicht nur zum Fasching, den man in Berlin sowieso nicht so feiert. Später übrigens auch als Chinesen, sogar mit Zopf. Und als wir uns begannen, für die Römer zu interessieren, lief ich tagelang in einer Toga umher. Ich wurde zu einem freien römischen Bürger. Leider ließ meine Lateinnote zu wünschen übrig. Aber das gehört nicht hierher.

Wir benutzten das ganze abfällige Vokabular für die verschiedenen Ethnien, ich wiederhole das jetzt nicht, sonst sperrt mich Mark Zuckerwatte. Als Erwachsener habe ich dann richtige Indianer besucht, und in Kanada hatten wir Nachbarn, die waren Mi’kmaq.

Und in unserer Zeit in Kentucky hatten wir Knarren, aber so richtig tolle, die pusteten einem Truthahn den Trut aus der Birne auf eine Distanz von 300 Metern.

Aber worauf ich hinaus will: Mit meiner humanistischen Grundhaltung kam ich nie auf die Idee, in meinem/unseren Sprachgebrauch Rassismus zu sehen. Und in unserer Verkleidung auch nicht. Im Gegenteil: Gerade mit einer ethnopluralistischen Einstellung ist man neugierig auf andere Kulturen. Was aber nicht heißt, daß meine Tochter einen Indianer, pardon Native, heiraten muß und eine Squaw werden soll.

Es bleibt den Empörungsakrobaten, gelangweilten Dauerbeleidigten und Laberfächerstudierten vorbehalten, in allem und jedem Rassismus zu sehen. Wir jedenfalls haben uns zum Beispiel bei den „Schlitzaugen“ 5 Monate lang sauwohl gefühlt. Und trotzdem rotzen wir nicht auf die Straße.

Nun ist das Cowboy- und Indianerspiel momentan leider out. Geballert wird am PC oder an der Spielekonsole. Die Luft ist da nicht ganz so frisch und man bekommt auch wesentlich weniger Bewegung. Auch habe ich nur Enkeltöchter und die haben es mit der Ballerei nicht so.

Ich würde ja gerne nochmal meine Toga anziehen. Leider bin ich rausgewachsen… in der Breite. Aber selbst wenn, sollte sich ein Italiener empören, sage ich ihm glatt:

Ihr heutigen Spaghettifres… ähm Italiener habt mit den Römern so wenig gemein, wie ein friesischer Ackergaul mit einem römischen Streitroß. (Doch – ich liebe Italien)

So, nun habe ich passende Fotos gesucht und auf die Eile nix gefunden. Nur meine Brüder, der eine als Chinese, der andere als Cowboy.

Hugh!

Zum ersten Mal erschienen am 19. März 2021 auf der FB-Seite von Hans Friedrich, https://www.facebook.com/hans.friedrich.12532

Wir danken Hans Wulsten für die Veröffentlichungsgenehmigung.

„Hans Wulsten stammt aus Berlin, war Unternehmer, hat die halbe Welt bereist, schöpft aus Erfahrungen, sieht sich als radikal-paläolibertär und in der Tradition der Österreichischen Schule. Wulsten ist seit 25 Jahren glücklich mit der Russin Svetlana verheiratet und hat mir ihr zwei Kinder. „

Unser Titelbild ist ein Gemälde von Frederic Remington (1861-1909)

„Wer die Regierung kritisiert, ist Verfassungsfeind“

von Klaus Kunze

„Wer die Regierung kritisiert, ist Verfassungsfeind“

„Wer die Regierung kritisiert, ist Verfassungsfeind“. So hat es Verfassungsschutzpräsident Haldenwang nicht formuliert. Er handelt aber so und läßt jetzt die Querdenker nachrichtendienstlich beobachten.

Um einmal einen besonders ausgebufften Verfassungsfeind zu sehen, würde für ihn allerdings möglicherweise ein Blick in den Spiegel genügen. Warum das so ist, lesen Sie weiter unten noch. „Der Staat bin ich!“, hatte Ludwig XIV. das Wesen der absoluten Monarchie prägnant formuliert. „Der Staat sind wir!“ ist heute die Devise der Auftraggeber und Brotherren Haldenwangs.

Die Spitzenfunktionäre der Regierungsparteien halten sich heute selbst für „den Staat“. Kritik an ihren Maßnahmen sehen sie darum als Kritik am Staat an, namentlich an seiner freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Schon in einer Rede vom 13.5.2019 hatte Haldenwang als ihr oberster Paladin die Phrase von der „Delegitimierung des Staates“ als Merkmal angeblicher Verfassungsfeinde verkündet.

In den gesellschaftlichen Debatten, in die sich Extremisten eingeschaltet haben, verfolgen sie eine Delegitimierung des Staates. Sie stellen ihn als inkompetent und ohnmächtig dar und entwerfen Untergangsszenarien. […] Durch die Delegitimierung des Staates, die Verächtlichmachung des Systems sowie durch extremistische Deutungsmuster und Narrative können in der Gesellschaft das Vertrauen in den Rechtsstaat und in unsere freiheitliche demokratische Grundordnung schwinden, und der demokratische Mehrheitskonsens kann verschoben werden.

Rede von Präsident Thomas Haldenwang auf dem 16. BfV-Symposium in Berlin, 13.5.2019

Die VS-Keule gegen Querdenker

Das Bundesinnenministerium teilte am 28.4.2021 mit,

daß der Verfassungsschutz einzelne Akteure und Teile der Corona-Protestbewegung bundesweit mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet. Grund dafür sei die von ihnen betriebene “verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Die Stuttgarter Gruppe “Querdenken 711“ gilt als eine Art Keimzelle der mittlerweile bundesweit aktiven Protestbewegung.

beck aktuell 29.4.2021
Auch die öffentlich-rechtlichen Medien wie hier der Hessische Rundfunk kommen nicht mehr um die Berichterstattung herum: aber immer brav regierungsfromm.

Vor allem nerven Herrn Haldenwang immer wieder gezeigte Schilder, die vor einer „Merkel-Diktatur“ oder neuerdings „Corona-Diktatur“ warnen.

Unter anderem Vergleiche der Bundesrepublik mit Diktaturen, etwa mit dem NS-Regime oder der Staatsführung der DDR, hatten die Verfassungsschützer alarmiert.

ZEIT online 29.4.2021

Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß ein System delegitimiert, wer es als falschen Schein betrachtet. Artikel 20 Absatz 2 Grundgesetz befiehlt die Aufteilung der Staatsgewalt auf verschiedene Organe:

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“

Art. 20 IV GG

Verfassungsrechtlich ist die Gewaltenteilung das entscheidende Merkmal, deren Fehlen ein System zu einer Diktatur macht. So macht sich sofort verdächtig, wer mit dem Finger in der die offenen Wunde unseres Staates herumbohrt und nachweist, daß es bei uns um die Gewaltenteilung schlecht steht. Wer sich allerdings um die freiheitliche demokratische Grundordnung sorgt und mehr Gewaltenteilung verlangt, bekämpft diese nicht. Verfassungsfeind ist nur, wer „Diktatur!“ ruft, bloß um unseren Staat und unsere freiheitliche Ordnung zu stürzen und vielleicht seine eigene Diktatur zu errichten.

Nachdem der Bauer gestürzt wurde, etablieren die Schweine eine neue Diktatur: Die Angst sitzt ihnen aber im Nacken. (Aus dem Film „Animals Farm“ nach Georg Orwell)

An ihren Taten sollt ihr sie erkennen

Meiner Erfahrung nach haben die meisten Leute nur nebulöse Vorstellungen davon, was verfassungsrechtlich eine Diktatur ist. Als Demonstranten meinen sie es auch weder in einem verfassungsrechtlichen noch in einem staatsfeindlichen Sinn. Die Bundestagsparteien und ihre Regierung hingegen sind rechtlich beraten und wissen genau, was sie tun. Sie führen gern das Wort „Demokratie“ im Munde. Doch ihr tatsächliches Handeln greift an die Wurzeln unserer freiheitlichen demokratischen Grundordnung.

Eine strikte Trennung der für Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung vorgesehenen Institutionen haben wir ohnehin nicht. Vollends verblaßt die Erinnerung an die Gewaltenteilung, wenn uns Regierungsparteien, ihre Abgeordnetenmehrheit im Bundestag, der von ihr gewählte und stets abhängige Bundeskanzler und die Bundesverfassungsrichter allesamt derselben parteipolitischen Richtung angehören. Diese besteht zur Zeit aus einer sozialdemokratisch gewordenen Union und einer zum Sozialismus tendierenden SPD, die sich noch sozialdemokratisch nennt.

Zwar sind die Staatsorgane der Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung voneinander getrennt. Es sitzen aber überall die gleichen Leute. Noch in der Weimarer Republik hatte der Reichstag die Gesetze gemacht, und die Regierung hat sie vollzogen. Heute übernimmt der Bundestag das Regieren gleich mit. Der Freiburger Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek hat am 22.4.2021 eine Verfassungsbeschwerde gegen sie Neufassung des § 28b Infektionsschutzgesetz erhoben:

Ein wesentlicher Baustein des Systems rechtsstaatlichen Freiheitsschutzes ist die Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug, verbunden mit der Zuständigkeit unterschiedlicher Staatsorgane für Gesetzgebung und Vollziehung. Das pflichtenbegründende Gesetz muss prinzipiell abstrakt und generell sein. Das ist ein wesentliches Element der Sicherung von Gerechtigkeit und Ausschluss von Willkür.

Dietrich Murswiek, Verfassungsbeschwerde für Gebauer, Post u.a. vom 22.4.2021, S.24

Diese Neufassung regelt alle Maßnahmen bis ins Kleinste, die im Falle bestimmter sogenannter Virus-Inzidenzen zu treffen sind. Sie gebietet und verbietet unmittelbar und bewehrt Verstöße mit Bußgeldern.

Mit dem Grundsatz der Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesvollzug und somit von Legislative und Exekutive ist § 28b Abs. 1 IfSG nicht vereinbar. Da diese Vorschrift selfexecuting ist, sich also selbst vollzieht, fungiert der Gesetzgeber hier zugleich als Exekutivorgan. Der Gesetzgeber entscheidet selbst über die Vollziehung des Gesetzes, indem er in das Gesetz einen Vollzugsautomatismus einbaut. Die Entscheidung, die im gewaltenteilenden Rechtsstaat von dem für den Gesetzesvollzug zuständigen Exekutivorgan vorzunehmen wäre, hat der Gesetzgeber selbst programmiert, und sie wird dann durch den Inzidenzwert-Automatismus ausgelöst.

Dietrich Murswiek, Verfassungsbeschwerde für Gebauer, Post u.a. vom 22.4.2021, S.25

Die Regierungsmehrheit um Bundestag scherte sich einen Teufel um Verfassungsrecht und  Gewaltenteilung. Zugleich aber hält sie sich eine Regierung und diese sich einen obersten Verfassungsschützer, der Demonstranten bespitzelt, die „Diktatur!“ schreien.

Das Gesetz ist daher ein mit dem Rechtsstaatsprinzip prinzipiell unvereinbares Maßnahmegesetz. Es betrifft zwar nicht nur eine Person oder einen Einzelfall (wie bei einer Legislativenteignung), sondern es betrifft eine unbestimmte Vielzahl von Menschen; es enthält eine generelle Regelung. 25 Aber es ist auf eine bestimmte konkrete Lage zugeschnitten, nämlich auf das, was als die durch SARS-CoV-2 ausgelöste „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ bezeichnet wird; und es beschränkt sich nicht darauf, auf diese Lage bezogene abstrakt-generelle Regeln zu erlassen, die dann bei Vorliegen ihrer Voraussetzungen die Exekutive zu Freiheitseinschränkungen ermächtigen und gegebenenfalls auch verpflichten, sondern es legt selbst fest, welche Beschränkungen der Freiheit durch den Inzidenzwert-Automatismus ausgelöst werden. Damit usurpiert der Gesetzgeber eine Funktion, die im rechtsstaatlichen Gewaltenteilungssystem der Exekutive zusteht.

Dietrich Murswiek, Verfassungsbeschwerde für Gebauer, Post u.a. vom 22.4.2021, S.25

Bald wird das Bundesverfassungsgericht darüber entscheiden. Die Richter wurden durch den Richterwahlausschuß des Bundestages nach Parteipräferenz handverlesen. Wenn hier nicht richterliches Pflichtenethos über die Versuchung siegt, Liebkind zu bleiben und sich der Parteipolitik für noch höhere Ämter zu empfehlen, kann es nur eine klare Entscheidung geben: Den Verfassungsfeinden der Regierungskoalition ihr Gesetz metaphorisch um die Ohren zu hauen.

Mehr oder weniger Gewaltenteilung

Das Verfassungsrecht spricht von Diktatur, wo alle Staatsgewalt in einer Hand vereinigt ist. Darum gehört ihre Teilung zu den tragenden Grundsätzen unserer Verfassung. Sie hat aber zugleich einen Parlamentarismus eingeführt, in dem die Bundesregierung direkt und jederzeit und in der die Verfassungsrichter durch Wahlakt vom Bundestag abhängig sind. Um trotzdem soviel Gewaltenteilung wie möglich zu gewährleisten, bezeichnete man das System als eines der „checks and balances“, in welchem nicht zuletzt auch durch den Bundesrat ein Machtgleichgewicht hergestellt werden sollte.

Man darf sich die Verfassungswirklichkeit nicht als ein Entweder-Oder vorstellen. Wir haben nicht von heute auf morgen plötzlich eine Diktatur. Vielmehr können wir uns eine Skala mit einem Schiebe-Regeler vorstellen: Wir können ihn beliebig hin zu mehr Gewaltenteilung oder mehr in Richtung auf eine Diktatur hin- und herschieben. Die Neuregelung des Infektonsschutzgesetzes schiebt ihn deutlich von der Gewaltenteilung weg, ohne aber auf der anderen Seite den Anschlag zu erreichen. Unser Staat ist weder verfassungsrechtlich noch in seiner Verfassungswirklichkeit eine Diktatur.

Parlamentsdiktatur auf Dauer einer Legislaturperiode

Seine selbsternannten Staatsparteien fühlen sich aber in ihrem Machtanspruch so sehr mit dem Rücken zur Wand gedrängt, daß sie sich nicht mehr um die Verfassung scheren. Seit Jahrzehnten ist die institutionalisierte Machtballung in Händen immer derselben Parteien mehr als bedenklich. Wir befinden uns an einem Kipp-Punkt, der in eine Diktatur umschlagen könnte.

Das Verfassungssystem des Grund­gesetzes wirkt wie ei­ne Parlamentsdiktatur auf Dauer einer Legislaturperiode. Wer über die Mehr­heit im Bundestag ver­fügt, herrscht weit­ge­hend frei über die bei­­den wichtig­sten Staatsgewal­ten und un­terschei­det sich nur noch durch die organisatori­sche Aufteilung auf meh­rere Parteien in Form des Posten­ver­tei­lungskartells von der Parteidikta­tur. (1)

Die von Locke und Montesquieu ent­wic­kel­te Lehre zur Aus­balancierung der Gewalten ist eine typisch liberal-auf­klä­reri­sche Verfas­sungs­idee. Von dieser Lehre ist heute vor­nehm­lich der Grund­gedanke an­wend­bar geblie­ben: Die Idee, dem Bürger mög­lichst viel Si­cherheit zu geben, indem die Staats­be­fugnis­se auf ver­schie­dene Häup­ter verteilt werden. Sobald in ein und der­sel­ben Per­son oder “Beamtenschaft” die legislative Befugnis mit der exe­ku­tiven verbun­den werde, gebe es keine Freiheit. (2)

Dem englischen Vorbild fol­gend (3) sind die ge­setzge­ben­de Ge­walt und die Spitze der Exe­ku­tive in Bund und Ländern näm­lich in dop­pel­ter Weise mit­ein­an­der ver­schmolzen:

Zum einen wird nach Art.63 und 67 GG der Kanzler vom Bun­des­tag ge­wählt und kann von ihm jeder­zeit durch einen ande­ren er­setzt werden. Durch diesen Zustand ist die Bun­desre­gierung (Art.62 GG) tech­nisch auf die Funk­tion eines Parla­ments­aus­schus­ses be­schränkt. Da auch der Kanzler selbst – nicht zwangs­läu­fig rechtlich, aber prak­tisch – Par­laments­mit­glied ist, recht­fertigt sich für die­ses Regierungs­sy­stem der Begriff Parla­ments­re­gie­rung. Dieses parlamen­tarische Re­gierungssystem ist nicht zu ver­wechseln mit der par­la­men­ta­ri­schen De­mokra­tie. (4) Der erste Begriff ist eine ex­treme Un­ter­­­form des zweiten. Es wi­der­spricht der Lehre von der Ge­wal­ten­tei­lung und ver­­zerrt diese bis zur Unkennt­lich­keit. (5)

Im parlamentarischen Regierungssystem regiert das Parlament gleich selbst. Es beruht auf dem Gedanken der Repräsentation: Die Abgeordneten sollen das Volk repäsentieren. Alle macht geht vom Volke aus und damit weit von ihm weg. Das ruft Kritik immer dann hervor, wenn das Volk sich aus besonderem Anlaß entmündigt fühlt. Waren wir nicht einst alle mündige Bürger? Heute trauen viele dem parlamentarischen Regierungssystem nicht mehr. Der hessische Verfassungsschutz ist alarmiert:

Man beobachte zum Beispiel mit Sorge, dass bei entsprechenden Protestkundgebungen nicht nur Parlamente und Regierende, sondern auch Teile der Medien verächtlich gemacht werden und so zumindest indirekt die Pressefreiheit infrage gestellt wird. Dadurch könnte das Vertrauen in die repräsentative Demokratie beschädigt werden.

Volker Siefert, Auch hessischer Verfassungsschutz beobachtet “Querdenker”, Hessenschau 28.4.2021.

Mir kommen die Tränen der Rührung.

Das Grundgesetz kennt keine Vorkehrungen dagegen, daß ein und die­sel­be Partei die Ge­setze macht, anwendet und noch aus ihren Rei­hen Richter be­stimmt, die über die Auslegung des Ge­setzes zu wa­chen ha­ben. Es ist ge­gen­­über der Existenz politi­scher Partei­en fast blind, und in Ausnutzung dieses blinden Flecks konnten diese die Macht über Exekutive und Le­gislative voll­ständig und über die Recht­sprechung im aus­schlag­gebenden Teilbereich der Ver­fas­sungs­ge­richtsbar­keit und der oberen Ge­rich­te usurpie­ren.

Panajotis Kondylis erkannte

“zwei Grundformen von Nichtrealisierung der Gewalten­tei­lung”, von denen er unse­re beschreibt: “Die Legislative wird zwar vom sou­veränen Volk gewählt, wie auch immer dessen Zusammensetzung ausfällt, und als Re­präsentantin des Volks­willens trifft sie souveräne Entschei­dungen. Sie wird aber ihrerseits durch die stärkste poli­ti­sche Partei beherrscht, deren aus­führendes Organ faktisch die Re­gierung ist. Die stärkste Parteiführung dominiert also im Par­lament, sie kontrolliert die Exeku­tive, und sie bestimmt direkt oder indirekt die Zusammensetzung und die Zu­stän­digkei­ten der Judikative.” (6)

Panajotis Kondylis, Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin 1996, S. 96 f.

Alle Ge­wal­ten sind von Mitglie­dern der­sel­ben Parteien be­setzt. Sie kon­sti­tuieren letztlich den Staat und zwin­gen allen seinen Teilen ihre Ge­setzlichkeit auf. (7) Ihre “fettfleckartige Ausbreitung” (8)über alle staatlichen und halb­staat­li­chen Ein­flußbe­reiche bringt es mit sich, daß wir uns – wie im Mär­chen vom Ha­sen und vom Igel – am An­blick der Staatspar­tei­en tagtäglich er­freuen dürfen, sei es im Bun­destag, sei es in der par­tei­pro­portionier­ten Ver­wal­tung, bei den par­tei­pro­portio­nierten Ober­ge­richten oder im Medienbe­reich, dessen Chefses­sel heißbe­gehrte Beu­testücke der Parteien sind.

Das Staats-Parteien­system hat die klas­si­sche Ge­walten­teilung außer Kraft ge­setzt, (9) weil alle Ge­wal­ten glei­chermaßen von par­tei(an)ge-hörigen Seil­schaf­ten durch­setzt sind, de­nen Par­tei­räson vor Staatsräson geht. Der Par­teienstaat läßt die Ge­waltentei­lung “un­wirk­lich und fas­sa­den­haft” erschei­nen. (10)

Weiß das Herr Haldenwang nicht?


(1) Vierhaus, Zeitschrift für Rechtspolitik 1991, 473.

(2) Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, S.212 = 11.Buch, 6.Kapitel.

(3) Vgl. Emil Hübner, Ursula Münch, Das politische System Großbritanniens, Eine Einführung, München 1998: Die Regierung wirke als Exekutivausschuß des Parlaments, der mit Hilde sei­ner Mehrheit im Unterhaus auch über das legislative Recht verfügt. Die Gewaltenteilung in ih­rer reinen Form existiere schon lange nicht mehr.

(4) Roman Herzog, in Maunz-Dürig-Herzog, Art.20 GG, II. Rdn.78, 79.

(5) Roman Herzog, in M-D-H, Art.20 GG, V. Rdn.28 unter c).

(6) Panajotis Kondylis, Montesquieu und der Geist der Gesetze, Berlin 1996, S. 96 f.

(7) Hans Herbert von Arnim, Staat ohne Diener, 1993, S.107.

(8) Richard von Weizsäcker a.a.O., Wird unsere Parteiendemokratie überleben? 1983, S.155.

(9) Erwin Scheuch, Cliquen, Klüngel und Karrieren, S.12 Fn.5, nach Wilhelm Hennis, Überdehnt und abgekoppelt – An den Grenzen des Partei­enstaa­tes, in: Christian Gr.v. Krockow (Hrg.), Brauchen wir ein neues Partei­ensystem, Frankfurt 1983.S.32.

(10) Werner Weber, zit. nach Arnim, Staat ohne Diener, S.107.

Dieser Beitrag ist auch unter dem Titel „Wer die Regierung kritisiert, ist Verfassungsfeind“ auf Klaus Kunzes Blog erschienen: http://klauskunze.com/blog/2021/05/01/wer-die-regierung-kritisiert-ist-verfassungsfeind/:

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Klaus Kunze

Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

Und das neue Werk von Klaus Kunze ist nun auch lieferbar: Die solidarische Nation. Wie Soziales und Nationales ineinandergreifen. Gebundene Ausgabe, 206 Seiten, Preis: 19,80 Euro ist hier erhältlich: https://lindenbaum-verlag.de/produkt/die-solidarische-nation/

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Klaus Kunze: Identität oder Egalität. Vom Menschenrecht auf Ungleichheit. Hier erhältlich!

Klaus Kunze: Das ewig Weibliche im Wandel der Epochen. Von der Vormundschaft zum Genderismus. Hier erhältlich!

Schlesien heute – Spuren der deutschen Vergangenheit

Zeitschriftenkritik von Werner Olles

Schlesien heute – Spuren der deutschen Vergangenheit

Über deutsche Spuren in Breslau berichtet Marie Baumgarten in ihrem Beitrag „Unter dem Putz das deutsche Breslau – wachsendes Interesse an Spuren der Vergangenheit“ in der aktuellen Ausgabe (Nr. 270, 4/2021) der monatlich im 24. Jahrgang erscheinenden Zeitschrift „Schlesien heute“ (Untertitel „Mit Blick auf die östlichen Nachbarn“).

Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „Schlesien heute“

War bis zur Wende 1989 in Polen noch alles Deutsche tabu und saßen die Ressentiments gegen den vermeintlich ewigen Feind tief, hat sich dies nun langsam geändert. Inzwischen entdecken junge Polen das deutsche Erbe ihres Landes neu, wie Maciej Wlazlo aus Breslau, ein Jurist, der jedoch im Herzen ein Künstler ist und mit seiner Fotokamera durch die Straßen Breslaus zieht, und sich für die jahrzehntelang tabuisierte Vergangenheit seiner Stadt interessiert. Tatsächlich erzählen die Fassaden der alten Bürgerhäuser noch immer davon, daß die niederschlesische Metropole einmal eine andere Nationalität hatte, eine deutsche. In der Odervorstadt, einem Kultviertel mit Galerien, Cafés und Restaurants findet er einige seiner Lieblingsmotive. Da das Viertel in Zweiten Weltkrieg kaum zerstört wurde, sind noch viele deutsche Aufschriften erhalten. Für Maciej sind sie eine faszinierende Erinnerung daran, wie aus der deutschen die polnische Stadt Breslau wurde und sich bei seiner Suche nach und nach eine andere Stadt, mehr und mehr weiße Flecken, die darauf warteten entdeckt und erzählt zu werden, vor seinen Augen enthüllten. Die Geschichte Breslaus ist über eintausend Jahre alt. Entstanden auf slawischem Gebiet, wird die Stadt bis zum Ende des 2.Weltkriegs von einer mehrheitlich deutschsprachigen Bevölkerung geprägt, ist aber zugleich Schmelztiegel vieler Kulturen und Religionen. Im Jahr 1945 wird Breslau gemäß dem Potsdamer Abkommen unter polnisch-kommunistische Verwaltung gestellt. Dann wird damit begonnen, alles Deutsche auszuradieren. Und in der Folge wird auch fast die gesamte deutsche Bevölkerung der Stadt vertrieben. Der starke Kolonialisierungsdrang nach dem Krieg verfälschte oder verschwieg die Geschichte Breslaus. Das soll sich nun ändern, sagt Maciej: „Wir haben angefangen, uns für diese Geschichte zu interessieren. Wir sollten uns dessen bewußt sein, daß in diesen Gebäuden einst andere Menschen gelebt haben. Wir sind die neuen Eigentümer, wir sollten die Identität dieser Stadt, ihr kulturelles Erbe und vor allem ihre Geschichte pflegen. Heute sind wir dafür verantwortlich“.

Schloss Fürstenstein um 1860, Sammlung Alexander Duncker

Über ein „Juwel im Waldeburger Land“, die alte Burg Fürstenstein, erzählt der Beitrag von Iza Liwacz. Die malerische Burgruine aus dem Ende des 18. Jahrhunderts stellt ein ausgezeichnetes Wanderziel für diejenigen dar, die es bevorzugen, allein wildromantische Landschaft zu erkunden und Stille zu finden. Gebaut von Hans-Heinrich IV. von Hochberg, empfing man auf der schloßartigen Burg illustre Gäste und veranstaltete Spiele. Schon im Jahr 1800 organisierte man auf dem Burggelände ein Turnier des schlesischen Adels zu Ehren des preußischen Königspaares, Friedrich Wilhelm III. und Königin Louise. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trafen Touristen und Kurgäste aus dem benachbarten Bad Salzbrunn ein. Noch bis zum Zweiten Weltkrieg konnten sie im Erdgeschoß der Burg übernachten oder im Wirtshaus ihren Hunger stillen und die Sammlung der Familie von Hochberg besichtigen. Nach dem Einmarsch der Roten Armee 1945 ging die Burg in Flammen auf. Heute präsentiert sich die Anlage als eine romantische Burgruine, die zum Teil durch einen unter Naturschutz stehenden dunkelgrünen Efeu bewachsen wurde. Es sind stumme Zeugen einer nicht immer einfachen Geschichte des Landes. Dennoch macht die Anlage einen guten, gepflegten Eindruck.

Carl Ernst Morgenstern, Schneegruben und Veilchespitze, 1910
Carl Ernst Morgenstern, Schlingelbaude mit Schneekoppe, Ansichtskarte

Jürgen Karwelat schreibt über das Leben des Landschaftsmalers Karl Ernst Morgenstern, einem der bekanntesten Riesengebirgsmaler. Morgenstern war nicht nur bekannt wegen seiner Landschaftsgemälde, sondern vor allem dafür, daß er ab 1899 die Vorlagen für Ansichtskarten lieferte. Es war die Zeit des beginnenden Massentourismus. Das Riesengebirge und die Schneekoppe gehörten zu den bedeutendsten touristischen Zielen Preußens. Karl Morgenstern war nicht der erste und erst recht nicht der letzte Künstler, der von der eigentümlichen, die Seele berührenden Landschaft im Hirschberger Tal beeindruckt war. Zu den bekanntesten zählte der berühmte Landschaftsmaler der Romantik, der aus Greifswald stammende Caspar David Friedrich. Hunderte von Künstlern hat das Riesengebirge fasziniert und zu vielfältigen Werken inspiriert. Im „Morgenstern-Haus“ in Krummhübel wird die Erinnerung an den Namensgeber wachgehalten. Auf einer Informationstafel hat die Gemeinde hervorgehoben, daß die von Morgenstern gestalteten Postkarten weite Verbreitung erzielten, und er wird als der „König der Postkarten“ bezeichnet.

Kontakt: Senfkorn Verlag Alfred Theisen, Brüderstr. 13, 02826 Görlitz. Das Einzelheft kostet 4 Euro, das Jahrsabo 45 Euro. www.schlesien-heute.de

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Werner Olles

Werner Olles

Werner Olles, Jahrgang 1942, war bis Anfang der 1980er Jahre in verschiedenen Organisationen der Neuen Linken (SDS, Rote Panther, Jusos) politisch aktiv. Nach grundsätzlichen Differenzen mit der Linken Konversion zum Konservativismus und traditionalistischen Katholizismus sowie rege publizistische Tätigkeit in Zeitungen und Zeitschriften dieses Spektrums. Bis zu seiner Pensionierung Angestellter in der Bibliothek einer Fachhochschule, seither freier Publizist.

Autor der Bücher:

Grenzgänger des Geistes. Vergessene, verkannte und verfemte Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Feindberührungen – Wider den linken Totalitarismus!

Die Kühlerfigur des Westens: Alexej Nawalny

von Florian Sander

Die Kühlerfigur des Westens: Alexej Nawalny

Kühlerfiguren sind die glänzende Zierde teurer Autos mit zumeist wohlhabenden Besitzern und Passagieren. Autos mit Kühlerfigur machen zumeist etwas her. Sie zu fahren, bedeutet Wohlstand und Prestige. Kühlerfiguren sind zugleich – und gerade wegen dieser auffällig symbolischen Rolle – die ersten Opfer all derer, die auf offene Prestigesymbolik und Zurschaustellung von Wohlstand allergisch reagieren. Noch vor den zerstochenen Reifen, noch vor dem zerkratzten Lack, erst recht noch vor schlimmeren Delikten kommt, in Sachen Häufigkeit, das Abbrechen der Kühlerfigur, was dem Delinquenten buchstäblich oft „mal eben“, im Vorbeigehen möglich ist, sofern der jeweilige Autohersteller keine Option für den Besitzer eingebaut hat, die Figur oder das Symbol zeitweilig abzuschrauben.

Alexei Nawalny erfüllt alle Kriterien einer Art „politischen Kühlerfigur“ auf der Luxuskarosse der westlichen Welt, wie diese sie sich dutzendfach in Staaten hält, die bislang nicht ihrer Hegemonie unterworfen sind. Die politische Kühlerfigur ist schillernd und glamourös, steht stellvertretend für einen prachtvollen westlichen Anhang, der – wie die chauffeurgesteuerte Luxuskarosse – die hoffnungsversprechende Mixtur aus Wohlstand, Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft beinhaltet. Zugleich zieht sie die Aufmerksamkeit aller auf sich, die von glanzvollen Oberflächen fasziniert sind, die in den hohen Sphären feinsinniger westlicher Liberalität schweben: Anywheres. Andere hingegen möchten nichts mehr als genug zu essen, Arbeit, Gesundheit, Familie und Mobilität. Ob mit oder ohne glänzende Kühlerfigur ist eben diesen Somewheres egal; zur Not tut es auch der Gebrauchtwagen. Hauptsache, er fährt.

Was wir bereits beim sogenannten Arabischen Frühling im Jahre 2011 erleben durften; ja, was sogar schon bei der Studentenrevolte 1968 galt, gilt auch heute wieder, bei den Protesten in Russland: Die oft so lauten und von der westlichen Presse oft so bejubelten Massenproteste für „Freiheit und Demokratie“ sind in der Regel Demonstrationen einer lauten Minderheit. Echter Wandel kommt zumeist eher mit ökonomischen Krisen, die auch die Lebensverhältnisse der Mehrheit tangieren. Derlei ist im Rußland des Jahres 2021 trotz US-interessenbasierter westlicher Wirtschaftssanktionen nicht in Sicht.

Westliche Kühlerfiguren sind oftmals propagandistische Blendwerke, die zur Spaltung und Provokation der adressierten Staaten und ihrer Gesellschaften ebenso gedacht sind wie zur liberalen Selbstvergewisserung der Gesellschaften der westlichen Hemisphäre. Um die Etablierung von „Freiheit und Demokratie“ geht es in den allermeisten Fällen genauso wenig wie bei der US-unterstützten Installation von Augusto Pinochet in Chile. Faktisch geht es um geostrategische und ökonomische Interessen, wie sie sich im Falle der USA in der erwünschten Verhinderung des Nord-Stream-2-Projektes zugunsten des Handels mit US-Fracking-Gas manifestieren. Ein Zusammenhang, über den in der und durch die moralinsaure westliche Presse ebenso regelmäßig hinweggetäuscht wird wie die glänzende Kühlerfigur den Gestank der Abgase eines Rolls-Royce vergessen macht.

Nawalny selbst spiegelt den Wandel des Westens vom Kalten Krieg bis heute fast symbolhaft wider. Gestartet ist der 44-jährige als bekennender Nationalist und Vorsitzender einer nationalliberalen Partei. Um 2013 herum zog er mehr und mehr die positive Aufmerksamkeit des Westens auf sich. Seit dieser Zeit distanzierte er sich Stück für Stück von seinen früheren rechten Positionen. Die westliche Unterstützung wuchs, ebenso wie sich die Schlinge der Justiz zunehmend zuzog; insbesondere infolge mehrerer Betrugs- und Veruntreuungsvorwürfe gegen Alexei Nawalny und seinen millionenschweren Bruder Oleg. Westliche Medien sprachen von „politisch motivierten Verfahren“.

Spätestens nach dem Nervengift-Anschlag auf Nawalny 2020 und nach seiner erneuten Verhaftung 2021 haben USA und transatlantische Presse ihren Ansatzpunkt gefunden, um moralummantelte Geo- und Energiepolitik zu betreiben. Man empört sich über das Abbrechen der Kühlerfigur beim Parken im sozialen Brennpunkt – und glaubt so endlich eine Legitimation zu haben, dessen ungeliebte Sozialwohnungen durch eine profitable Fast-Food- Filiale ersetzen zu können. Doch so wirkmächtig die Kräfte der liberalen McDonaldisierung auch sein mögen – Rußland ist kein instabiler Nahost-Staat und hat sich schon oft als renitent gegen westliche Interventionen erwiesen. So möglicherweise auch diesmal.

Unser Titelbild zeigt: Der Recke am Scheideweg von Viktor Michailowitsch Wasnezow

Florian Sander

Florian Sander ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er ist Mitglied der Landesprogrammkommission und des Landesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik der AfD in NRW sowie Kreisvorsitzender der AfD Bielefeld und Mitglied des Rates der Stadt Bielefeld. Er schrieb u. a. für ‚Le Bohémien‘, ‚Rubikon‘, ‚Linke Zeitung‘, den ‚Jungeuropa‘-Blog und ‚PI News‘, ist inzwischen Autor für ‚Arcadi‘, ‚Sezession‘, ‚Glauben und Wirken‘, ‚Wir selbst‘ und ‚Konflikt‘ und betreibt den Theorieblog ‚konservative revolution‘.

Leidet Deutschland an moralischer Altersschwäche?

von Klaus Kunze

Leidet Deutschland an moralischer Altersschwäche?

Daß auch der Seelenschatz so vielen abgerungen”

Ein Volk kann sich bis zur Erschöpfung verausgaben. Uns wurde zwischen 1914 und 1945 alles an materiellen und seelischen Opfern abverlangt. Zuletzt verloren wir noch den Glauben an uns selbst. Uns war, wie zuletzt nach dem 30jährigen Krieg 1618-1648 „der Seelen Schatz abgerungen“, wie Andreas Gryphius dichtete:

Wir sind doch nunmehr ganz,
ja mehr denn ganz verheeret:
Der fremden Völker Schar,
die rasende Posaun,
Das von Blut fette Schwert,
die donnernde Kartaun
Hat allen Schweiß und Fleiß
und Vorrat aufgezehret.

Die Türme stehn in Glut,
die Kirch’ ist umgekehret,
Das Rathaus liegt in Graus,
die Starken sind zerhaun,
Die Jungfern sind geschänd’t,
und wo wir hin nur schaun,
Ist Feuer, Pest und Tod,
der Herz und Geist durchfähret.

Hier in der Schanz der Stadt
rinnt allzeit frisches Blut.
Dreimal sind schon sechs Jahr,
als unser Ströme Flut
Von Leichen fast verstopft,
sich langsam fortgedrungen.

Doch schweig ich ganz von dem,
was ärger als der Tod,
Was grimmer denn die Pest
und Glut und Hungersnot:
Daß auch der Seelenschatz
so vielen abgerungen.

Andreas Gryphius (1616-1664)

Zum Seelenschatz gehörte 1945 vor allem der Glaube an uns selbst. Die Überlebenden empfanden gegenüber allen Idealen ein überwältigendes „Ohne mich!“  

Die historische Substanz ist verbraucht. Man nimmt nichts mehr ernst außer den groben Genüssen und dem, was der Alltag abverlangt. Der soziale Körper gleicht einem Pilger, der, von der  Wanderung erschöpft, sich zur Ruhe begibt.

Ernst Jünger, Eumeswil, 1977, S.66

Sie glaubten nicht mehr an eine „deutsche Sendung“, an ein deutsches Wesen, an welchem mittels seiner Dichter und Denker einst „die Welt genesen“ sollte.“

Entideologisierung und Reideologisierung

Auf jeden Zusammenbruch einer geistig-moralischen Orientierung folgt nach einer gewissen Pause eine ideologische Neuorientierung. Gesetzmäßig folgen Epochen hoher Ideologisierung und Ent-Ideologisierung aufeinander. Auf die Ent-Täuschung der idealistischen Kriegsgeneration und ihr Ohne-mich folgte seit 1968 eine heftige Re-Ideologisierung.

Diese kehrte die Prämissen um, stellte alle Ideale auf den Kopf und fand just alles dasjenige moralisch, daß zuvor als verbrecherisch gegolten hatte, und erhob das vormals Verwerfliche zum neuen Ideal. Ihre Faustegel lautete: Es ist immer das Gegenteil von dem richtig, was für „die Nazis“ Verpflichtung bedeutet hatte.

Unter dem Druck moralisierender Schuldvorwürfe wollte man gern seinem Schicksal entkommen, Deutscher zu sein, und flüchtete sich in moralisierenden Internationalismus.

Vaterlandsliebe fand ich stets zum Kotzen. Ich wußte mit Deutschland noch nie etwas anzufangen und weiß es bis heute nicht.

Robert Habeck, Patriotismus: Ein linkes Plädoyer, 2010.[1]

Die billigste Methode, die kollektive „Vergangenheit zu bewältigen“, bestand in der Leugnung, mit ihr noch irgendetwas zu tun zu haben. „Deutsch?“, fragen Leute wie Habeck, „was soll das eigentlich sein. Das gibt es eigentlich gar nicht. Es ist bloß ein Konstrukt.“ Noch vor den Klimaleugnern, den Coronaleugnern und anderen Leugnern waren die Aussteiger aus dem deutschen Volk die ersten, die Volksleugner.

Charakteristisch ist, daß sie nicht mehr in der Lage sind, sich als Deutsche, als eigenes Volk mit eigentümlichen Merkmalen einzuschätzen.

Hellmut Diwald, Geschichte der Deutschen, 1978, S.123.

Gleichzeitig aber benötigen die gleichen Leute wieder das deutsche Volk als Kollektiv, um ihm spezielle moralische und finanzielle Lasten aufzuerlegen, aus „unserer besonderen historischen Verantwortung“. Alles Leugnen nützt nichts, denn

vor einer deutschen Not kannst Du Dich nirgends verstecken auf der Erden, wenn Du ein Deutscher bist – sie findet Dich doch.

Hans Grimm, Suchen und Hoffen, 1960, S.19.

Sie findet uns allerdings in heller Auflösung, denn den Volksleugnern genügt nicht, das Volk, das es als bloßes Konstrukt angeblich gar nicht gibt, zu leugnen. Sie müssen es zerstören, weil sie sich als Deutsche und damit ihr Land im Stillen neurotisch hassen. In guter deutscher Tradition gingen sie nach 1933 jetzt, in der Nachkriegszeit, erneut in eine Falle, nur war der Fallensteller nicht mehr derselbe. Sie fielen dem denkbar subtilsten Angriff zum Opfer, dem moralischen:

“Es ist die bedeutendste geschichtliche Leistung einer Nation, sich überhaupt für eine so verfaßte geschichtliche Einheit zu halten, und den Deutschen ist sie nicht geglückt. Die Selbsterhaltung schließt die geistige Behauptung und das Bekenntnis einer Nation zu sich selbst vor aller Welt ebenso ein wie die Sicherheit im großpolitischen Sinne, und diese besteht in der Macht eines Volkes, den physischen wie den moralischen Angriff auf sich selbst unmöglich zu machen.”

Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral; 1986, S.103.

“Der Feind muß aufhören, an sich zu glauben!”

Der Dichter Hans Grimm erinnerte sich aus der Zeit des 1. Weltkriegs

an einen Kriegsaufsatz des Student of War in der Times. Der Aufsatz beschäftigte sich mit gewissen englischen propagandistischen Unternehmungen. Er enthielt den Satz: »Die Moral des deutschen Feindes muß gebrochen werden. Es ist der Verlust an Moral, nicht der Verlust an Boden oder an Menschen oder an Material, was Sieg oder Niederlage ausmacht. Der Feind muß aufhören, an sich zu glauben.«

Hans Grimm, Suchen und Hoffen, 1960, S.146.

Der anglophile Grimm nahm sich ein Beispiel an den Engländern und legte uns an Herz, „daß ein Volk sich zu keiner Zeit selbst verneint, daß ein Volk sich so wenig selbst verneint, wie die Engländer.“[2]

Genau diese Selbstverneinung bildet das Hintergrundrauschen aller linker Politk, von der SED (Die Linke) über die Grünen bis weit in die SPD. Sie kulminiert in der eigenen Abschaffung. „Thorsten Hinz hatte in seinem 2011 erschienenen Werk über die „Psychologie der Niederlage“ eine ähnliche These vertreten wie Richter und Ulrich. Die deutsche Nachkriegsidentität beruhe demnach auf einem kollektiven geistig-moralischen Schuldgefühl sowie auf der Annahme, daß die deutsche Kultur als Ganzes durch die Verbrechen des Nationalsozialismus diskreditiert sei. Dadurch sei eine Situation entstanden, in der eine Nation sich selbst verneine und eine auf ständiger Selbstverneinung beruhende Politik betreibe, die selbstdestruktiv wirken müsse.“[3]

Gegenüber allem neurotischen Selbsthaß können wir als Volk und als Staat mit demokratischer Selbstbestimmung nur überleben, wenn wir unsere gebrochene Identität wiederherstellen und die gesamte Schuldmetaphysik abstreifen, die uns einredet, wir seien moralisch oder in irgendeiner anderen Weise minderwertig. Wir müssen um unsere Moral kämpfen wie um unsere letzte Bastion –  um unsere, nicht um deren Moral. Uns droht sonst, was Christian von Massenbach schon 1795 angesichts der vorrückenden französischen Armeen fürchtete:

Von der Überzeugung, daß Deutschland untergehen werde, niedergedrückt, gebe ich hier nur einige Ideen an, wie vielleicht noch einem edeln Volk geholfen werden könne. … Die Geschichte der künftigen Jahrhunderte wird keine Germanier mehr nennen. – Unglückliches deutsches Vaterland!
Potsdam, im November 1795

Christian von Massenbach, Memoiren zur Geschichte des preußischen Staates, S.460.

Unsere Aufgabe besteht darin, alles zu fördern, was unsere Identität stärkt: unsere Kultur, unsere freiheitliche demokratische Lebensform, die Erinnerung an unsere große Geschichte und nicht zuletzt unsere Sprache.

In einer Endzeit, in der es als rühmlich galt, am Untergang des eigenen Volkes mitgewirkt zu haben, konnte es nicht wundernehmen, daß man auch der Sprache die Wurzeln kappte. Geschichtsverlust und Sprachverfall bedingen sich gegenseitig. […] Sie fühlen sich berufen, einerseits die Sprache zu entlauben und andererseits dem Rotwelsch Anstand zu verleihen. So rauben sie unten mit dem Vorwand, das Sprechen zu erleichtern, dem Volk die Sprache und mit ihr die Dichtung, während sie auf den Höhen ihre Fratzen aufstellten. Der Angriff auf die gewachsene Sprache und Grammatik, auf Schrift und Zeichen, bildet einen Teil der als Kulturrevolution in die Geschichte eingegangenen Vereinfachung. Der Erste Weltstaat warf seine Schatten voraus.

Ernst Jünger, Eumeswil, 1977, S.93.

Dieser Weltstaat ist der emotionale Bezugs- und Fluchtpunkt der entnationalisierten Kosmopoliten. In ihm werden wir unsere Freiheit und unsere Identität verlieren. Wer den Kampf um seine Freiheit und seine Idenität noch nicht aufgegeben hat, für den gilt das Dichterwort:

Du sollst an Deutschlands Zukunft glauben,
an deines Volkes Auferstehn!
Laß diesen Glauben dir nie rauben
trotz allem, allem, was geschehn.

Und handeln sollst du so als hinge
von dir und deinem Tun allein
das Schicksal ab der deutschen Dinge,
und die Verantwortung wär’ dein!

Albert Matthäi

Es hatte gegolten für jene Studenten der Lützower Jäger, die 1813 in einem besetzten, ausgeplünderten und erniedrigten Deutschland ihre Moral und ihren Lebenswillen gegen die Siegermoral der Besatzungstruppen richteten. Ohne einen konsequenten Abbruch der gegnerischen Ideologeme, ihrer Moral und ihrer täglichen Repression wird es keinen neuen Aufbruch wie 1813 geben.

Ferdinand Hodler schuf 1908 das Gemälde in der Aula der Universität Jena vom Aufbruch der Lützower Jäger zum Befreiungskampf gegen die Truppen Napoleons (Wikimedia Commons, gemeinfrei)

[1] Das Zitat lautet im Kontext vollständig: „Als Adressat und Verbindung zwischen den Gegensätzen, zwischen ‚Liberalität‘ und ‚Paternalismus‘, zwischen ‚verantwortungsvoll‘ und ‚kreativ‘, zwischen ‚Bürger‘ und ‚Konsument‘ braucht man ein positives Gesellschaftsverständnis. Man braucht es, um eine sinnstiftende, politische Erzählung zu schaffen, die Zutrauen und Zuversicht gibt, dass Veränderungen gut sind und es sich lohnt, für sie zu streiten. Man braucht eine Erzählung, die auf Veränderung setzt, auf Gerechtigkeit und Internationalität. Dieses Engagement nenne ich einen ‚linken Patriotismus‘. Ich schreibe das in vollem Bewusstsein, dass ich Widerspruch provozieren werde. Patriotismus, Vaterlandsliebe also, fand ich stets zum Kotzen. Ich wusste mit Deutschland nichts anzufangen und weiß es bis heute nicht.“

[2] Hans Grimm, Suchen und Hoffen, 1960, S.125

[3] Renovatio 8.4.2021.

Dieser Beitrag ist auch unter dem Titel „Leidet Deutschland an moralischer Altersschwäche“ auf Klaus Kunzes Blog erschienen: http://klauskunze.com/blog/2021/04/10/leidet-deutschland-an-moralischer-altersschwaeche/

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Klaus Kunze

Klaus Kunze, seit 1984 selbständiger Rechtsanwalt in Uslar, von 1970-71 Herausgeber eines Science-Fiction-Fanmagazins, von 1977 bis 1979 Korrespondent der Zeitung student in Köln, seit 1978 diverse Beiträge in genealogischen und heimatkundlichen Fachzeitschriften, seit 1989 Beiträge für politische Zeitschriften wie u. a. die Wochenzeitung JUNGE FREIHEIT

Autor der Bücher:

Und das neue Werk von Klaus Kunze ist nun auch lieferbar: Die solidarische Nation. Wie Soziales und Nationales ineinandergreifen. Gebundene Ausgabe, 206 Seiten, Preis: 19,80 Euro ist hier erhältlich: https://lindenbaum-verlag.de/produkt/die-solidarische-nation/

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Empathie und Verstehen im politischen Diskurs

Empathie und Verstehen im politischen Diskurs

von Florian Sander

Beobachtung zweiter Ordnung als diskursives Instrument

In politischen Debatten sind Emotionen an der Tagesordnung. Die Stimme wird lauter, man unterbricht sich mitunter gegenseitig, wird unter Umständen polemisch. Bei schriftlich geführten Diskussionen, gerade in sozialen Netzwerken, bei YouTube oder in Kommentarfeldern von Blogs und Online-Medien, geschieht das gleiche: Ausrufungszeichen häufen sich, Beleidigungen vermehren sich. Die schützende Anonymität des Internets begünstigt das Phänomen – egal, auf welcher Seite des politischen Spektrums: Unter Videos, die in YouTube eingestellt werden (seien sie nun politischer oder ganz anderer Natur), stapeln sich geradezu Kommentare, die nur so strotzen vor Beschimpfungen, Bedrohungen, Vulgärausdrücken und anderen Inhalten, die an der Mündigkeit der Nutzer oft gewisse Zweifel aufkommen lassen. Der Debattenkiller Nazi-Vergleich ist dabei noch eines der harmloseren „Stilmittel“. Politische Diskussionen werden somit de facto zur Qual, konstruktive Ergebnisse unmöglich.

Das Internet eröffnet dabei zwar neue Kommunikationswege und wichtige Gegenöffentlichkeiten; zugleich werden diese hoffnungsvollen Instanzen aber zu nicht-sanktionierten Artikulationswegen asozialer Kommunikation pervertiert, in der Beschimpfungen und Drohungen dominieren. Langfristig führt dies zu einem qualitativen Niedergang der politischen Kultur und zum Ende konstruktiver Diskurse. Und nicht nur das: Dem politischen Establishment wird dadurch eine Waffe gegen konservative und rechte Akteure in die Hand gegeben, da es dadurch mit dem Verweis auf vermeintliche „Hassreden“ – die eigentlich eher „Wutreden“ sind, die früher eben am Stammtisch stattfanden anstatt im Netz – unter dem Beifall der Mainstream-Medien Zensurgesetze beschließen kann und die großen Datenkraken-Konzerne des Silicon Valley und die ihnen zugehörigen sozialen Netzwerke darauf basierend ihre globalistische Agenda repressiv durchsetzen können.

Reflexion – Empathie – Verstehen

Was also tun? Fehlverhalten in Debatten und fehlende Diskussionskultur wurzeln tief und liegen nicht selten in Psychologie und Sozialisation begründet. Eine besonders wichtige Beobachtung ist dabei die besondere Rolle dessen, was man gemeinhin als Reflexion oder, im Falle des Gelingens, auch als Empathie bezeichnet. Es geht darum, sich in andere hineinzuversetzen, auch wenn dies sicherlich ein soziologisch untauglicher Begriff ist, da psychische Systeme stets nur voneinander getrennt existieren können und sich daher niemand in den anderen direkt „hineinversetzen“ kann.

Der Soziologe Niklas Luhmann bezeichnete es präziser als „Beobachtung zweiter Ordnung“: Diese zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, zu beobachten, wie wiederum andere beobachten. Dies macht die Komponente des Verstehens in der Kommunikation aus: Man vollzieht nach, auf der Basis welcher ihm eigenen Rationalität der andere zu seiner Meinung kommt, indem man beispielsweise seine Lebensumstände bedenkt, seine soziale Situation, seine Sozialisation. Man kalkuliert das mit ein, was die Anthropologin Mary Douglas als „cultural bias“ bezeichnet hat: Die Prämissen, mit denen der andere an das Leben als solches herangeht, seine Vorstellungen von dem, was erstrebenswert ist und von dem, was bedrohlich ist. Gelingt dies, so gelingt die Beobachtung zweiter Ordnung. Diskutanten, die sich auf diese Weise verhalten, können gelassener miteinander umgehen, da sie einander die jeweils eigene Logik und somit die jeweils eigene politische Schlussfolgerung und Position zugestehen, ohne sie deswegen automatisch teilen zu müssen.

Grenzen der Moralkommunikation

Wer diese Fähigkeit besitzt, der ist imstande, mit Menschen aus verschiedensten politischen Lagern nicht nur sachlich debattieren zu können, sondern – man stelle sich vor – sogar mit ihnen persönlich befreundet zu sein, ohne dass politische Diskussionen pausenlos in persönliche Beschimpfungen und Freundschaftskündigungen ausarten müssen. Ja, man ist sogar imstande, Diskussionen – nicht allen, aber den meisten – mit einer größeren Gelassenheit entgegen zu treten. Natürlich: Manch einer wird dies zweifellos als Fatalismus und Gleichgültigkeit einschätzen. Das Gegenteil jedoch ist der Fall: Wer in zweiter Ordnung beobachtet und dadurch gelassener diskutiert, der bleibt auch länger politisch motiviert. Gleiches gilt dann in der Folge auch für die Diskussionspartner, da die fehlende Emotionalisierung die Atmosphäre der Diskussion grundlegend verbessern und zu konstruktiveren Ergebnissen führen wird.

Grundbedingung für die Einhaltung eines solchen „Kodex“ ist jedoch ein basales Eingeständnis, das für so manchen, insbesondere für so manchen Linken, schwer zu schlucken sein wird. Es geht um das Eingestehen der Tatsache, dass moralische Gut/Böse-Unterscheidungen immer nur einen selbst gelten, niemals jedoch per se auf andere übertragen werden können. Beobachtung zweiter Ordnung bedeutet, anderen die ihnen eigene Art der Rationalität und somit auch ihre eigene Moral zuzugestehen, die nicht automatisch keine Geltung mehr hat, nur weil sie der eigenen widerspricht.

Die zerstörte Brücke, Hubert Robert (1733-1808)

Meinungsfreiheit und politische Toleranz

Politische Toleranz kann es deswegen nur ganz geben – oder gar nicht. Ab dem Moment, in dem Einzelne abseits von den eigens dafür eingerichteten gesetzlichen Institutionen darüber zu urteilen versuchen, wo die Toleranz aufhört, bis wohin also die Moral und die Rationalität anderer von der jeweils eigenen abweichen darf, ab diesem Moment ist die Grundlage dafür gelegt, dass der politische Diskurs misslingt, da er potenzielle Diskurspartner ausschließt. Dies wiederum führt zur Abschottung der Gruppe der Ausgeschlossenen, dadurch zum Groupthink-Phänomen und somit letztendlich zur Radikalisierung. So wie Meinungsfreiheit also absolut gelten muss – Bedrohungen und Beschimpfungen, also Äußerungen, die offenkundig keinen sachlichen Inhalt haben und gerade auf die Diskreditierung des anderen und somit seinen Ausschluss aus der Kommunikation abzielen, ausgenommen –, so muss auch die Beobachtung zweiter Ordnung zunächst jedem gegenüber ausgeübt werden, und wenn das sachlich Geäußerte für den Zuhörenden noch so absurd, noch so falsch, noch so moralisch schlecht klingen mag.

Wir würden gut daran tun, bereits in der Schule mit dem Vermitteln einer solchen Form von Diskussionskultur zu beginnen. Es geht dabei nicht nur um eine Form der Bildung, die sich darauf beschränkt, den Kindern einzutrichtern, dass sie den anderen ausreden lassen sollen. Es geht genauso um die Frage, wie mit dem Gesagten konkret umgegangen wird und um eine Bildung, die darauf basiert, Kinder via Lehre von Beobachtung zweiter Ordnung zu sozialer Kommunikation zu erziehen – und damit zu sozialem Verhalten. Das Ergebnis wäre eine dialogfähige und demokratische politische Kultur, in der auch konservative und alternative politische Positionen wieder ihren legitimen Platz finden, anstatt eines sanft-totalitären, globalistischen Konsensbreis, in dem jeder Ansatz freien und kritischen Denkens im Gift des linken Moralins erstickt wird.

Florian Sander

Florian Sander ist Soziologe und Politikwissenschaftler. Er ist Mitglied der Landesprogrammkommission und des Landesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik der AfD in NRW sowie Kreisvorsitzender der AfD Bielefeld und Mitglied des Rates der Stadt Bielefeld. Er schrieb u. a. für ‚Le Bohémien‘, ‚Rubikon‘, ‚Linke Zeitung‘, den ‚Jungeuropa‘-Blog und ‚PI News‘, ist inzwischen Autor für ‚Arcadi‘, ‚Sezession‘, ‚Glauben und Wirken‘, ‚Wir selbst‘ und ‚Konflikt‘ und betreibt den Theorieblog ‚konservative revolution‘.

„Aus Liebe zur Kirche“ – Zum 30. Todestag von Erzbischof Marcel Lefebvre

„Aus Liebe zur Kirche“ – Zum 30. Todestag von Erzbischof Marcel Lefebvre

von Werner Olles

Das „Mitteilungsblatt“ der Priesterbruderschaft St. Pius X. (FSSPX) vom März 2021 widmet sich in einem umfangreichen Beitrag von Weihbischof Msgr. Bernard Tissier de Mallerais dem 30. Todestag des Gründers der „Fraternitas Sacerdotalis Sancti Pii Decimi“, der am 25. März 1991 im Schweizer Martigny verstarb. Am 29. November 1905 in der nordfranzösischen Stadt Tourcoing in einer kinderreichen, tiefgläubigen katholischen Familie geboren, trat er mit 18 Jahren in das französische Seminar in Rom ein und wurde im September 1929 zum Priester geweiht. Nach seinem Doktorat in Theologie begann er in der Diözese Lille seine pastorale Arbeit. Nach dem Noviziat in der Kongregation der Väter vom Heiligen Geist schickte man ihn nach Gabun, hier wurde er bald zum Rektor befördert und legte nach drei Jahren missionarischer Arbeit bei den Vätern vom Heiligen Geist seine ewigen Gelübde ab. 1945 rief ihn der Ordensobere nach Frankreich zurück und benannte ihn zum Rektor des Priesterseminars in Mortain. Im September 1947 wurde Pater Marcel Lefebrve zum Bischof geweiht und von Papst Pius XII. zum Apostolischen Gesandten für Französisch-Afrika ernannt. Hier gründete er Diözesen, Seminaren, Konvente und Schulen und wurde im September 1955 erster Erzbischof von Dakar.

Bischofsweihe von Marcel Lefebvre (4. von links, mit Krummstab und Mitra) am 18. September 1947 durch den Bischof von Lille, Achille Liénart.

Nach der Wahl von Johannes XIII. nahm er seit Juni 1960 an der Vorbereitungskommission des Zweiten Vatikanischen Konzils teil. In diese Zeit fiel seine Ernennung zum Bischof von Tulle, einer kleinen Diözese in Frankreich. Der Aufenthalt hier war jedoch recht kurz. Der Erzbischof spürte bereits den sich immer stärker ausbreitenden Modernismus, der mit der „Öffnung zur Welt“ einherging und augenfällig wurde im Ablegen der Soutane, dem sogenannten „Volksaltar“ und der Feier des Messopfers mit dem Rücken zum Kreuz und zum Tabernakel. Die Messe, an der immer weniger Gläubige teilnahmen, wurde vielfach nicht mehr so würdig gefeiert wie früher, konservative Priester und Bischöfe waren zunehmend entmutigt.

Am 11. Oktober 1962 wurde in Rom das Zweite Vatikanische Konzil eröffnet. Die von der Vorbereitungskommission ausgearbeiteten Beschlüsse wurden sogleich verworfen und durch neue liberale und modernistische Texte ersetzt. Zwar widersetzte sich eine konservative Gruppe, der „Coetus Internationalis Patrium, die der Erzbischof maßgeblich prägte, dem Einzug liberaler Tendenzen in die Konzilstexte, doch letztlich konnte sie sich nicht gegen die besser organisierte Gruppe der Modernisten, die sogenannte „Rheinische Allianz“, durchsetzen, die die Unterstützung von Johannes XXII. und Paul VI. genossen. Die Progressisten siegten auf ganzer Linie, Erzbischof Lefebvre und die konservative Minderheit, die die Beschlüsse des Konzils zur Religionsfreiheit, zur bischöflichen Kollegialität und dem Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen scharf kritisierte und abgelehnt hatten, zogen den Kürzeren.

Als auch seine Ordensgemeinschaft den „Geist des Konzils“ annehmen sollte, legte er sein Amt als Generaloberer nieder und überlegte sich mit dreiundsechzig Jahren zurückzuziehen. Als ihn jedoch immer mehr Bitten junger Männer erreichten, die eine traditionelle priesterliche Ausbildung suchten, eröffnete er in der Schweiz ein neues Seminar, zunächst in Fribourg, später dann in Ecône. Am 1. November 1970 unterzeichnete Bischof Charriere das Errichtungsdekret der FSSPX, Kardinal Wright, Präfekt der Kleruskongregation in Rom schickte ein lobendes Ermutigungsschreiben. Im Juni 1971 wies der Erzbischof den neuen Ordo Missae offiziell zurück, wie auch den Tadel der beiden von Rom beauftragten „Visitatoren“, den Msgr. Lefebvre mit seinem „Bischöfliches Manifest“ adäquat beantwortete. In den 1980er und 1990er Jahren rissen die Berufungen aus aller Welt nicht ab. Neue Priesterseminare mußten gegründet werden, beispielsweise in den USA, in Deutschland, in Frankreich, in Argentinien und Australien. Rom reagierte auf die Bischofsweihe der Priester Bernard Tissier de Mallerais, Bernard Fellay, Alfonso de la Galaretta und Richard Williamson durch den Erzbischof mit der Exkommunikation derselben, die jedoch am 7. Juli 2007 von Papst Benedikt XVI. in Zusammenhang mit seinem Motu Proprio „Summorum pontificum“, das erlaubte die lateinische Messe im alten Ritus feiern, wieder aufgehoben wurde. Gleichzeitig stellte Benedikt fest, daß die „alte lateinische Messe“ nie verboten war. Damit befindet sich die FSSPX auch nicht im Schisma mit Rom, wenngleich ihr bis heute kein kanonischer Status zugestanden wird, der es ihr erlauben würde, eine Personalprälatur zu errichten. Natürlich gab es auch etliche Rückschläge, viele Priester verließen die Bruderschaft, um sich tradionalistischen Vereinigungen wie der Priesterbruderschaft St.Petrus, dem Institut St. Philipp Neri oder den Servi Jesu et Mariae anzuschließen, die der Ecclesia Dei-Kommission unterstehen und von Rom kanonisch anerkannt sind. Der Skandal um den englischen Bischof Williamson, der im schwedischen Fernsehen den Holocaust leugnete, erschütterte die FSSPX, die Williamson schließlich wegen Ungehorsam ausschloß. Ein Problem besteht auch mit den Sedisvakantisten, die den Hl. Stuhl nach dem Tod von Papst Pius XII. für nicht besetzt halten und die nachfolgenden Päpste als Häretiker beziehungsweise Apostaten bezeichnen. Zwar hatte auch Erzbischof Lefebvre den Zustand der Sedisvakanz nach dem Zweiten Vaticanum nie völlig ausgeschlossen, letztlich jedoch vor einem solchen Schritt zurückgeschreckt, um den Kontakt zu Rom nicht gänzlich abreißen zu lassen. Tatsächlich ist die Haltung der FSSPX zur Papstfrage in mancherlei Hinsicht widersprüchlich. Man kann wohl nicht einerseits einem Papst den Gehorsam verweigern und ihn dennoch als rechtmäßigen Papst anerkennen, auch wenn er theologisch eine liberale, modernistische Haltung einnimmt und ihm andererseits gehorchen, wenn er sich konservativ beziehungsweise traditionalistisch äußert. Zudem verwendet auch die FSSPX das bereits von Johannes XXIII. geänderte Meßbuch von 1962, in dem einige wichtige Passagen gestrichen wurden.

Dennoch muß man, auch wenn man vielleicht der Priesterbruderschaft St. Pius X. in bestimmten theologischen Fragen durchaus kritisch gegenübersteht, ihr neidlos zugestehen, daß sie „aus Liebe zur Kirche“ – wie der Titel des neuen Interviewbuches mit dem ehemaligen Generaloberen Bischof Fellay lautet –, in ihrem inzwischen über fünf Jahrzehnte währenden Widerstand gegen den geistlosen Modernismus und zeitgeistigen Opportunismus, der auch in die Römisch-Katholischen Kirche eingezogen ist, Großes geleistet hat.

Heute hat die Piusbruderschaft weltweit über 700 Priester, drei Weihbischöfe, zahlreiche Seminare und Schulen, und Berufungen von jungen Männern aus vielen Völkern. Das Werk des Erzbischofs, lebt in der Tat weiter, wenngleich die Probleme mit Rom fortbestehen, und eine offizielle kanonische Anerkennung trotz weiterhin bestehender Kontakte in weiter Ferne zu liegen scheint. Doch wie man als gläubiger Christ weiß, ist bei Gott kein Ding unmöglich. Und so stehen auf dem Grabstein des Erzbischofs auch die Worte: „Traditi quod acecpi“ („Ich habe weitergegeben, was ich empfangen habe“).

Kontakt: Priesterbruderschaft St. Pius X. Stuttgarter Str. 24, 70469 Stuttgart. www.fsspx.de

Werner Olles

Werner Olles, Jahrgang 1942, war bis Anfang der 1980er Jahre in verschiedenen Organisationen der Neuen Linken (SDS, Rote Panther, Jusos) politisch aktiv. Nach grundsätzlichen Differenzen mit der Linken Konversion zum Konservativismus und traditionalistischen Katholizismus sowie rege publizistische Tätigkeit in Zeitungen und Zeitschriften dieses Spektrums. Bis zu seiner Pensionierung Angestellter in der Bibliothek einer Fachhochschule, seither freier Publizist.

Autor der Bücher:

Die LGBTQ-Ideologie und die Auflösung der westlichen Identität

Die LGBTQ-Ideologie und die Auflösung der westlichen Identität

von Prof. Dr. David Engels

Seit die Europäische Union am 11. März 2021 zur “LGBTQ-Freiheitszone” erklärt wurde, ist die Debatte um die “LGBTQ”-Ideologie in den Medien allgegenwärtig – und damit auch die Kritik an jenem “intoleranten” und “autoritären” Polen, in dem Homosexuelle angeblich ständige Angriffe auf ihre “Rechte” und sogar ihre körperliche Unversehrtheit erleiden. Abgesehen von den zahlreichen Absurditäten, die aus der bewussten Verdrehung der Tatsachen selbst resultieren, finden wir im Kern dieser Debatte einen Mangel an Unterscheidungsvermögen, der ganz typisch für unsere heutige Welt ist: den zwischen der Person und der Ideologie.

Zwar war Polen eines der ersten Länder in Europa, das die Homosexualität entkriminalisiert hat (1932; Deutschland im Vergleich dazu erst 1969), aber zwischen der Toleranz der freien Gestaltung des Privatlebens einerseits und der Gleichstellung hetero- und homosexueller Beziehungen andererseits liegt ein gewaltiger Schritt, den die Mehrheit der polnischen Bevölkerung und damit auch ihr Parlament und ihre Regierung nicht zu gehen bereit sind. Es geht in der aktuellen Debatte also keineswegs um den bloßen “Schutz von Minderheiten”, denn diese Minderheiten haben schon heute von der Gesellschaft oder dem Staat absolut nichts zu befürchten. Im Gegenteil, es handelt sich um eine fundamentale ideologische Entscheidung mit schwerwiegenden Folgen für die gesamte Gesellschaft, und aus diesem Grund müssen wir von einer echten “LGBTQ-Ideologie” sprechen, die untrennbar mit dem gesamten “politisch korrekten” Universalismus verbunden ist.

Dieser Ideologie zufolge ist die sexuelle Identität eines Menschen eine bloße “soziale Konstruktion” ohne realen Bezug zu seiner körperlichen Konstitution, und die Freiheit des Individuums besteht darin, ständig ein anderes “Geschlecht” und damit andere sexuelle Rollen annehmen zu können. Dies impliziert nicht nur die Forderung nach der Ehe für alle, die Liberalisierung des Adoptionsrechts, die Verharmlosung von Geschlechtsumwandlungstherapien und -operationen, die Forderung nach repräsentativen “Quoten” in allen denkbaren Körperschaften und die Einführung von LGBTQ-Themen bereits in der Grundschule oder sogar im Kindergarten, sondern auf lange Sicht, wie wir sehen werden, auch die Auflösung des Begriffs der natürlichen Familie selbst. Als ein auf jeder Stufe zentrales Argument erscheint hier (abgesehen von den rein rhetorischen Appellen an den Respekt vor der “Liebe”) die Kunstfigur des “kleineren Übels”, das beständig die (schädlichen) Folgen gescheiterter heterosexueller Beziehungen mit den (nützlichen) erfolgreicher homosexueller Verbindungen vergleicht: das “kleinere Übel”, dass Kinder besser bei liebenden homosexuellen Eltern aufwachsen als bei unglücklichen heterosexuellen Eltern; das kleinere Übel, dass homosexuelle Paare besser mit dem Segen der Kirche heiraten als dem Glauben„entfremdet“ werden; das “kleinere Übel”, dass die Ehe für alle zusammen mit der finanziellen Stabilität auch die politische Inklusion homosexueller Paare garantiert; usw. Aber wie üblich fehlt in dieser rein individualistischen und rationalistischen Gleichung der Gedanke an die Interessen der Gesellschaft als einer Gesamtheit, denn was für einige wenige Individuen ein “kleineres Übel” sein mag, kann die Grundlagen einer ganzen Zivilisation destabilisieren.

Natürlich liegt das Problem nicht (oder nicht nur) auf der Ebene einer drohenden “Relativierung” der natürlichen Familie, da sich die beiden Konzepte (noch) nicht in einer unmittelbaren Konkurrenzsituation befinden: Nur wenige Heterosexuelle würden ihre sexuelle Orientierung ändern, um von den rechtlichen Vorteilen einer homosexuellen Beziehung zu profitieren oder umgekehrt. Nein, das Problem ist ein grundsätzliches: Von dem Moment an, wo nicht mehr das Naturrecht und der Respekt vor den grundlegenden historischen Institutionen die Konstruktion der Familie und der Erziehungseinheiten bestimmt, auf denen unsere Gesellschaft beruht, sondern der reine soziale Konstruktivismus, werden auch alle anderen Grenzen früher oder später fallen. Sobald die Ausnahme unter dem Deckmantel des “Minderheitenschutzes” auf das gleiche Niveau wie die Norm gehoben wird, verliert letztere jegliche Bedeutung, und die Gesellschaft implodiert schnell in eine Vielzahl von Parallelgesellschaften, in denen nicht mehr der Konsens aller, sondern die stärkste Minderheit den Rest dominiert (was natürlich nicht nur für sexuelle Minderheiten gilt, sondern auch für ethnische, kulturelle, religiöse oder politische Gruppen).

Denn die Sexualität, losgelöst von ihrem eigentlichen physischen Träger und ihrer natürlichen Rolle als Mittelder Fortpflanzung, wird notwendigerweise zu einer Art Zeitvertreib, den zu begrenzen oder auf die eine oder andere Weise zu regulieren absurd wäre: Und wenn die verschiedenen Varianten der Homosexualität nicht nur toleriert, sondern der traditionellen Familie gleichgestellt werden, gibt es auch kein logisches Argument mehr, die Legalisierung polygamer, inzestuöser oder gar pädophiler bzw. zoophiler Konstellationen zu verbieten, wie sie von der Linken und den Grünen spätestens seit den 1968er Jahren gefordert wird. Schlimmer noch: Die Integration des Sozialkonstruktivismus in die Definition von Paar und Familie birgt nicht nur die Gefahr, dass es früher oder später zu einer Trivialisierung und damit zur Ausbreitung von grundsätzlich ungesunden, ja kriminellen Praktiken kommt, sondern diese Ideologie zeichnet sich geradezu durch ihre Feindschaft gegenüber dem etablierten heterosexuellen Modell aus. Die Linke begnügt sich nicht damit, sie als eine Option unter vielen möglichen Kombinationen überleben zu lassen, sondern assoziiert die traditionelle Familie, die durch die Banalisierung von Scheidungen und das Aufkommen der Patchwork-Familie bereits auf eine harte Probe gestellt wurde, mit einem vermeintlich unterdrückerischen, reaktionären, ja “fachistoiden” “patriarchalischen” Modell, wie schon Horkheimer und Deleuze betont hatten.

Weit davon entfernt, die Rechte einer winzigen “bedrohten” Minderheit gegen eine große unterdrückerische Mehrheit zu verteidigen, untergräbt diese komplexe und zutiefst antihumanistische Ideologie derzeit die letzten Grundlagen eines Familienmodells, das von allen Seiten angegriffen wird. Indem sie versuchen, die abendländische Gesellschaft von ihren letztennaturrechtlichen und traditionalen Grundlagen abzukoppeln, agieren LGBTQ-Aktivisten also nur als “nützliche Idioten” in einem ideologischen Kampf, dessen volles Ausmaß ihnen wahrscheinlich nur selten selber voll bewusst ist. Es ist daher verständlich, dass jede wirklich konservative Regierung früher oder später sehr klare Grenzen setzen muss, um ihre Werte zu verteidigen und einen Unterschied zu machen zwischen der Duldung der persönlichen Entscheidung einzelner Individuen und der formalen Legalisierung einer Ideologie, die droht, das, was von der westlichen Identität noch übriggeblieben ist, vollends zu unterhöhlen. Polen, und mit ihm viele Länder Osteuropas, hat diese Wahl getroffen, und Westeuropa, dessen Regierungen die gegenwärtige Europäische Union dominieren, scheint seine eigene am 11. März 2021 mit Unterstützung der „Christdemokratie“ ebenfalls gefällt zu haben. Die Zukunft wird deutlich zeigen, welche Folgen diese Entscheidung für die Stabilität, den Wohlstand und die Gesundheit der jeweiligen Gesellschaften haben wird…

Übersetzt aus dem Französischen von Visegrád Post. Dort wurde es auch erstveröffentlicht: https://visegradpost.com/de/2021/03/16/die-lgbtq-ideologie-und-die-aufloesung-der-westlichen-identitaet/?fbclid=IwAR326IHs3NfJIbw_ePHhQPFshFfREUhXYdBgmXMAENrSXdevK7c-MDoYcas

Wir danken Prof. Dr. David Engels für die Veröffentlichungsgenehmigung.

David Engels
David Engels

Prof. Dr. David Engels ist ein belgischer Historiker und hat derzeit eine Forschungsprofessur am Instytut Zachodni in Posen inne, wo er verantwortlich ist für Fragen abendländischer Geistesgeschichte, europäischer Identität und polnisch-westeuropäischer Beziehungen. Als Spezialist für alte, insbesondere für römische und seleukidische Geschichte ist er auch ein Denker des europäischen Konservatismus, der sich seit über einem Jahrzehnt mit Fragen der Identität, vor allem in der französisch- und deutschsprachigen Presse, befasst. 2013 veröffentlichte er Le Déclin, wo er die derzeitige Europäische Union und die rückläufige Römische Republik methodisch verglich. 2019 veröffentlichte er Renovatio Europae: Plädoyer für einen hesperialistischen Neubau Europas, gefolgt von Que faire?, Zwei Werke, die sich der Zukunft Europas zuwandten; das erste befasste sich mit der Reform der Institutionen und das zweite wandte sich an die einzelnen Menschen.