Der Bundespräsident – eine staatspolitische Fassadenexistenz

von Winfried Knörzer

Der Bundespräsident – eine staatspolitische Fassadenexistenz

Das Neue Schloß in Stuttgart ist ein schöner Barockbau, harmonisch und gediegen in seiner Gestaltung. Dem Passanten bietet es sich als angenehmer Anblick dar, der den Augen einen wohltuende Erholung bietet, die von der kalten, allein der (kommerziellen) Nützlichkeit unterworfenen Funktionsarchitektur der sonstigen Innenstdt arg strapaziert werden. Eines Tages führte mich ein Anlaß ins Innere des Gebäudes, das eine Ministerialbürokratie beherbergt. Ich war entsetzt. Der Kontrast zur Fassade hätte nicht größer sein können. Das Innere besteht aus einer mechanischen Aneinanderreihung von Büroraumen, das sich von anderen Bürogebäuden nur dadurch unterscheidet, daß es noch trostloser, steriler, betonhafter ist und auf jeden Ansatz einer ästhetischen Differenzierung, Auflockerung, identifikatinsermöglichender Wohnlichkeit verzichtet. Das Neue Schloß ist Schloß nur als Fassade, im Inneren ist es etwas völlig anderes, eben nur ein Behälter für Büros. Daher hat es als Ganzes nichts Schloßhaftes mehr an sich. Daß es durch sein Äußeres suggeriert, dennoch ein Schloß zu sein, macht diesen Anspruch zur Heuchelei.

Das Neue Schloß in Stuttgart vor der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg. Heute, nach dem Wiederaufbau: im Inneren eine mechanische, trostlose, sterile Aneinanderreihung von Büroraumen einer Ministerialbürokratie.
Neues Schloß in Stuttgart, Hauptgiebel mit Königskrone, 1889

Der Bundespräsident ist das staatspolitische Pendant zur architektonischen Fassadenhaftigkeit des Stuttgarter Schlosses. Formell besitzt er den höchsten Rang im Staat, materiell hat er weniger Macht als ein mittlerer Ministrialbeamter oder der Landesvorsitzende einer Partei. Der Reichspräsident der Weimarer Republik war tatsächlich der mächtigste Mann im Staate, da die Regierung ihm gegenüber verantwortlich war und er – vor allem im Ernstfall – die letztliche Entscheidungsbefugnis über alles politische Handeln besaß. Eine solche mit großer realer Machtbefugnis einhergehende zentrale Rolle im Staatsgefüge hatten die Verfassungsgeber ihm eingeräumt, weil er die für die unverzichtbar gehaltene Funktion des Monarchen ausfüllen sollte. Diese Machtfülle wollte man in der Bundesrepublik angesichts der schlechten Erfahrungen der Jahre 1930 bis 33 dem Präsidenten nicht zu gestehen. Sie wurde so weit beschnitten, daß keine ernstzunehmende Kompetenz zurückblieb. Die Instanz des Präsidenten wurde radikal entkernt, nur die Fassade ließ man stehen.

An Gründen, diese Fassadenexistenz zu rechtfertigen, fehlt es nicht. Der Bundespräsident wird, so heißt es, als Integrationsfigur gebraucht. Integrieren kann aber nur eine allseits akzeptierte, neutrale Instanz, die über den Interessenskonflikten des parteipolitischen und gesellschaftlichen Pluralismus steht und diese schlichtend vermitteln kann. Wie aber soll ein Bundespräsident integrierend wirken können, der selbst Parteipolitiker ist und durch parteigebundene Wahl ins Amt berufen wurde? Auch wird betont, daß er den Staat repräsentiere. Wie aber soll jemand die Macht eines Staates repräsentieren, der selbst keine Macht hat? Ein Emissär oder Botschafter, der gleichfalls als Person keine Macht besitzt, ist immerhin befugt, weisungsgemäß die Ziele des ihn beauftragenden, eigentlichen Machtträgers zu artikulieren und im Rahmen der Weisung selbständig Entscheidungen zu treffen. Das Amt des Bundespräsidenten ist kein repräsentatives, sondern nur ein formales. Es ist die Form, die die Leerstelle des abwesenden Monarchen angenommen hat, nachdem man es nicht mehr für nötig hält, für diesen einen Ersatz zu finden. Form an sich ist durchaus bedeutsam, aber nur wenn sich in ihr eine Substanz ausdrückt. Der Bundespräsident hat keine Substanz, weil auch der Staat, den er verfassungsgemäß zu repräsentieren beanspruchen darf, kein Staat mehr sein will, sondern nur die Verwaltungseinheit der Menschheit, keine Substanz mehr hat. Ohne den innerlichen Bezug zur Substanz ist der Bundespräsident nur ein Ornament auf der leeren Hülle des Staates. Die Form selbst schließlich kann in einem Zeitalter, das den Sinn für das Formale verloren hat, nicht mehr bedeutsam sein. Sie ist auf eine rein ästhetische Funktion reduziert. Einst machte die Form symbolische Zusammenhänge sichtbar. Jedes einzelne Symbol war Bestandteil eines Kosmos von Symbolen, die in einem Spiel von Ähnlichkeiten und Unterschieden aufeinander verwiesen. Die Form war bedeutsam, weil sie auf etwas hinter, über ihr Liegendes verwies. Das Szepter war Symbol der Herrschaft und damit auch Teil der Herrschaftsgewalt und kein bloßer, aufwendig gearbeiteter Stab; man konnte kein Abbild eines Schafes sehen, ohne an Christus erinnert zu werden. Die Beachtung der richtigen Form war darum wichtig, weil nur sie die Gewähr bot, den Verweisungsbezug zu aktivieren. Ohne diesen Transzendenzbezug ist die Form nur etwas Äußerliches, auf das man getrost verzichten kann.

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Dr. Winfried Knörzer

Dr. Winfried Knörzer, geboren 1958 in Leipzig, studierte in Tübingen Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaften, Japanologie und promovierte über ein Thema aus der Geschichte der Psychoanalyse. Berufliche Tätigkeiten: Verlagslektor, EDV-Fachmann. Seit Anfang der 90er Jahre ist er mit Unterbrechungen publizistisch aktiv.

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