Wir ersticken an negativer Moral

von Alain de Benoist

Wir ersticken an negativer Moral

Die neue Moral beschreibt, was die Gesellschaft werden soll

Von allen Mitteln, die zur Einschränkung der Vorrechte des Politischen eingesetzt werden – das Recht, die Moral, die Ökonomie und die Technik –, ist die Moral das wohl gefährlichste. Inzwischen bar jeglicher Transzendenz, ist sie zu »Moralin« (Nietzsche) mutiert und hat zu dem geführt, was Arnold Gehlen zutreffend »die Hypermoral« genannt hat, also eine Hypertrophie der Moral. Das Gemeinwohl ist ein politisches Ziel, das nur mit politischen Mitteln erreicht werden kann. Wird vorgegeben, einzig im Namen von ›Werten‹ und ›moralischen‹ Postulaten zu handeln, dann sollte man nach den politischen Interessen und Zielen suchen, die damit vertuscht werden.

Die frühere Moral schrieb individuelle Verhaltensregeln vor: Der Gesellschaft ging es angeblich besser, wenn die Menschen, aus denen sie sich zusammensetzt, sich gut verhielten. Die neue Moral will dagegen die Gesellschaft selbst moralisieren. Die frühere Moral sagte den Menschen, was sie tun sollten; die neue beschreibt, was und wie die Gesellschaft werden soll. Es sind nicht mehr so sehr die Menschen, die sich gut benehmen sollen, sondern es ist die Gesellschaft, die »gerechter« gemacht werden müsse. Die moralische Forderung wurde mit anderen Worten auf die Welt im Allgemeinen übertragen. Eher als moralische Akteure will man »moralische« Situationen, also Situationen, die den sozialen Kanons der herrschenden Ideologie entsprechen. Das Gesamtsoziale wird nunmehr im Licht des Sein-Sollens neu interpretiert. Aus diesem Grund können die modernen Gesellschaften gleichzeitig hyper-permissiv und hyper-moralisch sein, bergen sie einen allgegenwärtigen Moralismus in sich, den ihre devoten Gläubigen, ihre Missionare und ihre Tugendligen propagieren. Die von Gehlen angeprangerte »Hypermoral« führt dazu, dass über Ideen und Sachverhalte nur noch einzig auf Grund ihrer ideologischen Wünschbarkeit geurteilt wird.

Das Recht wird durch die Moral kontaminiert

Chantal Delsol liegt richtig, wenn sie behauptet, »die Tugendorgie, die wir heute erleben, bedeutet, dass wir die Moral zu einer Religion errichtet haben«. Doch ursprünglich hatte die Moral mit Religion nichts zu tun. Die Religionen der Antike bildeten den Bereich der Glaubensüberzeugungen und der Riten, nicht den der Moral, die, wie die Etymologie zeigt, zunächst die Sitten (mores) betraf, dann mit Soziabilität und später mit Philosophie zusammenhingen. Die Fusion der Religion und der Moral, die uns heute so natürlich erscheint, war ein Akt der Erlösungsreligionen: Der Gott des Monotheismus ist ein moralischer Gott, und deshalb konnte Nietzsche »den Tod Gottes« erst verkünden, nachdem er die Genealogie der Moral dargestellt hatte (für ihn ist Moral schlicht ein Mittel der Machtausübung). Vom Konkreten völlig abgekoppelt, stellte die Moral vor allem abstrakte Grundprinzipien auf. Schließlich kontaminierte sie das Recht, indem sie eine Vorstellung von Gerechtigkeit entwickelte, die mehr auf dem Geist der Thora, dem Sein-Sollen, gründete, als auf der griechischen Vorstellung des Nomos. Es geht nicht mehr darum, dass jeder das erhält, was ihm zukommt, und die Menschen dazu anzuspornen, Gutes zu tun, sondern die Welt so zu verändern, dass sie »gerechter« werde. Darin gründet die Ideologie der Menschenrechte.

Dies geht auch mit einer ständigen Verwechslung der privaten und der öffentlichen Moral einher. Einen Asylsuchenden bei sich aufzunehmen, ist eine großherzige Tat; Millionen von Asylsuchenden zulasten der Aufnahmebevölkerung zu holen, ist hingegen ein krimineller Akt. Die andere Wange hinzuhalten und seine Feinde zu lieben, sind zwar durchaus edle Haltungen, aber politisch selbstmörderisch. In der Frage der Einwanderung wird nicht mehr das Gemeinwohl berücksichtigt, sondern das moralische Mitgefühl. Auch die Vorstellung von einer »ewigen Schuld« Europas gegenüber allerlei ›Opfern‹ ist keine politische Idee, sondern eine moralische.

Heute, schreibt Pierre Manent, »deckt sich die geläufige christliche Verkündigung zunehmend mit der Religion der Gottesebenbildlichkeit«. Wenn von der Pflicht die Rede ist, »seinem Nächsten zu helfen«, liegt es nahe, dass man das Nahe auf das Ferne zu übertragen sucht. Parallel wurde der Eros zugunsten der Agape abgesetzt: Das ohne weitere Erklärung aufgestellte »ihr sollt einander lieben« (Joh 13,34) ist ein universalistisches Prinzip. Der humanistische Universalismus recycelt die christlichen Tugenden der Wohltätigkeit, des Mitleids und der Gleichheit. Die Buße ist ein moralisches Phänomen: mea culpa, Beichte, Bitte um Vergebung auf den Knien. Es handelt sich um die Ideologie der Reue, die vom Ressentiment beseelt ist und dazu dienen soll, ein schlechtes Gewissen einzureden und zur Selbstverleugnung zu bewegen.

In seiner Komödie Don Juan oder Der Steinerne Gast (1655) meint Molière: »Die Heuchelei ist ein Laster, das in Mode gekommen ist, und alle Laster, die in Mode kommen, gelten als Tugenden.« »Wer Menschheit sagt, will betrügen.« (Carl Schmitt in Anlehnung an Pierre-Joseph Proudhon) Heute ist die Welt in die Hände der gefährlichen Spezies der ›Wohltäter der Menschheit‹ geraten. Selbst die Kriege sind zu ›humanitären Kriegen‹ geworden. Die Neue Weltordnung ist vor allem eine Neue Moralordnung.

Diese Brandungswelle der Moral ist in allen Bereichen zu beobachten. Ob es sich um Literatur- bzw. Filmproduktion oder um die Beziehungen zwischen Männern und Frauen handelt, es muss nunmehr alles durch das Filtersieb der »Moral« hindurch. Moralisch ist die Reue. Moralisch ist die Forderung, sämtliche Migranten aufzunehmen. Moralisch ist die Kuscheltherapie für die Schurken. Moralisch sind solche Politiken, die eher die Minderheiten als die Arbeitnehmer begünstigen. Der Hass auf die Geschichte, Antriebskraft der Cancel Culture, ist damit zu erklären, dass die Geschichte nicht moralisch ist: Sie ist tragisch, und das Tragische entzieht sich der Moral. Die Verrücktheiten der Gendertheorie gehören selber zu einer moralischen Unternehmung, die glauben machen soll, dass die Gerechtigkeit mit der Gleichstellung von Frauen und Männern zusammenfalle, ohne ein Wort über die Produktionsweise zu verlieren, die bekanntlich die sozialen Ungleichheiten und die sich daraus ergebende Spaltung in Klassen erzeugt.

Ethik versus Moral

Was letztlich zählt, sind nicht mehr das Wahre und das Falsche, sondern das Gute und das Böse. Das Lager des Guten gegen das Böse. Die herrschende Ideologie versteht sich als Reich des Guten, weshalb sie ihre Gegner verteufelt. In der Vergangenheit war die Moral zuweilen bedrückend; sie deckt sich inzwischen mit dem Reich der Albernheit und der salbaderischen Moralpredigten aus den USA. Wir erleben eine beeindruckende Rückkehr des angelsächsischen Puritanismus. Gestern war es die Abstinenzbewegung, heute ist es die Tugendliga. Das Endziel bleibt immer das gleiche: die Vertikalität durch die Horizontalität zu ersetzen, die Misogynie durch die Misandrie, das Patriarchat durch das Matriarchat, das Verwurzelte durch »hors sol«-Monaden ohne Bindung an die Realität, das Reale durch das Virtuelle, das Authentische durch das Künstliche, die Völker durch die Individuen, die Helden durch die Opfer, der Wille, dem Schicksal zu begegnen, durch die Unterwerfung unter ein als Buße verstandenes Schicksal.

Man sollte den Unterschied zwischen Moral und Ethik noch ansprechen. Letztere, die sowohl von einem bestimmten Kontext (ethos/ethnos) als auch von einer ästhetischen Weltanschauung untrennbar ist, unterscheidet sich stark von der Moral, wie sie sich heute zu erkennen gibt. Die Moral legt Regeln fest, die Ethik gibt Beispiele; die Moral ist universalisierbar, die Ethik ist es nicht; die Ethik gründet auf der Ehre, die Moral auf dem abstrakten Wort. Eine moralische Verfehlung ist eine Sünde; eine ethische Verfehlung drückt eine mangelnde Haltung aus. Dem heute alles überwuchernden Moralin müssen wir nicht etwa Immoralismus entgegensetzen, sondern eine Ethik der Ehre, des Mutes und der Selbstbehauptung.

Alain de Benoist

Alain de Benoist, geboren 1943 in Saint-Symphorien (heute zu Tours gehörend), studierte Verfassungsrecht, Religionswissenschaften und Philosophie. Als Kopf hinter der 1968 formierten Denkfabrik GRECE ist er Mitbegründer der französischen Nouvelle Droite (Neue Rechte).

Benoist lebt als Publizist und Philosoph in Paris. Er ist Herausgeber der traditionsreichen Buchzeitschriften Nouvelle École und Krisis, außerdem ständiger Autor des Zweimonatsmagazins éléments. Seine über 100 Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die wichtigsten Veröffentlichungen sind das zweibändige Opus Aus rechter Sicht und das Manifest Aufstand der Kulturen. Hervorzuheben sind des Weiteren die beim Jungeuropa Verlag erschienenen Schlüsselwerke Kulturrevolution von rechts und Gegen den Liberalismus.

Alain de Benoist wirkt als Leitfigur einer gesamteuropäisch ausgerichteten Denkrichtung, deren Ziel so klar wie weitreichend scheint: die Überwindung des neo- und linksliberalen Denkens mit all seinen politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Paradigmen.

Die beiden Druckausgaben unserer Zeitschrift sind noch erhältlich:

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