Tag der Deutschen Einheit vor 32 Jahren: alte Mythen – neue Kämpfe

von Siegfried Bublies

Tag der Deutschen Einheit vor 32 Jahren: alte Mythen – neue Kämpfe

Zur Neuvereinigung vor 32 Jahren erschien eine „wir selbst“-Ausgabe mit vielen namhaften Autoren, die ihren Gedanken und ihrer Freude zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten Ausdruck verliehen. Ein zeitgeschichtliches Dokument, das die Gefühlslage, die Freude, die Ängste, die Hoffnungen in dieser echten Wendezeit widerspiegelt.

Herbert Ammon: Ich erlebe noch einmal den Tanz auf der Mauer, Peter Brandt: Soziale Konvulsionen und Identitätsveränderungen der Deutschen. Bernhard Friedmann: Thema Wiedervereinigung – lange Zeit vergessen. Friedrich Karl Fromme: Den Deutschen in der Bundesrepublik ist das Nationalgefühl verlorengegangen. Herbert Gruhl: Es geschehen noch Wunder. Heinz Gruber: Entzetzlich beschämender Hickhack. Walburga von Habsburg: Ende des Systems von Jalta und Potsdam – Arbeit für ein christliches, freies Großeuropa. Werner Haverbeck: Ich erwarte, daß die Deutschen nun endlich sich selbst und ihr Schicksal in die Hand nehmen. Gerd-Klaus Kaltenbrunner: „…daß in den beiden Tyranneien unzählige Menschen für ein besseres, ein erneuertes, ein dem Geiste verschworenes Deutschland bis zum Martyrium gelitten haben…“ Hartmut Koschyk: Meine Empfindungen anläßlich der gewonnenen Einheit West- und Mitteldeutschlands. Detlef Kühn: „Die Deutschen in der DDR haben unter das Kapitel „Teilung“ einen dicken Schlußstrich gezogen“. Reiner Kunze: Gedanken zur Einheit! Generalmajor Löser: Nachdenkliches über Deutschland. Andreas Mölzer aus Österreich: „Das ganze deutsche Volk?“ Dieter Stein (JF): Worum es jetzt in dem neuen Deutschland geht: Solidarität und Selbstbehauptung. Reiner Zitelmann: Unbequeme Fragen! Theo Homann: Platonisches Deutschland oder: Wer hat Angst vor der Idee? Henning Eichberg: Von alten Mythen zu befreiten Zonen. Baldur Springmann: Die zweifache Heimat in Holstein und Mecklenburg.

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Editorial der Ausgabe 3-4/1990 von Siegfried Bublies:

In den Mythen der Völker verbergen sich das Wissen der Ahnen und auch ihre geheimen Wünsche. So galt den Deutschen über Jahrhunderte Kaiser Friedrich Barbarossa, der vor 800 Jahren, Erfrischung suchend, von den kalten Fluten eines Gebirgsflusses fortgerissen wurde, als Hoffnungsträger der deutschen Einigung. Der Barbarossa-Mythos enthält ein altes deutsches Sehnsuchtsmotiv: Der im Kyffhäuser schlafende Kaiser werde wiederkehren, die Einigung der Deutschen erreichen und den Weg zu einer neuen Reichsidee weisen. Unter diesen oberflächlich scheinenden Zweckorientierungen lassen sich jedoch tiefere, unausgesprochene, unbewußte Wahrheiten vermuten. Sahen die Deutschen in Barbarossa nicht auch den Rebellen gegen Rom, der für die Eigenständigkeit des Reiches kämpfte? Und sind die überlieferten Barbarossa-Mythen nicht auch durchwirkt mit vorchristlichen, heidnischen Symbolen, die als tradierte Traumzeichen auf archaische Ursprünge verweisen, als lebendige Bilder aber bis in die heutige Zeit psychische Wirkungen entfalten?

Der alte Barbarossa – Kyffhäuserdenkmal

In dem 1923 erschienenen Buch »Der eigene und der fremde Gott« spürt der Freud-Schüler Theodor Reik mit den Methoden der Psychoanalyse dem Phänomen nach, daß sich in jüdisch-christlichen Glaubensvorstellungen bis in die Gegenwart hinein die ewige »Wiederkehr des Verdrängten« als eine Äquivalenz von Triebgegensatzpaaren religiös manifestiere. Die Ablösung der alten, eigenen Götter durch neue, fremde Götter vollzieht sich, so Reik, in den meisten Fällen als schmerzhafter Prozeß, der sich, als ritualisierter Vatermord, gerade in den extremsten Formen der Feindseligkeit in einer gefühlsambivalenten Weise als Zeichen der Liebe und Verehrung des alten Glaubens zeigt. Gehen wir davon aus, daß in einer säkularisierten Welt die prähistorisch entstandenen emotionalen und religiösen Komplexe der Menschen noch ebenso wirksam sind und uns auf der völkerpsychologischen Ebene die individuellen Verhaltensmuster gebündelt wiederbegegnen, so haben wir möglicherweise den Schlüssel zum Verständnis bisher unerklärlicher nationaler Gefühlsregungen.

Aus einer größeren zeitlichen Distanz wird man die Gefühlslage der Deutschen vor, während und nach der Vereinigung besser beurteilen können. Auffallend aber bereits jetzt, daß sich Reiks psychoanalytische Deutungen auf die gegenwärtigen emotionalen Impulse der Deutschen trefflich anwenden lassen.

Politiker wie Lafontaine, Journalisten wie Herles, Kuby oder Gremliza repräsentieren mit ihrem extremen Nationalmasochismus nicht nur die nun zu Ende gehende Periode der Nachkriegszeit, sondern verweisen, als Träger des äquivalenten Triebes, auf Gefahren, die einem zukünftigen Deutschland drohen und/oder von ihm ausgehen könnten. Bereits Freud hatte gezeigt, daß die Umwandlung eines infantilen Sadismus in Masochismus hauptsächlich auf die Einwirkung des infantilen Schuldgefühls zurückgeführt werden kann. Reik beschreibt nun, daß Unterwürfigkeit und Gepeinigtwerden als passives Triebziel auch von ganzen Gruppen und Völkern unbewußt angestrebt werden kann und nur dem oberflächlichen Beobachter als ein bloß von außen kommendes Schicksal, das vom Willen des Einzelnen und der Gruppe völlig unabhängig sei, erscheine. Der ursprünglich aktive Sadismus wende sich — vor dem Hintergrund vorgegebener Schuldgefühle — in einem Akt der phantastischen Projektion gegen sich selbst. Der Masochist erscheint dann als ein gegen das Ich gerichteter Sadist. Wem kämen bei diesem Vorgang der Fremdidentifizierung nicht die unablässigen Treueschwüre Bonner Politiker zu NATO und den USA oder die künstlich und aufgesetzt wirkende, regierungsoffiziell verbreitete Europaeuphorie während der Tage der deutschen Vereinigung in den Sinn? Oder: die demonstrierenden Scharen wutschäumender Vereinigungsgegner mit ihrem Geschrei »Deutschland verrecke!« Und hängt mit dieser psychischen Konstellation nicht auch zusammen, daß — vor 15 Monaten noch undenkbar — zukünftig deutsche Soldaten sich nach mehrheitlicher Auffassung auch als kämpfende Einheiten im Auftrag der UNO in Krisengebiete schicken lassen sollen?

Das Königsberger Schloß: der deutsche Osten – ausgelöscht aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen.

Als selbstquälerischer Begleitumstand fällt auch auf, daß in einem Verdrängungsakt ohnegleichen der deutsche Osten – die Gebiete jenseits von Oder und Neiße – aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen gestrichen werden soll. Eine über 700-jährige deutsche Geschichte in Ostpreußen, Pommern, Schlesien fällt einem ritualisierten Vatermord zum Opfer. Nichts gilt mehr die Erkenntnis, daß der Mensch auch territorialen Imperativen gehorcht, Identität sich wesentlich über die Erfahrung der Heimat vermittelt und über Sagen, Mythen, Bilder und Symbole der deutsche Osten lebendige Erinnerung vieler Generationen bleiben wird. Der medienvermittelte Versuch, die mitteldeutschen Länder in Ostdeutschland umzutaufen, verrät das Unbehagen der Verdränger. Hier deuten sich psychische Verwerfungen an, die eines Tages als »Wiederkehr des Verdrängten« in Form des ursprünglichen Sadismus auf die deutsche Politik zurückfallen und sich dann auch wieder gegen unsere Nachbarn richten könnten.

Wenn es bei der Frage nach unserer nationalen Identität nicht primär um Grenzen geht — eine zentrale These Henning Eichbergs —, sondern um die Bestimmung der eigenen Substanz, der Struktur, des (eigenen und fremden) Mittelpunktes, dann läßt sich der auch nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten fortdauernde Schlaf Barbarossas vielleicht auch so deuten, daß die Deutschen noch Zeit benötigen, sich zu finden.

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