Der Ukrainekrieg und die bundesrepublikanische Schafherde

von Dr. Winfried Knörzer

Der Ukrainekrieg und die bundesrepublikanische Schafherde

In seltener Einmütigkeit erklären sich lagerübergreifend alle Bundesrepublikaner mit der Ukraine solidarisch. So gut wie niemand ergreift Partei für Rußland. Zwar bringen einige Verständnis für Putins Lage auf, sich der westlicherseits betriebenen Einkreisungspolitik zu entziehen, aber seinen Entschluß zum Einmarsch in die Ukraine billigen sie nicht. Frühere Kriege tangierten nicht grundsätzlich die Befindlichkeit der Bevölkerung. War die BRD in diese Kriege, wie auf dem Balkan oder in Afghanistan, direkt involviert, blieb man dennoch gelassen. Die finanziellen Kosten fielen nicht weiter ins Gewicht; sie verschwanden gewissermaßen im großen Weltbeglückungsbudget, an dessen Finanzierung man sich gewöhnt hatte. Die Todesopfer unter den Soldaten wurden als die zwar bedauerlichen, aber letztlich unvermeidlichen Auswirkungen eines gefährlichen Jobs verbucht. Diese Kriege lagen außerhalb des Horizonts bundesrepublikanischer Weltwahrnehmung. Dagegen ist der Ukrainekrieg sowohl räumlich wie mental in unmittelbare Nähe gerückt. Die Kosten des Solidaritätsengagements sind direkt spürbar – in horrender Inflation, Verknappung zahlreicher Güter und vor allem in der Ankündigung einer drohenden Energierationierung. Zwar mögen diese unerfreulichen Folgen andere Ursachen haben als der Krieg, die katastrophale Geldpolitik der EU, die Energiewende, die selbstverschuldete Abhängigkeit von einem globalistisch eingrenzten Weltmarkt, entscheidend ist freilich, daß sie im Bewußtsein der Bevölkerung mit dem Ukrainekrieg in Verbindung gebracht werden.

Daher muß man fragen, was zu dieser vorbehaltlosen Solidarisierung veranlaßt hat und warum sie auch trotz der mittlerweile erkennbaren großen Opfer aufrechterhalten wird. Die naheliegende Antwort, man solidarisiere sich mit dem unschuldigen Opfer eines Angriffskrieges ist ein Fingerzeig, mehr aber nicht. Zum einen ist das politische System der Ukraine keineswegs „lupenrein demokratisch“, zum anderen muß man der Ukraine in ihrem verblendeten Verkennen der Handlungsmöglichkeiten gegenüber einem übermächtigen Nachbarn, ihrem aggressiven Auftrumpfen und dem Festhalten an gegenstandslos gewordenen Rechtspositionen ein gerüttelt Maß an Schuld an ihrer jetzigen Lage zuschreiben. Aber egal – Rußland hat diesen Krieg begonnen. Daran ist nichts zu deuteln. Zu erklären ist vielmehr das Faktum der Solidarisierung, die so unerwartbare Volten hervorbrachte wie die Wandlung von Pazifisten zu Bellizisten und die Identifikation mit Manifestationen des ansonsten so streng verpönten Nationalismus.

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Eine Grundkonstante meines Nachdenkens über die wundersamen Weltläufe ist die Annahme, daß jegliches langandauerndes soziales Handeln größerer Menschengruppen eine gewisse Rationalität, eine gewisse sinnvolle Stimmigkeit besitzt. Was ist also der Sinn dieses auf den Ukrainekrieg bezogenen Handelns?

Jedes soziale System hat, wie auch jedes Lebewesen, das Ziel des Selbsterhalts. Dazu versucht jedes soziale System die für den Selbsterhalt erforderlichen Umweltbedingungen zu reproduzieren. Die Umwelt der BRD ist das nach dem Zweiten Weltkrieg pazifierte Europa. Der Frieden ist die absolut zentrale Voraussetzung für die Existenz der BRD. Noch bevor die Bundeswehr kaputtgespart wurde, hatte die BRD mental abgerüstet. Die Idee des Krieges wurde mit solcher Vehemenz verworfen, also aus der Einbindung in Verstehenszusammenhänge ausgeschlossen, daß das Erscheinen des Krieges in der Wirklichkeit vollkommen traumatisch wirkt. Traumatisch sind Vorgänge, die psychisch nicht bewältigt werden können. Traumatisch ist hier, daß der Frieden in der für die BRD relevanten Umwelt, der für die Überlebensfähigkeit eines total friedfertigen Volkes unbedingt erforderlich ist, das sich vollkommen an ein friedensbestimmtes Dasein angepaßt hat, zerstört wurde. Dieser Krieg ist, im Gegensatz zu früheren Kriegen, in die eigene Umwelt eingedrungen. Da er die eigenen Daseinsvoraussetzungen tangiert, wird er als Angriff auf einen selbst imaginiert. Ob diese Wahrnehmungsweise angesichts der beträchtlichen räumlichen Entfernung als rational bezeichnet werden kann, sei dahingestellt. Wesentlich ist nur, daß die Ukraine – auch dank vorangegangener Propaganda – mental als Teil des friedlichen Europas, zu dem man selbst gehört, empfunden wird. En Angriff auf die Ukraine wird darum als imaginierter Angriff auf einen selbst wahrgenommen, weshalb man sich mit dem real Angegriffenen identifiziert.

Was ist an diesem scheinbar irrationalen Verhalten rational? Ein friedfertiges Volk ist auf eine friedliche Umwelt angewiesen. Es muß daher alles unternehmen, was geeignet ist, den Frieden zu bewahren. Eine Störung des Friedens, welche – ob real oder nur imaginiert – die friedensbasierte Überlebensfähigkeit beeinträchtigt, kann daher nicht hingenommen werden. Daher sind die Ächtung des Friedensbrechers und die Identifikation mit der Ukraine durchaus rational. Die emotionalen Aufwallungen, die der russische Angriff ausgelöst hat, resultieren aus dem dadurch bewirkten Mitbetroffensein. Betroffen nämlich ist das Selbstverständnis einer vollständig pazifierten Nation, die ihre Überlebensgrundlagen gefährdet sieht, wenn der Schatten des Krieges in greifbare Nähe rückt. Natürlich fürchten auch andere Nationen den Krieg, aber sie verfügen über geistige und materielle Mittel, um diesem Schrecken zu begegnen. Die bundesrepublikanische Schafherde aber hat sich selbst dieser Mittel begeben und kann deshalb nur panisch blöken: „Krieg darf nicht sein! Wer angreift, ist böse; wer angegriffen wird, ist gut.“ Pazifismus ist für eine Nation, die auf eine friedliche Umwelt so angewiesen ist wie ein Fisch aufs Wasser, nicht der Spleen einiger hypermoralisch Entrückter, sondern Überlebensgebot. Die Verzweiflung, die aus der Einsicht hervorbricht, ein pazifistisches Verhältnis zur Welt nicht länger durchhalten zu können, ist darum mehr als verständlich. Man haßt Rußland, weil es gewagt hat, die Illusion des ewigen Friedens in Europa, an die zu glauben man als wehrloses Volk bitter nötig hat, zu zerstören.

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Dr. Winfried Knörzer

Dr. Winfried Knörzer

Dr. Winfried Knörzer, geboren 1958 in Leipzig, studierte in Tübingen Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaften, Japanologie und promovierte über ein Thema aus der Geschichte der Psychoanalyse. Berufliche Tätigkeiten: Verlagslektor, EDV-Fachmann. Seit Anfang der 90er Jahre ist er mit Unterbrechungen publizistisch aktiv.

3 Kommentare zu „Der Ukrainekrieg und die bundesrepublikanische Schafherde

  1. Frage: Welche konkreten öffentlichen Maßnahmen, außer Artikel veröffentlichen, betreibt W. Knörzer, damit sich außerhalb seiner Studierstube war verändert? Gleiche Frage könnte ich an mich selbst stellen. Die meisten haben einfach nur resigniert. Das kann sich aber die nächsten Monate ändern.

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  2. Die Analyse dieses Artikels schwächelt, weil sie eine Frage nicht stellt: Wozu brauchen soziale Syteme den „Feind“.Ist der politische „Feind“ wirklich Ausdruck eines Irrationalismus? Meine These: Gerade postmodern verfaßte Gesellschaften, die innerlich nichts mehr zusammenhält, weil sie weder eine ethnische noch eine kulturelle Identität besitzen, brauchen den „Feind“ um so die Gesellschaft zusammenzuhalten. Was kann denn die EU und die Nato noch zusammenhalten, wenn ob der Beseitigung der Sowjetunion die divergierenden Nationalinteressen wieder auftauchen? Es braucht einen neuen Feind: Putin. Daß Putin nun zu dem Feind stilisiert wird, ist auch nichts Irrationales, sind doch Rußland und China, aber auch der Iran die Hindernisse für das Göbalisierungsprojekt der „Neuen Einheitsweltordnung“.

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  3. Lieber Winfried Knörzer,

    danke für den Versuch einer bedenkenswerten Erklärung! Zumindest, was die seinerzeitige Beteiligung am Jugoslawien-Krieg angeht, stimmt diese Aussage allerdings nicht: “ War die BRD in diese Kriege, wie auf dem Balkan oder in Afghanistan, direkt involviert, blieb man dennoch gelassen. Die finanziellen Kosten fielen nicht weiter ins Gewicht; sie verschwanden gewissermaßen im großen Weltbeglückungsbudget, an dessen Finanzierung man sich gewöhnt hatte. Die Todesopfer unter den Soldaten wurden als die zwar bedauerlichen, aber letztlich unvermeidlichen Auswirkungen eines gefährlichen Jobs verbucht. Diese Kriege lagen außerhalb des Horizonts bundesrepublikanischer Weltwahrnehmung. Dagegen ist der Ukrainekrieg sowohl räumlich wie mental in unmittelbare Nähe gerückt.“ Auch der Jugoslawien-Krieg tobte „räumlich wie mental“ in unserer Nähe! Jugoslawien liegt uns näher als die Ukraine und ich bin sicher, es strömten damals mehr Flüchtlinge zu uns herein als heute Ukrainer. Aber die BRDDRler standen, wie der damalige Verteidigungsminister-Darsteller Scharping sinngemäß einmal sagte, „endlich einmal auf der richtigen Seite“. Ich glaube, dies, nicht etwa die räumliche Nähe ist der – aus der Tiefenerinnerung an die entsetzliche scheinbare Widerlegung unseres Deutschseins 1945 entstandene – Antrieb der bundesrepublikanischen Gutmenschen, immer auf der richtigen Seite zu stehen, selbst wenn sie für die Bundesrepublikaner selbst schlecht ist: Es geht nicht darum, wer angreift oder angegriffen wird, es geht einzig und allein darum, wer der Gute, sprich der Besatzer ist. Auf dessen Seite müssen wir stehen, denn wir wissen, was uns passiert, wenn wir ihm nicht folgen. „Uwe Lay, 15. Juli 2022 22:03, Äquidistanz zu den USA und Rußland? Die westlichen Siegermächte unter Führung der USA haben eine klare Botschaft an uns: Hört auf, Deutsche zu sein, verwestlicht euch! Darum wird auch das Umvolkungsprogramm in Deutschland jetzt so energisch vorangetrieben. Die russische Außenpolitik wollte Deutschland immer als Partner und Helfer zur Modernisierung Rußlands von den Zaren, die Deutsche Auswanderer aufnahmen über Lenin, der auf eine Revolution in Deutschland hoffte als Hilfe für seine bis zu Stalin, der ein neutrales Deutschland 1953 vorschlug, nicht uneigennützig- aber eine Entdeutschung der Deutschen war nie ein Ziel russischer Politik. “ (Kommentar auf https://sezession.de/66066/sammelstelle-fuer-gedrucktes-50-konkrete-spaltung). Rußland könnte uns in die Verlegenheit bringen, wieder „wir selbst“ zu werden. Diese Aussicht macht den Bundesrepublikaner panisch. Daß dies nicht geschieht, dafür sollen die Ukrainer kämpfen und bluten!

    Herzlich

    Jupp Koschinsky

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