Vorbild China: neuer Totalitarismus, Menschen ohne Eigenschaften und technokratischer Funktionalismus

von Dr. Winfried Knörzer

Vorbild China: neuer Totalitarismus, Menschen ohne Eigenschaften und technokratischer Funktionalismus

Nach dem Tode Maos hatte unter Teng Hsiao Ping und Hua Guofeng eine Entideologisierung und relative Liberalisierung eingesetzt. Nicht nur wurde durch die Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien ein echtes Wirtschaftswunder ermöglicht, sondern es wurden auch in gewissem Umfang bürgerliche Freiheitsrechte zugelassen. Insbesondere konnten die Chinesen sich in der Privatsphäre nahezu ungehindert frei entfalten, sofern damit nicht unmittelbar politsch relevante Sachverhalte berührt wurden. Eine ähnliche Entwicklung fand auch in Rußland statt.

Nach diesem Tauwetter ist das Klima unter Xi Jinping wieder eisiger geworden. Auch wenn sich hinsichtlich der Wirtschaft und im Bereich des privaten hedonistischen Konsums nichts geändert hat, so hat sich das Ausmaß sozialer Kontrolle beträchtlich verschärft. Paradigmatisch hierfür steht das geplante und in Teilen bereits realisierte bigbrotherartige elektronische Kontrollsystem. Sieht man von den Details der technischem Umsetzung ab, so besteht es inhaltlich in einem Kanon erwünschten Verhaltens, der eingehalten werden muß, um sozial akzeptiert zu werden. So neutral formuliert, hört sich dies nicht besonders bedenklich an, da ja auch formale Gesetze im Grunde nichts anders sind als ein Kanon erwünschten Verhaltens. Der Unterschied besteht in folgendem:

1. Die Regulierungen betreffen nicht nur nach allgemeinem Verständnis strafwürdiges Verhalten, sondern greifen weit in den vorjustiziellen Bereich des Sittlichen hinein. Mit anderen Worten: es werden Verhaltensweisen sanktioniert, die üblicherweise als unschicklich aber nicht strafwürdig gelten. An die Stelle informeller sozialer Ächtung durch die unmittelbar persönliche Umwelt tritt formelle Bestrafung.

2. Strafwürdiges Verhalten wird im nachhinein sanktioniert. Durch das System einer umfassenden Überwachung soll dagegen bereits der Ansatz zu strafwürdigem Verhalten beseitigt werden. Es soll also präventiv verhindert werden, daß es überhaupt zu sozial unerwünschtem Verhalten kommt.

Auch unter Putin in Rußland ist die ursprünglich im Rahmen von Perestroika erfolgte Ausdehnung des Freiheitsspielraums sukzessive zurückgenommen worden. Die Parallele zur Lage in der BRD drängt sich auf. In allen drei Ländern, China, Rußland, BRD, läßt sich eine Zunahme sozialer Kontrolle und damit einhergehend von Freiheitsverlusten beobachten.

Das Neuartige an diesem sanften Totalitarismus ist nicht nur der Verzicht auf massenhafte und massive Gewaltanwendung, sondern vor allem der Verzicht auf eine ideologische Fundierung. Gänzlich entbehrt man dieser freilich nicht. In China und Rußland dient als ideologisches Hilfskonstrukt eine Mischung aus Nationalismus und Religion (hier: Konfuzianismus, da: orthodoxe Kirche). Doch läßt sich diese ideolgoische Komponente bei weitem nicht mit den echt ideologischen Systemen des nationalsozialistischen Deutschlands und der bolschewistischen Sowjetunion vergleichen. Sie dient nur dazu, das an sich neutrale Korsett der Verhaltensregulierung irgendwie sinnhaft einzufärben. Vergleichbar ist sie allenfalls mit der Berufung auf eine christlich codierte Sittlichkeit durch die paternalistischen Regime des 18. Jahrhunderts. Deutlicher als in den einst radikal ideologisierten, jetzt aber weitgehend entideologisierten Staaten China und Rußland tritt der ideologische Hintergrund in der BRD hervor: Antifaschismus („Kampf gegen rechts“), universalistischer Humanismus („refugees welcome“) und Klimakult. Aber die Geschwindigkeit, mit der diese Ideologeme während der Coronaepidemie suspendiert wurden und die Tatsache ihrer beliebigen Austauschbarkeit belegen, daß sie nicht, wie dies für echte Ideologieregime typisch ist, anzustrebender Zweck sind, sondern nur Mittel für anderes.

Die Ähnlichkeit der Entwicklung in diesen drei an sich so unterschiedlichen Ländern besteht in der Systemkonvergenz zu einem technokratischen Funktionalismus. Dessen Ziel ist ungestörtes Durchregieren. Technokratischer Funktionalismus bedeutet, daß sich politisches Handeln ausschließlich an der Aufrechterhaltung der Systemhomöostase orientiert und sich allein an der Effizienz der diesbezüglichen Maßnahmen bemißt. Dazu muß der potentielle Störfaktor Volk so weit wie möglich ausgeschaltet werden. Diesem Ziel dient die Aufspaltung des gesellschaftlichen Raums in zwei strikt getrennte Bereiche: auf der einen Seite Spielwiese, auf der anderen Minenfeld. Auf der Spielwiese, zu der die Sphären von Arbeit und Konsum gehören, können die Menschen sich unbehelligt frei entfalten. Man kann Pepsi oder Coca-Cola trinken, Klassik oder Pop hören, die Haare kurz oder lang tragen. Das Vorhandensein dieser schier unendlichen Vielfalt zu konsumierender Wahlmöglichkeiten suggeriert den Menschen, frei zu sein. Im Minenfeld liegen die neuralgischen, tabuisierten Themen. Wer überhaupt in dessen Nähe gelangt, weiß um derern Gefährlichkeit oder kommt, eingespannt in das Desinformationsgespinst der Systemmedien, gar nicht dazu, diese zu problematisieren. Dieses Minenfeld wirkt disziplinierend; diesem Terrain sollte man sich nicht nähern. Dem Zusammenspiel dieser beiden Bereiche verdankt die praktizierte Poltik einer permissiven Intoleranz ihren Erfolg. Das Minenfeld verhindert ein aktives Aufgreifen von systeminkompatiblen Themen, die den Herrschenden gefährlich werden könnten (Komponente der Intoleranz), während die vielfältigen Angebote lebensweltlicher Entfaltungsmöglichkeiten ausreichen, um sich als frei zu empfinden (Komponente der Permissivität). Anpassung in Form eines Verzichts auf Fundamentalkritik wird auf diese Weise belohnt.

Politische Analysen kranken oft an der Antiquiertheit ihrer Begrifflichkeit. So versuchten die Kommunisten der 20er Jahre das neuartige Phänomen des Faschismus mithilfe des Marx entlehnten Terminus „Bonapartismus“ sich verständlich zu machen, was unvermeid­licher­weise zu einer grotesken Fehleinschätzung führen mußte. Freilich kann man Neues nur mit den Mitteln begreifen, die einem zur Verfügung stehen und die mithin, weil sie der Vergangenheit entstammen, notwendig antiquiert und deshalb unangemessen sind. Darum sollten auch die von mir ins Spiel gebrachten Begriffe des technokratischen Funktionalismus und des sanften Totalitarismus nur als vorläufige und tastende Versuche aufgefaßt werden, sich gedanklich einem neuartigen Phänomen zu nähern. Um diese Annäherung ein Stück weit voranzutreiben, empfiehlt es sich, beide Begriffe zusammenzudenken. Der sanfte Totalitarismus verwirklicht sich in Form eines technokratischen Funktionalismus. Wenn man bereit ist, Totalitarismus nicht im Hinblick auf seine Mittel Gewalt und Ideologie zu betrachten, sondern im Hinblick auf seine Wirkung, nämlich der Errichtung einer nicht mehr kritisierbaren totalen Herrschaft, die sich – im Gegensatz zu einer Diktatur – auf den Konsens der Bevölkerungsmehrheit stützt, dann wird man auch die gegenwärtige Lage in einem anderen Licht sehen. Als hilfreich erweist sich der Blick in die Fremde, auf das Vorbild China. Hier zeichnet sich eine der Lage in der BRD ähnliche Entwicklung ab, die aber leichter erkennbar wird, weil der Blick in die Fremde es einem erlaubt, aus der Selbstverständlichkeit und Befangenheit der unmittelbaren Umwelt herauszutreten.

Der traditionelle Totalitarismus verfolgte eine Strategie der politischen Maximierung. Durch maximale Intensivierung des Politischen sollte eine Gesellschaft geschaffen werden, deren Stabilität darauf beruht, daß alle Gesellschaftsmitglieder den ideologischen Zielvorgaben entsprechen, indem sie zu perfekten (Volks-) Genossen transformiert werden. Bestimmte ideologisch hochbewertete Merkmale, die Reinheit des arischen Blutes, das Klassenbewußtsein, sollten maximal entwickelt werden. Der neue, sanfte Totalitarismus geht genau entgegengesetzt vor. Ihn interessiert nur das störungsfreie Funktionieren der Gesellschaft, das er technokratisch regulieren will. Darum strebt er eine apolitische Minimierung an. Sein Ideal ist der Mensch ohne Eigenschaften. Jegliches Geltendmachen spezifischer Eigenschaften wie Geschlecht, Nationalität, Intelligenz usw. ist unerwünscht, weil dieses Geltendmachen den politischen Konflikte auslösenden Gegensatz zu Menschen mit konträrer Merkmalsausstattung (Mann-Frau, Deutscher-Ausländer) hervortreten läßt. Der Merk­mals­besitz muß daher negiert werden, als bedeutungslos hingestellt, als bloß konstruiert entlarvt werden. Nichts Merkmalhaftes darf zum Kriterium sozialer Wertschätzung werden, darf auf keinen Fall eine politische Bedeutung erlangen. Die Negation des Merkmalhaften, das letztlich genau das kennzeichnet, was das Charakteristische an einem Menschen ist, was einen Mensch zu einem besonderen Menschen macht, läßt sich nicht ohne ein gewisses Maß an Gewaltsamkeit durchführen. Permanente Kontrolle soll verhindern, daß aus dem grauen Einerlei der Merkmalslosigkeit sich etwas erhebt, das eine potentiell politisch bedeutsame Besonderheit repräsentieren könnte. Darum verdient ein solches Regime die Bezeichnung totalitär, weil eine staatlicherseits betriebene umfassende Ver­haltens­regulierung nichts anderes als totalitär ist. Zugleich ist dieses Regime ein technokratischer Funktionalismus. Dieser kann nur funktionieren durch eine Komplexitätsreduktion des gesellschaftlichen Systems. Durchregieren läßt sich nur, wenn Herrschaftsprozesse in gleicher Weise sich auf alle beziehen,die darum notwendigerweise mehr oder weniger gleich sein müssen. Die Komplexität wäre zu groß, wenn auf die Besonderheit sich anhand spezifischer Merkmale konstituierender Gruppen Rücksicht genommen werden müßte. Sanfter Totalitarismus und technokratischer Funktionalismus bedingen einander. Die totale Kontrolle stellt durch Merkmalsnegierung die für das Funktionieren des technokratischen Funktionalismus unabdingbare Komplexitätsreduktion her und ermöglicht es ihm durch diese Entpolitisierung anfallende Aufgaben und Themen als rein sachliche, einer politischen Dimension enthobene Probleme technokratisch zu handhaben. Der relative Erfolg bei dieser technokratischen Handhabe gewährleistet wiederum die Akzeptanz des politischen Systems, da es die Bereitstellung von konsumistisch zu nutzender Entfaltungschancen ermöglicht, in denen sich eine eigenschaftslose Individualität verwirklichen kann.

Ich möchte nicht beanspruchen, mit diesen kursorischen Überlegungen eine umfassende Analyse der gegenwärtigen politischen Wirklichkeit vorgelegt zu haben. Wohl aber hoffe ich, dem Leser einige Begriffe in die Hand gegeben zu haben, um das Unbehagen an den zunehmend illiberalen und repressiven Zuständen deutlicher erfassen zu können.

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Dr. Winfried Knörzer

Dr. Winfried Knörzer, geboren 1958 in Leipzig, studierte in Tübingen Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaften, Japanologie und promovierte über ein Thema aus der Geschichte der Psychoanalyse. Berufliche Tätigkeiten: Verlagslektor, EDV-Fachmann. Seit Anfang der 90er Jahre ist er mit Unterbrechungen publizistisch aktiv.

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