Die kriegerischen Pazifisten: linke Lebenslügen und der entfesselte Bellizismus

von Dr. Winfried Knörzer

Die kriegerischen Pazifisten: linke Lebenslügen und der entfesselte Bellizismus

Obwohl ich durchschnittliche Filme schon nach wenigen Monaten völlig vergessen habe, was auch dazu führt, daß ich sie ein zweites Mal anschaue, was ich leider erst nach einiger Zeit mitbekomme, ist mir ein eher schlechter Kriegsfilm wegen seines ideologischen Hintergrunds in Erinnerung geblieben. In diesem spielt Robert Mitchum einen pazifizistischen Kriegsberichterstatter, der sich standhaft weigert, eine Waffe in die Hand zu nehmen. Obwohl er dadurch öfters Konflikte heraufbeschwört, bleibt er seiner Gesinnung treu. Eines Tages gerät die Einheit, der er sich zum Zwecke seiner Reportagetätigkeit angeschlossen hat, unter den Beschuß zweier deutscher Scharfschützen, die sich in einem Kirchturm verschanzt haben, was, nebenbei bemerkt, wirkliche Scharfschützen niemals tun würden, da sie sich in einer solchen Stellung exponieren und sich von einer Rückzugsmöglichkeit abschneiden. Nachdem einige Kameraden getroffen wurden, schnappt er sich eine MPi, schleicht sich an den Kirchturm heran und tötet die beiden Deutschen.

Robert Mitchum: von pazifistischer Gewaltlosigkeit zu heldenhaftem Kampfeswillen – oder: die Parabel von den bundesrepublikanischen Grünen

Bemerkenswert ist nicht nur der abrupte Wandel von pazifistischer Gewaltlosigkeit zu heldenhaftem Kampfeswillen, sondern auch die erstaunliche Emanation einer militärischen Befähigung, dank derer ein des Kampfes ungewohnter Zivilist zwei Elitesoldaten auszuschalten vermag. Mitchum verkörpert den typischen guten Amerikaner, der den Krieg verabscheut, weil er sich an humanistischen und demokratischen Idealen orientiert. Der gute Amerikaner will keinen Krieg, aber zuweilen wird er durch die Bosheit des Feindes dazu gezwungen, zu den Waffen zu greifen. Weil er nur sich und seine Werte verteidigt, ist sein Kampf gut und gerecht. Anscheinend korreliert nun auch militärisches Können mit sittlichem Wollen, denn anders ist es nicht zu erklären, wie des Waffenhandwerks ungeübte Menschen plötzlich zu Meistern des Kampfes mutieren. Der an sich Friedfertige ist aufgrund seiner sittlichen Größe zum Kampf nicht nur bereit, sondern auch befähigt. Man kann es sich leisten, sich friedfertig zu zeigen, weil man die im Inneren verborgene Kampfesfähigkeit jederzeit, wenn es erforderlich ist, abrufen kann. Ist die Gesinnung gut, wird sich alles Weitere fügen.

Vermutlich wird man bereits erahnen, was die parabelhafte Einleitung zeigen will. Der von Mitchum dargestellte Reporter gleicht den bundesrepublikanischen Grünen, die anläßlich des Ukrainekrieges ihren Pazifismus über Bord geworfen haben und nun vehement den Widerstand der Ukrainer unterstützen, ja sogar bedenkenlos nicht vor einer Eskalation zum Weltkrieg zurückschrecken. Was ist von einem Pazifismus zu halten, der, sobald die Probe aufs Exempel gemacht wird, fallengelassen wird wie ein nasses Handtuch?

Obwohl ich keinerlei pazifistische Neigungen hege, nötigt mir der Pazifismus gewisser christlicher Sekten Respekt ab, die ihrem Glauben zuliebe unbeirrt am Prinzip der Gewaltlosigkeit festhalten, auch wenn dies bedeuten sollte, dafür ihr Leben zu opfern. Mit diesem ehrlichen, ernstgemeinten und auf tiefer Überzeugung geründeten Pazifismus hat der Pazifismus der Linken nichts gemeinsam. Dieser speist sich vor allem aus zwei Quellen: Zum einen ist dieser Pazifismus ein taktischer, bzw. reaktiver. Das herrschende System, dem sie als Fundamentalopposition angehören, ist für sie der Hauptfeind, weshalb eine Verteidigung dieses Systems überhaupt nicht in Frage kommt. Ein militärischer Feind, mit dem sich das System im Krieg befindet, ist darum nicht ihr Feind; unter Umständen werden seine Kriegsanstrengungen sogar als willkommenes Mittel betrachtet, um das verhaßte System zu beseitigen. Deshalb taten die Bolschewiki alles, um das Nachlassen des russischen Wehrwillens im Ersten Weltkrieg zu forcieren, da eine Niederlage im Krieg gegen das Deutsche Reich das Ende des Zarismus nach sich ziehen würde, auch wenn diese schmerzhafte Verluste an nationaler Substanz bedeuten sollte. Pazifismus ist daher ein Instrument des politischen Kampfes gegen das herrschende System, um dessen Existenzgrundlage zu unterminieren.

Zum anderen ist linker Pazifismus Ausdruck und Folge einer langen Friedensperiode und wohlstandssaturierten Lage, in der allein schon die Möglichkeit eines Krieges aus dem Blickfeld geraten ist. Kriege sind Angelegenheiten, die der Vergangenheit angehören oder sich in fernen Ländern abspielen. Man denkt: „Kriege betreffen mich nicht und sollen mich auch nicht betreffen.“ Linke Politik dreht sich um Ausbau der eigenen Macht, Kampf gegen Rechts und traditionelle Bestände, um Gleichstellung, materielle Verbesserungen, Selbstverwirklichung usw. Krieg hat in einer solchen Programmatik keinen Platz. Pazifismus ist nicht viel mehr als eine Reminiszenz einer Vergangenheit, als alles Militärische zur Sphäre des herrschenden Systems gehörte und darum abzulehnen war, die aus liebgewonnener Gewohnheit weiterhin mitgeschleppt und nostalgisch gepflegt wird. Aus diesem Grund ist der linke Pazifismus auch nicht wirklich ernstgemeint; er ist ein Versatzstück der ideologischen Uniform. Man bekennt sich zu ihm, weil dies zum Comment gehört, den man befolgen muß, wenn man dazugehören will – zur Gemeinschaft der progressiven Gutmenschen. Man erwartetet – auch in anderer Hinsicht – ganz selbstverständlich, daß die Säulen der Lebensgrundlagen der Nation und damit auch der eigenen Existenz wie Wirtschaft, Rechtsordnung, Militär etc. weiterhin tragen werden, auch wenn man nichts zu ihrem Erhalt beiträgt, ja diese sogar durch fortwährende Kritik und Kontrolle in ihrer Funktionsfähigkeit beschädigt. Da die Realitätstauglichkeit pazifistischer Gesinnung nicht herausgefordert wird, kann man es sich erlauben, einen bequemen, billig zu habenden und zugleich prestigefördernden Idealismus der Gewaltfreiheit und Friedensliebe zu propagieren. In einer historischen Lage, in der die Linke selbst an der Macht ist, ist die erstgenannte, ursprüngliche Form linken Pazifismus, der revolutionäre Defaitismus, zu einem Randmotiv abgesunken. Die heute vorherrschende Form beruht auf einer Haltung der Wurstigkeit und des Egoismus, die schlicht und einfach nicht mit dem Komplex des Militärischen, zu dem auch eine Idee von Weltpolitik gehört, belästigt werden will.

Der Wolf und das Lamm. Illustration einer Fabel von Jean de La Fontaine (1621-1695). Gemälde von Jean Baptiste Oudry (1686-1755)

Diese Haltung ist nicht neu und auch keine dezidierte Eigentümlichkeit der Linken, die in der Vergangenheit durchaus vor Kriegen nicht zurückschreckten, sofern es der Sache des Sozialismus diente. Sie entstammt vermutlich dem Selbsterhaltungstrieb, der alle ernsthaft bedrohlichen Gefahren zu vermeiden sucht und sich stets dann als dominierendes Verhaltensregulativ in den Vordergrund schiebt, wenn er nicht durch institutionell habitualisierte Ideale wie Patriotismus und Ehre, Glaube an den Wert des Eigenen und auch durch Staatsräson beschränkt wird. Bereits Hegel hatte diese Haltung spöttisch kommentiert:

Man hört soviel auf den Kanzeln von der Unsicherheit, Eitelkeit und Unstetigkeit zeitlicher Dinge sprechen, aber jeder denkt dabei, so gerührt er auch ist, ich werde doch das Meinige behalten. Kommt nun aber diese Unsicherheit in Form von Husaren mit blanken Säbeln wirklich zur Sprache und ist es Ernst damit, dann wendet sich jene gerührte Erbaulichkeit, sie alles vorhersagte, dazu, Flüche über die Eroberer auszusprechen. (G.W.F: Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, §324)

Der linke Pazifismus ist also keine prinzipielle, unter allen Umständen durchzuhaltende Friedfertigkeit. Er entstammt, vereinfacht gesagt, entweder der Bosheit oder der Faulheit. In heutiger Zeit ist er nichts anderes als die Bekundung des festen Willens, unbedingt den status quo, der durch die Abwesenheit manifester Gewalt gekennzeichnet ist, zu bewahren. Wenn nun der status quo aufgebrochen und die harte Wirklichkeit „in Form von Husaren mit blanken Säbeln“ in die Traumwelt eindringt, zeigt man sich verstört – so wie immer wenn die Wirklichkeit sich partout nicht dem fügen möchte, was ihr die Ideologie vorschreibt, wie sie auszusehen habe. Der Realist rechnet mit der Möglichkeit des Krieges, weil er berücksichtigt, daß andere in der Durchsetzung ihres Willens weiter zu gehen bereit sind, als man selbst es wäre. Darum ist er auch in der Lage, vorurteilsfrei die Motive und Interessen des potentiellen Feindes zu ergründen, um einer Eskalation vorzubeugen. Der Illusionist dagegen glaubt, daß alle Menschen gut sind und sie deshalb auch – mit Ausnahme der bösen Rechten – das gemeinsame Gute anstreben. Aus dieser Illusion herausgerissen zu werden, bedeutet weit mehr, als nur einen Fehler der Lageeinschätzung zugestehen zu müssen. Es bedeutet den Zusammenbruch eines Weltbilds und damit auch eine narzißtische Kränkung. Ohne die haltgebende Kraft des Weltbilds gerät alles aus den Fugen und man reagiert panisch, was auch heißt, daß spontane, bislang verdrängte atavistische Antriebe die Oberhand gewinnen. Man will Rache für die zerstörte Illusion. Wer sich nicht – nach den Maßstäben des eigenen ethischen Kanons – als gut erweist, muß böse sein. Das Böse aber muß bekämpft werden.

Das linke Weltbild besteht aus Lebenslügen: Menschen seien gut, seien gleich, es gebe eine Vielzahl von Geschlechtern, dagegen gebe es keine Rassen und Völker. Zu diesen Lebenslügen gehört auch die Annahme, daß Pazifismus eine sinnvolle und jederzeit anwendbare Option politischen Handelns sei. Zugleich flüstert diesen Gläubigen ein nie ganz zum Verstummen bringender Dämon zu, daß dies alles nicht stimmen kann. Man lebt in einer Welt des Doppel-Denk: hier die Sphäre der ideologischen Phantasmen, zu der man sich als öffentlicher Mensch bekennt, und da die Sphäre der Wirklichkeit, zu der man sich als Privatperson realitätsadäquat verhält. Man weiß, daß Männer kräftiger sind als Frauen, weshalb man ihnen nicht das Tragen schwerer Gegenstände aufbürdet, daß man mehr leisten muß, um es besser zu haben als … als die anderen Gleichen, daß man bestimmte Stadtviertel tunlichst meiden sollte, daß die eigenen Kinder nicht in eine Schule mit hohem Migrantenanteil gehen sollten. Die ideologiekonforme Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens in Richtung Irrealität hat noch keinen Zusammenbruch ausgelöst, weil einerseits die ursprünglich allein der Sachnotwendigkeit gehorchenden traditionell institutionalisierten Prozesse der gesellschaftlichen Subsysteme wie Wirtschaft, Verwaltung, Rechtswesen usw. kraft ihrer relativen Eigengesetzlichkeit einen hinreichenden, wenn auch nicht mehr optimalen Realitätsbezug gewährleisten, und weil andererseits die realitätsbewußte, „hellere“ Hälfte der psychischen Verfassung der Illusionisten es diesen ermöglicht, sich adäquat funktionierend in diese Subsysteme zu integrieren. Im Normalzustand ist es möglich, diese beiden Sphären der Weltorientierung fein säuberlich getrennt voneinander zu halten, da kein Anlaß besteht, den Widerspruch zwischen ihnen zu thematisieren. Darum aber muß alles getan werden, um diesen Widerspruch nicht manifest werden zu lassen. Die Realtitätsverleugnung muß verleugnet werden. Dies ist auch einer der Gründe für die gnadenlose Verfolgung der Rechten, weil diese die Stirn besitzen, auf die unhintergehbaren, aber verleugneten Gegebenheiten der Realität aufmerksam zu machen.

Osmar Schindler: Kriegsfurien um 1918

Der Pazifismus, der auf dem Glauben an die Gutheit aller Menschen beruht, da er nur so begründbar ist, trägt immer den Keim des Umschlags in einen entfesselten Bellizismus in sich. Dieser erfolgt, wenn sich das Trauma der Desillusionierung einstellt. In diesem Augenblick wird das offizielle und manifeste Programm der ideologischen Illusionen abgeschaltet und das bisher latente Programm der Realitätszugewandtheit aktiviert, das nun aber mit den Antrieben der frustrationsverursachten narzißtischen Wut angereichert wird. Der Umschlag vom Pazifismus zum Bellizismus ist nur möglich, weil die Bezugnahme auf die Realität des Gewaltkomplexes im latenten Programm enthalten war. Um die Folgen, die ein solch aus dem Nichts, unvorbereitet hervorbrechender Bellizismus nach sich zieht, macht man sich, wie stets, keine Gedanken, denn es gilt: Ist die Gesinnung gut, wird sich alles Weitere fügen.

Ergänzung

Die bellizistische Wende besitzt in der Tabuisierung des Gewaltkomplexes ein nur diesem Vorgang eigentümliches Merkmal, zugleich aber ist die Neigung zur Wendehalsigkeit ein generelles Phänomen. Ein Grund dafür besteht in der Veränderung der Machtposition, von der aus politische Diskurse vorgenommen werden. Eine politische Haltung hängt stets von der Stellung im Machtgefüge ab. Sie muß sich verändern, wenn man von einer – vielleicht sogar marginalisierten oder bekämpften – Opposition in den Machtbesitz gelangt. Die von einer oppositionellen Stellung ausgehenden Diskurse hatten die Funktion, die Herrschenden zu kritisieren und zu delegitimieren. Im Hinblick auf diese Absicht war, ohne Rücksicht auf mögliche Folgen einer Verwirklichung der Postulate, jedes propagandistische Mittel recht, solange es sich als zweckdienlich erwies. Alles, was der Gegner tat oder sagte, mußte als schlecht dargestellt werden. Ist man nun aber selbst Herrschender geworden, so muß man sich zu einer zumindest partiell realitätsorientierten Politik bequemen, da bei einem durch eine völlig illusorische Politik verursachten Abgleiten in Chaos und Verarmung die Tage des Machtbesitzes in einer Noch-Demokratie gezählt wären. Um die Energieversorgung einigermaßen zu gewährleisten, nimmt darum eine nominelle Umweltschutzpartei zugunsten einer windenergiezentrierten Klimapolitik massive Naturzerstörung in Kauf. Des weiteren bietet die Machtstellung die Möglichkeit, oppositionelle Kräfte, seien diese nun Rechte, Coronakritiker oder Abtreibungsgegner, zu bekämpfen, weshalb man Freiheitsrechte, auf die man sich, als man selbst noch Opposition war, zum eigenen Nutzen vehement berufen hatte, spornstreichs kassiert.

Ein solcher Wandel ist freilich gewissermaßen normal, da den systemischen Mechanismen von Machtstrukturen geschuldet. Komplexere und nicht unmittelbar einsehbare Gründe liegen freilich bei einem zweiten Faktor, der prinzipiellen Rückgratlosigkeit, vor. Abseits des lunatic fringe würde sich kein auf dem Vordergrund der politischen Bühne spielender Akteur hinstellen und mit Luther sagen: „hier stehe ich und kann nicht anders.“ Vielmehr würde er, wenn die Umstände und echter Druck es erfordern, bekunden: „hier stehe ich, ich kann auch anders.“ Warum ist das so? Warum ist der zeitgenössische politische Typus nicht mehr bereit, sich – wie dies früher ganz selbstverständlich vorausgesetzt wurde – für eine Idee aufzuopfern, und sei dieses Opfer auch nur der Verlust eines Abgeordnetenmandats?

Die Ernsthaftigkeit einer politischen Haltung erwächst aus existentiell prägenden Erfahrungen. Krieg, Unterdrückung, bittere Armut ergreifen die gesamte Persönlichkeit in ihrem Kern und prägen sie nachhaltig. Jegliches spätere politische Handeln geschieht im Licht dieser Erfahrungen und richtet sich an der Leitlinie aus, daß so etwas überwunden werden müsse. Solche harten und hartmachenden Erfahrungen sind den heutigen Menschen erspart geblieben. Darum sind politische Programmatiken auch nicht mehr existentiell grundiert. Sie sind nicht mit dem Persönlichkeitskern verschweißt, sondern bewegen sich auf der oberflächlichen Ebene des alltäglichen Meinens und Redens. Deshalb besteht auch kein Anlaß, um jeden Preis an ihnen festzuhalten. Von ihnen abzurücken, tangiert den Persönlichkeitskern nicht. Man bleibt derselbe, man empfindet keine Identitätspreisgabe, wenn man eine andere Position vertritt.

Ideologeme haben nicht mehr die Funktion, den erfahrungsgeprägten, unbedingten Willen zur Wirklichkeitsgestaltung zum Ausdruck zu bringen. Man wurde von der Wirklichkeit gestaltet, weshalb man nun selbst die Wirklichkeit gestalten wollte. Jetzt beschränken sich Ideologeme darauf, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu markieren. Das Dazugehörenwollen – zur Mehrheit, zu den Gutmenschen, zur Gemeinschaft der sich gegenseitig Anerkennenden – ist die Form, die heute der politische Wille angenommen hat. Man hat keine festen Überzeugungen, sondern ist davon überzeugt, das Richtige zu tun, wenn man das macht, was alle machen – nicht aus krassem Opportunismus, sondern weil man ehrlich überzeugt ist, daß das Herrschende das Gute ist. Verändert sich die Stimmung, stimmt man sich darauf ein. Wie in einem Fischschwarm, der plötzlich seine Richtung ändert, wenn dies einige Lotsen vorgeben, schwimmt man mit.

Ideologeme waren Waffen im politischen Kampf, indem sie die Feindschaft auf den Begriff brachten. Sie waren feindbestimmt. Jetzt sind sie sozusagen freundbestimmt, weil sie als Signale der Zugehörigkeit zur Freundesgruppe fungieren. Sie sind daher problemindifferent, nicht auf die Widerständigkeit eines Objekts hin ausgelegt, was in einer Gemeinschaft von Gleichgesinnten auch nicht erforderlich ist. Die Empörung ist dann auch groß, wenn sich doch ein Widerständiges zeigt: Rechte, die sich nicht der herrschenden Meinung fügen, oder ein Krieg, der die Illusion des ewigen Friedens zerstört. Ideologeme dienen nicht mehr dazu, eine bestimmte Haltung gegenüber der Wirklichkeit festzulegen, sondern sind Zeichen, die zur gegenseitigen Bestätigung der Gruppenzugehörigkeit innerhalb der gruppeninternen Kommunikation ausgetauscht werden. Sie haben nur insofern Bezug zur Wirklichkeit, als diese die konstant bleibende, verläßliche Basis abgibt, über der sich die Kommunikation, die allein von Interesse ist, erhebt. Ändert sich die Wirklichkeit, so muß sich auch die Kommunikation ändern. Als bloßes kommunikatives Tauschmittel, werden dann auch die Ideologeme ausgetaucht. Dieser an sich erschütternde Vorgang, der eigentlich dazu veranlassen müßte, die Tauglichkeit der ideologischen Konstruktion zu hinterfragen, wird nicht problematisiert, weil er gar nicht als echtes Problem wahrgenommen wird. Ein Konflikt zwischen (geänderter) Wirklichkeit und ideologischem Weltbild könnte nur entstehen, wenn dieses auf einer festen inneren Überzeugung beruhte. Denn nur so könne der Widerspruch schmerzhaft empfunden werden. Ohne die feste innere Überzeugung ist dagegen die eigene politische Haltung bodenlos und kann daher schwanken wie ein Rohr im Wind. Relevant für die eigene politische Haltung ist dagegen nur die Übereinstimmung mit den Erfordernissen der gruppeninternen Kommunikation. Wenn dieses Übereinstimmenwollen primär handlungsleitend ist, dann ist auch die Anpassung an veränderte ideologische Grundlagen der Kommunikation kein Problem. Ein solches Verhalten ließe sich nur dann als schnöde Wendehalsigkeit bezeichnen, wenn das charakterstarke Festhalten an einer einmal eingenommenen Überzeugung noch ein Ideal wäre. Wenn aber das Übereinstimmenwollen zur zentralen Maxime geworden ist, dann bleibt man diesem formalen Prinzip treu, auch wenn sich dessen Inhalt ändert.

Dr. Winfried Knörzer

Dr. Winfried Knörzer, geboren 1958 in Leipzig, studierte in Tübingen Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaften, Japanologie und promovierte über ein Thema aus der Geschichte der Psychoanalyse. Berufliche Tätigkeiten: Verlagslektor, EDV-Fachmann. Seit Anfang der 90er Jahre ist er mit Unterbrechungen publizistisch aktiv.

Ein Kommentar zu “Die kriegerischen Pazifisten: linke Lebenslügen und der entfesselte Bellizismus

  1. Die „Grünen“ haben den sogenannten Pazifismus doch schon längst seit der Bombardierung Jugoslaviens aufgegeben…
    Man denkt auch nicht darüber nach, wie klimaschädlich jeder produzierte und zerstörte Panzer und jedes Geschoss ist…Michel, schlaf weiter und hofiere weiterhin dieses Pack…

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