von Henning Eichberg
Ethnopluralismus – eine antikoloniale Begriffsgeschichte: Völker, hört die Signale …
Um 1970 nahm die soziale Unruhe in verschiedenenTeilen der Welt die Gestalt ethnisch-nationaler Konflikte und Abkoppelungsversuche an. Solidaritatsbewegungen entstanden in den Metropolen und prägten die neue linke Bewegung. Aufmerksamkeit richtete sich auf so unterschiedliche Sezessionsbewegungen wie Black Power in den USA, Biafra in Nigeria, Flamen in Belgien, Bretonen in Frankreich, Basken in Spanien, Waliser und Schotten, die irischen Republikaner im britischen Ulster/Nordirland, Palästinenser, Kroaten, Ukrainer, Kurden, Eriträer und American Indian Movement. Es entstanden Solidaritatskomitees, die Informationen über die spezifischen Situationen verbreiteten, und im Anschluss daran breiter angelegte Menschenrechtsbewegungen wie die „Gesellschaft für bedrohte Volker“. Die meisten dieser Solidaritätsbewegungen hatten ein überwiegend linkes Profil und bewegten sich im Bereich des neuen Antikolonialismus. Einige Sezessionsbewegungen – Black Panthers und American Indian Movement, die irischen Republikaner (IRA) und die baskische ETA – bildeten Netzwerke mit der Linken anderer Länder. Nur einzelne Themen – wie Kroatien und Ukraine – waren eher rechts besetzt. In dieser Situation tauchte der Begriff des Ethnopluralismus auf. In der wörtlichen Bedeutung „Völker-Vielfalt“ drückte er einen übergeordneten Zusammenhang zwischen allen diesen Phänomenen von Identitätssuche, Selbstbestimmung und Abkoppelung aus – eine neue Vielfalt und ihre gesellschaftliche Herausforderung. Sein politischer Inhalt war die Anerkennung der „Anderen“, wer immer die Anderen auch sein mögen.

Pluralismus vs. Ethnozentrismus
Der Begriff Ethnopluralismus hatte seine Wirkung als Gegenbegriff zum Ethnozentrismus, gegen die Vorstellung, „wir seien die eigentlich Richtigen“. Und er richtete sich gegen das Denken der Einheitskultur, ob man diese nun wie in den 1960er Jahren als „die moderne Industriegesellschaft“ bezeichnete oder später mit Anthony Giddens als „Hochmoderne“. Vorbereitet wurde der ethnopluralistische Zugang durch frühere Forschungen deutscher Emigranten in Amerika. Von der Psychoanalyse her entwickelte Erik H. Erikson (1950) den sozialwissenschaftlichen Begriff der Identität, den er unter anderem auf Russen, Deutsche und Indianer anwandte. Seine Untersuchungen hatten besonderen Erfolg unter Angehörigen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Von der Soziologie und Anthropologie her bemühte sich Emerich K. Francis (1965) um eine Volkstheorie, die das komplexe Verhältnis von Ethnos und Demos zum Gegenstand machte.

Der Begriff des Ethnopluralismus selbst erschien wohl erstmals als antikolonialer Begriff. Aus der Sicht einer Kultursoziologie, die sich zum neokolonialen Denken kritisch verhielt, wurde die herkömmliche Entwicklungshilfe problematisch: War sie nicht ein ethnozentrisches Projekt, das auf die Verhaltensumformung anderer Kulturen nach westlich-kapitalistischem Modell zielte?
In der Folgezeit wurde der Begriff auf innereuropäische Verhaltnisse angewandt. Man sprach von einer „Balkanisierung für jedermann“. Das geschah in einer Zeit, da um 1980 der Balkan noch mit dem friedlichen Zusammenleben unterschiedlicher Völker assoziiert wurde. Zehn Jahre später erwies sich das als eine schöne Illusion, die mit dem Ende des Tito-Sozialismus zusammenbrach. Die folgenden „ethnischen Säuberungen“, Massaker und Kriege widerlegten jedoch gerade nicht den Traum vom ethnopluralen Zusammenleben – wohl aber dessen konkrete, machtgestutzte Nachkriegsform. Nach und nach wurde Ethnopluralismus in den siebziger und achtziger Jahren von einem zwischennationalen zu einem innergesellschaftlichen Begriff der Anerkennung von Vielfalt. In den deutschen Staaten richtete sich das auf Sorben und Dänen, Sinti und Roma. Und als eine neue offene Frage erschien die Problematik der neuen Einwanderungsminderheiten im Blickfeld.
An dieser Frage schieden sich jedoch frühzeitig die Geister. Fur einige Solidaritätsbewegungen ging der Lernprozess weiter vom Ethnopluralismus zum Denken der multikulturellen Gesellschaft. Der gemeinsame Nenner von Ethnopluralismus und Multikulturalität ist die Anerkennung als Grundlage eines Zusammenlebens in der Verschiedenheit. Also das elementare Recht auf Unterschied.
Staatlich halbierter „Ethnopluralismus“
Auf der anderen Seite fühlten sich auch Kreise der „Neuen Rechten“, die sich um 1970 von der staatsfixierten „Alten Rechten“ abzulösen suchten, vom Begriff des Ethnopluralismus angesprochen. Indem die Rechte den Begriff zu besetzen suchte, wurden allerdings neue Ausgrenzungen eingeführt: Zwar wurde die Verschiedenheit zwischen Nationsstaaten anerkannt, nicht aber ethnische Vielfalt innerhalb nationalstaatlicher Grenzen. Es handelte sich also um einen staatlich halbierten Ethnopluralismus. Damit liess sich sogar eine Verteidigung der südafrikanischen Apartheidspolitik vereinen, wie sie sich in Kreisen des Rechtsradikalismus verbreitete. Auf der Seite des „Anti-Faschismus“ hatte das zur Folge, dass der Begriff des Ethnopluralismus insgesamt zu einem Ausdruck völkisch-rechtsradikaler Ideologie erklärt wurde. Die Menschenrechtsarbeit der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ geriet in diesem Licht als „völkisch“ in Verruf. Da einige Antifa den Anschluss an den demokratischen und revolutionären Volksbegriff der Linken verloren hatten, kam dabei ein neues Denken der Einheitskultur heraus. Die extremste Fraktion der Antifa forderte die Unterordnung unter die Kriegskultur der USA.
Aus einer spezifisch deutsch-nationalen Befindlichkeit heraus übersah dieser Anti- Ethnopluralismus, dass die Linke mit ihrem Volksbegriff selbst die Grundlagen des ethnopluralen Denkens geschaffen hatte. Der linke demokratische Volksbegriff hatte immer ein doppeltes Profil: Volk in der Einzahl und Völker in der Mehrzahl. „Das Volk“ war „der kleine Mann“, der sich gegen die Reichen und Mächtigen erhob – das bezeichnete die Dimension der Mobilisierung und des Klassenkampfs. Das Volk erschien in Gestalt „der Völker“, die sich in ihrer Verschiedenheit „brüderlich“, solidarisch und friedlich zueinander verhalten sollten – das bezeichnete die antikoloniale Dimension der Linken. Demokratie als Volksherrschaft und Selbstbestimmung war der gemeinsame Nenner.
Der Anti-Ethnopluralismus übersah auch, dass die Umwälzungen der Jahre um 1990 in Osteuropa und Mittelasien die ethnisch-nationale Vielfalt weltweit neu auf die Tagesordnung brachten. Die Bewegungen der Esten, Letten, Litauer, Georgier, Kasachen, Tataren … der Slowaken und Tschechen … der Slowenen, Bosnier, Makedonier, Kosovo-Albaner etc … Neue Aktualitat erhielten die Konfliktherde in Tschetschenien und Tibet. Im irakischen Kurdistan wurde die ethnisch-nationale Frage von der amerikanischen Kriegspolitik ausgenutzt. Aber auch im Westen wurden neue Nationen anerkannt, und Katalanen und Basken, Schotten und Waliser erreichten Zweisprachigkeit, nationale Parlamente und Home Rule.

Politik der Anerkennung
Unter dem Eindruck solcher Erfahrungen wurde der ethnopluralistische Diskurs in den neunziger Jahren erneuert unter dem Begriff der „Politik der Anerkennung“. Diese philosophische Diskussion nahm ihren Ausgangspunkt von den neuen französischen und inuitischen (eskimoischen) Selbst-bestimmungsbewegungen in Kanada, die zur Bildung neuer halbsouveräner Teilstaaten führten. Quebec erhielt eine Autonomie mit franzosischem Gesicht und Nunavut wurde – nach Grönland – der zweite Inuitstaat der Welt.
Das brachte eine grundlegende philosophische Erörterung der „recognition“ mit sich. Die Anerkennung der ethnischen Dimension gesellschaftlichen Handelns erwies sich als grundlegend für ein tieferes Demokratieverständnis. Die Theorie der Anerkennung wurde nicht zuletzt zum Gegenstand einer Diskussion im New Left Review, wo aus ökonomisch-materialistischer Sicht der Zusammenhang zwischen materieller Gleichstellung und ideeller Anerkennung problematisiert wurde. Zugleich wurden an ganz anderen Orten der Welt entsprechende Diskussionen geführt – in Afrika und in Ostasien. Auf der Grundlage afrikanischer Philosophie einerseits und japanischer Philosophie andererseits entwarfen Intellektuelle der nichteuropäischen Welt Ansätze einer „Ethnophilosophie“. Ethnophilosophie baut nicht auf den abstrakten Denkgebäuden einzelner – stets europäisch-amerikanischer – „großer Denker“ auf, sondern auf den in den Volkskulturen manifesten Weisheiten. Das ist kulturpluralistisch und konsequent antikolonial zugleich gedacht – und es führt auf überraschende Weise am Mainstream der westlichen Denkweisen vorbei.
Auf einer anderen Ebene wurde die Frage von der Unesco aufgegriffen. Sie nahm 2001 eine Deklaration zur kulturellen Vielfalt an, in deren ersten Artikel es hiess:
„Im Laufe von Zeit und Raum nimmt die Kultur verschiedene Formen an. Diese Vielfalt spiegelt sich wieder in der Einzigartigkeit und Vielfalt der Identitäten, die die Gruppen und Gesellschaften kennzeichnen, aus denen die Menschheit besteht. Als Quelle des Austauschs, der Erneuerung und der Kreativität ist kulturelle Vielfalt für die Menschheit ebenso wichtig wie die biologische Vielfalt für die Natur. Aus dieser Sicht stellt sie das gemeinsame Erbe der Menschheit dar und sollte zum Nutzen gegenwärtiger und künftiger Generationen anerkannt und bekräftigt werden.“
Damit stehen für das 21. Jahrhundert sowohl die kulturelle Diversität als auch die Selbtbestimmung der Völker als Grundlage von Demokratie auf der Tagesordnung. Das ist es, was unter dem Begriff des Ethnopluralismus seit den siebziger Jahren diskutiert worden ist.
Der Zusammenhang von Ethnos und Demos ist allerdings komplex, wie die soziologische Volkstheorie frühzeitig gezeigt hat. Und wie die Linke stets gewusst, aber bislang selten oder nie ausdrücklich thematisiert hat, wenn sie vom „Volk“ sprach. Vom „einfachen Volk“ im Konfiikt mit den Eliten und Machtverhältnissen einerseits – und vom selbstbestimmten Volk unter anderen Völkern andererseits: „Völker, hört die Signale!“ …
Literatur
Eichberg, Henning 1973: „‚Entwicklungshilfe‘ – Verhaltensumformung nach europäischem Modell? Universalismus, Dualismus und Pluralismus im interkulturellen Vergleich.“ In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 93: 641-670. – Gekürzt 1973: „Ethnopluralismus. Eine Kritik des naiven Ethnozentrismus und der Entwicklungshilfe.“ In: Junges Forum, 3-12
1980: „Balkanisierung für jedermann? Nationale Frage, ldentität und Entfremdung in der Industriegesellschaft.“ In: Befreiung, Zeitschrift für Politik und Wissenschaft, Nr. 19/20: 46-69.
Erikson, Erik H. 1950: Childhood and Society. New York: Norton.
Francis, Emerich K. 1965: Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volktheorie. Berlin: Duncker & Humblot
Fraser, Nancy 2000: ,,Rethinking recognition!“ In: New Left Review, 3 (May/June) 107-120.
Gaylard, Rob 2004: „‚Welcome to the world‘ of our humanity. (African) humanism, ubuntu and black South African writing.“ In: Journal of Literary Studies, 1.12.2004.
Kamwangamalu, Nkonko M. 1999: „Ubuntu in SouthAfrica: a sociolinguistic perspective to a Pan-African concept!“ In: Critical Arts, 1.7.1999.
Unser Titelbild zeigt Abertzale-Linke und Mitglieder der Partei Batasuna, die 2008 gegen die Internierung von ETA-Gefangenen in Bilbao demonstrierten.

Henning Eichberg
Henning Eichberg (1942 – 2017), Kultursoziologe und Historiker, der seit 1982 in Dänemark lehrte, war bereits seit den ersten Ausgaben der Zeitschrift wir selbst (Gründung im Jahre 1979) der inspirierende Kopf. Sein intellektuelles Fluktuieren zwischen rechten und linken Denkströmungen, seine linksnationale, ethnoplurale Kritik am rechten Etatismus und seine radikale ökologische Orientierung wurden für uns programmatisch wegweisend, jedoch nie zu Dogmen.