Das Mordopfer Leistungssport

von Rocco Burggraf

Das Mordopfer Leistungssport

„Der Leon Neugebauer! Hat einen ganz eigenen Weltrekord gebrochen.“ „Persönliche Bestleistung – phantastisch!“ „Olympianorm geknackt.“ „Finaleinzug!“ „In der Qualifikation sah es verdammt gut aus!“ „So hoch ist sie dieses Jahr noch nicht gesprungen!“ „Blickt man auf die Wertung der Plätze 4-8, stehen wir vor China!“

So klingt es, wenn sich deutsche Sportmoderatoren und Journalisten um den hürdenlaufenden deutschen Elefanten im Leichathletik-Stadion zu Budapest herumwinden. Eine Sportstätte, so wurde man nicht müde zu betonen, die ja vor allem errichtet wurde, um „Viktor Orban und seinen geladenen Autokraten eine Bühne zu bieten“. Unglücklicherweise bot sie auch der früheren Leichtathletikmacht Deutschland eine solche. Man mochte in der abendlichen Berichterstattung gar nicht mehr hinsehen, wenn es in den Vorläufen am Feldende regelmäßig gelb leuchtete, die Wurfgeräte vorzeitig zu Boden taumelten, die Staffelstäbe über die Bahn purzelten und die Interviewten hernach ratlos am Mikrofon berichteten, es wäre eben „nicht ihr Tag“ gewesen, und man würde „das nächste Mal wieder angreifen.“

Als sich auch Julian Weber am letzten Wettkampftag im letzten Wettbewerb mit deutscher Medaillenhoffnung im Finale nicht mehr zu steigern vermochte, erst von Silber auf Bronze rutschte und schließlich zum xten Mal mit der Holzmedaille begnügen musste, war die Katastrophenbilanz der Deutschen perfekt. Erstmals bei der neunzehnten Auflage einer Leichtathletik-Weltmeisterschaft wurde kein einziger Platz auf dem Podest erreicht. Dort standen Sportler aus Uganda, Indien, Burkina Faso, Botswana, den Britischen Jungferninseln und Venezuela. Fast fünfzig verschiedene Nationen erhielten Edelmetall. Gemeinsam mit FS Mikronesien, Eswatini und den Nördlichen Marianen blieb derweil den Deutschen nur die Erkenntnis: Dabeisein war alles.

Man weiß natürlich auch, was nun reflexhaft folgt. Rauschen im Blätterwald. Die Verbände. Die Förderung. Der Stellenwert des Sports. Über Hollands und Spaniens Geldsegen und die frustrierende, 600€ schwere deutsche Sporthilfe. Die Strukturen, den Jugendsport, die Basis, die maroden Sporthallen und Leistungszentren. Kennt man alles. Seit Jahrzehnten. Ändern wird sich nichts. Denn es ist ein systematischer, ein unabwendbarer Abstieg mit messbaren Ursachen, Trends, Kennziffern. Ökonomischen und psychologischen. Einer mit Ansage, den man in nahezu allen Sportarten gleichzeitig registrieren kann. Und der schon lange anhält.

Im Handball zum Beispiel. Dank der Nähe zu Skandinavien – verfügen wir zwar über die stärkste Liga der Welt, aber die Erfolge der deutschen Auswahl vergangener Tage (EM Sieg 2016) sind Geschichte. Den traurigen Bundestrainer Dagur Sigurdsson hat man vorm Auge, der stets aufs Neue gute Miene zum schlechten deutschen Spiel machen muss. Es gibt keinen einzigen hochgewachsenen deutschen Rückraumshooter, wie ihn die Dänen, Isländer, Franzosen, Spanier, Norweger, Schweden, Ägypter, Tunesier, Slowenen oder Chilenen seltsamerweise gleich reihenweise aufbieten können. Der Kenner sieht, das wird nix mehr. Auch mit viel Kampf und Taktik nicht.

Im Fußball sowieso. Vorrundenaus der hochdotierten Männer und Frauen bei der WM. Endlose Pleitenserie unter Löw und Flick. Quittiert mit dem Absturz in der Weltrangliste von 1 auf 15. Ähnlich bei den Jugendvertretern sämtlicher Altersklassen. Isch over. Beenden wir das Thema lieber.

Im Wasser selbstverständlich auch. Das Flaggschiff der Ruderflotille, das Paradeboot, der „Deutschland-Achter“, von 2010-2020 bei Weltmeisterschaften zumeist ganz oben, nie schlechter als Rang Zwei, sieben Mal Mannschaft des Jahres … ist bei der WM 2023 im Vorlauf gescheitert. Die glorreichen deutschen Turmspringer – sie halten mit ihren 360°-Wenden und Schrauben nicht mehr mit. Im noch viel glorreicheren Schwimmsport paddeln die Deutschen in sämtlichen Disziplinen und Staffeln seit Jahren nur noch hinterher. Dort ist es seit mindestens zehn Jahren der „falsche Saisonaufbau.“ Lediglich in der Randsportart Freiwasserschwimmen wird noch gelegentlich zuerst angeschlagen.

Im Weltsport Tennis, der regelmässig bereits in den zweiten Runden der Gandslam-Turniere komplett deutschbefreit ist, würde man sich auf nostalgische Erinnerungen an Becker, Stich und Graf beschränken müssen, gäbe es nicht mit dem nun nach Verletzung wieder startenden Sascha Zverew einen Spieler, der rechtzeitig aus dem Schattenreich ins Einwanderungsland importiert wurde und das Dilemma im deutschen Tennissport ab und zu überdeckt. Gleiches in der rhythmischen Sportgymnastik, wo derzeit eine sechszehnjährige Deutsche die Welt verzückt, deren russischer Akzent allerdings auf Herkunft, Motivation und Ausbildung deutet. Das kann man sich nicht wirklich auf die deutsche Fahne schreiben.

Bei der Tour de France konnte einzig Phil Backhaus beim Sprint einigermaßen mithalten. Aber die für einen Sieg in Frage kommenden sogenannten Klassementfahrer kommen aus Dänemark, Slowenien, Großbritannien, Spanien. Außenseiterchancen räumt man noch Fahrern aus Frankreich, Australien, Belgien, Holland oder Kolumbien ein. Deutsche sind nicht dabei. Unter den besten 60 ist gerade noch einer nach der diesjährigen Tour registriert.

Im winterlich-alpinen Bereich rutschen die erfolgsverwöhnten deutschen Skisportler den anderen Gebirgsvölkern ebenfalls konsequent hinterher. Kaum mal ein Weltcuperfolg. Kaum Medaillen bei Meisterschaften oder Olympischen Spielen. In Garmisch erinnert man sich zu Silvester seit geschlagenen zweiundzwanzig Jahren an die letzte von einem Deutschen gewonnene Vierschanzentournee. 2001 war das, als Sven Hannawald viermal voranflog und anschließend nicht mehr in die Spur zurückfand. Nun will man Jahr für Jahr aufs Neue „vorn mitspringen“ und staunt Jahr für Jahr, wie der winzige Nachbar Österreich jede zweite Tournee mit immer neuen Springern gewinnt.

In Sachen Eiskunstlauf nostalgiert man sich mit Jutta Müller und ihrer sächselnden Frohnatur Katharina durch die Jahre. Im Eisschnelllauf wird Deutschland heute zumeist von der mittlerweile einundfünfzigjährigen Claudia Pechstein vertreten, die vermutlich 2075 bei irgendeinem 3000m langen Meisterschaftsrennen zusammenbrechen und ihr durchaus erfülltes Leben beschließen wird. Auf den, im Gefälle betonierten geschlängelten Kunsteisbahnen, auf denen es neben dem Fitnesszustand vor allem auf Ortskenntnis und Fahrgerät ankommt, wird, subventioniert von Polizei und Zoll zwar noch einigermaßen erfolgreich gerodelt, gebobt und skeletoniert. Aber die bereits beschlossene Mittelkürzung beim Ausrüster FES lässt befürchten, dass demnächst auch in der wirklich allerletzten Domäne des deutschen Sports sehr viel kleinere Brötchen gebacken werden müssen.

Und da ist noch etwas anderes Bemerkenswertes. Die auf ihrem Leistungshöhepunkt regelrecht fliehenden Biathletinnen Neuner (24), Dahlmeier (26), Gössner (28) oder zuletzt der zweiundzwanzigjährigen Nachwuchshoffnung Luise Müller (22), die regelmässigen Absagen von Fußball- und Handballprofis bei zwischenzeitlichen Auftritten der Nationalmannschaft oder auch die Tatsache, dass sich mit Toni Kroos ein aktiver, mehrfacher Championsleaque-Sieger schon vor geraumer Zeit das Thema deutsche Mannschaft einfach nicht mehr antun mochte, deuten darauf hin, dass da mehr als nur Fragen der Auskömmlichkeit des Sportlerlebens im Raum stehen.

Das auf allen Ebenen dem Masochismus, der Fahnen- und Gesangsphobie verfallene Land, hat nicht nur ein sportliches Struktur- und Förder- sondern eben auch ein gigantisches Problem mit dem Selbstbewusstsein. Eines, das bei Meisterschaften wie ein Mühlstein an seinen Vertretern und Vertreterinnen hängt. Das Image des Deutschseinmüssens wiegt schwer. Bewusst oder unbewusst. Profisportler wissen, oder sollten wissen, wieviel in den entscheidenden Sekunden beim Kampf um Gold im Kopf entschieden wird. Wenn man nämlich ahnt, wer da zuhause oder im Stadion mitfiebert, wenn man sich gewiss sein darf, dass einen neben materiellen Vorzügen die altmodischen, leider eben auch nationalen Kategorien Ruhm und Ehre für die ganze Schufterei nachhaltig entschädigen werden. Wenn man das versteht, dann ist man weniger überrascht, wenn selbst die beiden, bis zuletzt ziemlich erfolgreichen Hockeynationalmannschaften (Herren-Weltmeister 23, Damen EM-Zweite 19/21), bei der soeben zu Ende gegangenen EM im eigenen Land, zwar das Menetekel mit dem Regenbogen auf dem Feld spazieren tragen durften, die jeweiligen Finals trotz Favoritenrolle aber völlig sang- und klanglos verpassten. Es sei „nicht ihr Tag gewesen…die Automatismen … die Vorbereitung …!“ Sie wissen schon…

Was die Sportler verständlicherweise nicht wissen, vielleicht mangels Ausweg auch nicht wissen wollen, es ist nicht nur nicht ihr Tag gewesen sondern sie haben das Pech, ihrer Tätigkeit in einer zu Ende gehenden Epoche nachzugehen. Einer Ära, in der Deutschland ein erfolgreiches weil strikt leistungsorientiertes Land darstellte.

Der Stolz, für ein solches Land antreten zu dürfen, der sich hieraus speisende Ehrgeiz, an die Spitze zu gelangen, sich zu vergleichen und der unbedingte Siegeswille wurden und werden in Deutschland systematisch zugunsten einer dümmlich lähmenden Gleichheits- und Beliebigkeitsideologie abtrainiert. Von Kindesbeinen an. Ein Land aber, das den Leistungsvergleich auf allen Eben ausmerzt, Spitzenleistung nicht mehr fördert, nicht belohnt, das andauernde, inzwischen hochnotpeinliche Versagen entschuldigt, schulterzuckend akzeptiert und davonquatscht, kann nicht erfolgreich sein. Im Sport ebenso wenig wie überall sonst.

Beitragsbild: Olympiade 1920 in Antwerpen

Rocco Burggraf

Ich wohne in Dresden, bin parteilos, Familienvater, hauptberuflich freier Architekt und nebenberuflich inzwischen auch kritischer Publizist in sozialen Netzwerken. Meine politische Orientierung würde ich in erster Linie als freiheitlich bezeichnen. Kontaminierte Einordnungen nach links oder rechts, sozial oder wertkonservativ sind für mich uninteressant, weil von Fall zu Fall verschieden.

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2 Kommentare zu „Das Mordopfer Leistungssport

  1. „…Das kann man sich nicht wirklich auf die deutsche Fahne schreiben…“
    Weiss noch jemand wie die aussieht…ist die nicht bunt? Gewinnen Athleten aus der ‚Dritten Welt‘ duerfen die ‚Deutschlaender‘ auch stolz sein – wir bezahlen und beherbergen sie ja. Bei jeder Medallienvergabe steht der ‚Deutsche‘ im Geiste sozusagen mit auf dem Podest. LOL

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    1. Na ja, Herr Burggraf, jetzt haben die Basketballer quergeschossen. Vielleicht werden „wir“ sogar Weltmeister!?
      Vor 10 Jahren kritisierte ich einen JF-Kommentator, der im Brustton der Überzeugung versicherte, Deutschland könne nie mehr Fußballweltmeister werden. Dann kam 2014 die Endrunde in Brasilien …

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