„Giant Sand“ in Heidelberg. Eine Nachlese.

von Oleksander Petrov

„Giant Sand“ in Heidelberg. Eine Nachlese.

Die graue Eminenz des amerikanischen Gitarrenundergrounds zu einem seltenen Besuch in Deutschland.

Irgendwo in einem Industriegebiet von Los Angeles, so um 1980 herum. Ein junger Typ mit Quadratschädel, einprägsamer sonorer Stimme und Gitarre lässig im Anschlag schart eine handvoll Musiker um sich, die Instrumente wie Mandoline, Wurlitzer, Akkordeon oder Trompete ins Rennen werfen. Not your everyday L.A. R’n’R Band, obviously. 

Es ist Howe Gelb, der die Band Giant Sand gründet, die heute schon lange als „graue Eminenz des US-amerikanischen Gitarrenundergrounds“ gilt. Es verwundert nicht, dass die laute, stinkende Metropole L.A. bald durch das ruhige, kleine (für US-Verhältnisse) und von klarer Wüstenluft verwöhnte Tucson, Arizona ausgetauscht wurde, der geographischen Entsprechung Gelb’s musikalischem Oevre. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass er und seine Mitstreiter das Genre „Desert Rock“ geprägt haben, einen akustisch raum- und weitegenerierenden Sound, der die Wüstenlandschaften im Süden der USA vertont. Gelbs Projekte und Kollaborationen, allen voran Giant Sand, waren der Nukleus für eine ganzen Reihe von Bands, die von 1980 an „Desert Rock“ entwickelten und weitersponnen, so unter anderem Calexico, die hierzulande womöglich bekannter sind als Giant Sand selbst.

Es klingt an: Ungeachtet ihrer mittlerweile 43 Jahre währenden Spielzeit sind Giant Sand, trotz fraglos musikalischer Qualität, kommerzieller Erfolge und Anerkennung in der Musikerszene nie wirklich über den Status eines sogenannten Alternative oder Underground Acts hinausgekommen. Es mag gut sein, dass dies von Gelb so beabsichtigt ist. Sicherlich aber spielt sein Quadratschädel eine große Rolle, der innere. Was sich da in der Hitze der US-Wüste entwickelte, war nicht nur originell, sondern auch skurril, unkonzentriert, sprunghaft, chaotisch und… manchmal nicht wirklich ansprechend. Tatsächlich verschwendete Gelb im Laufe der Jahre sein Talent mit einer erschreckenden Anzahl mittelmäßiger Aufnahmen. 

Chaotische Zitate von Neil Young und Dream Syndicate, doomige Anklänge von Lou Reed und Johnny Thunders, ein postmodernistisches Puzzle aus Gospel, Soul, Boogie, Blues, Country und Psychedelia prägten insbesondere die frühere Phase der Band bis 1990. Aber auch im späteren Verlauf bis heute, einer Zeit in der sich Gelbs Sound straffer, konzentrierter und erwachsener im Bereich des rauen Country-Rocks eines Neil Young bewegt, bekommt der Hörer immer wieder solche entropischen Versatzstücke um die Ohren gehauen. Diese Mixtur und Unkalkulierbarkeit ist einfach „zu viel“ für den Mainstream und bedarf eines bewussten Zu-Hörens – und so blieb und bleibt Giant Sand ein wenig wie der namensgebende Sand: schwer fassbar, sehr veränderlich und nicht immer willkommen. „Der Preis und der Vorteil des weniger begangenen Weges“, wie Howe Gelb sagt.

Ein wenig begangener Weg für Giant Sand ist auch jener nach Deutschland, wohin sie es in 4 Jahrzehnten geschätzt kaum mehr als 5-6 mal schafften. Irgendwo in einem Industriegebiet von Heidelberg, ziemlich genau am 12. April 2023, steht also nach langer Zeit wieder ein überhaupt nicht junger Typ mit Quadratschädel, einprägsamer sonorer Stimme und Gitarre lässig im Anschlag nebst einer handvoll Musiker und serviert einem ebenfalls senioren Publikum den herbeigesehnten Desert Rock. Der Autor, selbst in seinen frühen Fünfzigern und auf Konzerten normalerweise immer einer derjenigen, die das Durchschnittsalter nach oben ziehen, war sehr verwundert, dass er diesmal trotz seiner grauen Strähnen das Durchschnittsalter tatsächlich nach UNTEN drückte. Sollte Desert Rock womöglich am Aussterben sein und vorzugsweise in Altersheimen gehört werden? Vielleicht im vergreisenden Deutschland, aber ansonsten natürlich nicht, wie die ebenfalls aus Tucson stammende Vorgruppe XIXA zeigte wie auch die ganz allgemein lebendige und diversifizierte Desert Rock-Musikszene in den USA, die vor allem in ihrer härteren Spielart Stoner / Doom Rock eine weltweite und auch sehr junge Gemeinde anzieht.

Stützstrümpfe wurden allen Unkenrufen zum Trotz nicht auf die Bühne geworfen, bemerkenswert und auch sehr angenehm war jedoch, dass über weite Strecken tatsächlich kein einziges Smartphone in die Höhe gereckt wurde für Aufnahmen. Eine wahre Seltenheit auf populärmusikalischen Konzerten heutzutage. Für eine weitere Überraschung sorgte Gelbs Tochter Indiosa Patsy Jean, eigentlich Künstlerin und Tierpräparatorin und darüber hinaus verdammt hübsch, die plötzlich auf der Bühne erschien und äußerst talentiert, ja regelrecht routiniert Gesangparts – auch Solo – übernahm. Wie auch ihrem Vater ist ihr eine sympathische Bescheidenheit und Unaufdringlichkeit zu eigen. Gelb selbst ließ auch etwas von seinem trockenen (Wüste!) flapsigen Humor durchblitzen, als er für eine „Yeah“-Ruferin den gerade angespielten Song unterbrach mit den Worten „hey, this song is new, why are you yelling, you can’t possible know it. Are you from the future?“

Musikalisch servierten Giant Sand, in klassischer Gitarre/Bass/Schlagzeug-Besetzung, und zeitweise verstärkt durch eben Gelbs Tochter sowie die Vorband (eigentlich ja Nachbarn), ein Potpourri aus 4 Jahrzehnten Bandgeschichte, wobei sie sich aber eher des eingängigen Teil ihres Portfolios bedienten. Die quadratschädelige Sperrigkeit und die heimtückischen Ausbrüche in wilde postpunkesque oder schräg-Brecht’sche Burlesquen blitzen nur hie und da durch und wurden immer wieder auf den gut ausgetretenen Wüstenpfad zurückgeführt. Und so war der Konzertabend eine gelungene, unterhaltsame Entführung weg aus der miefigen und verregneten Enge eines durchregulierten schwarz-grünen Baden-Württembergs, hin in eine symbolische akustische Landschaft der Weite, der Freiheit und der wärmenden Sonne. Und wenn man ganz genau hinhörte, konnte man an diesem Abend auch das Zischen des Windes und das Rasseln einer Klapperschlange hören.

Wer sich dem Werk Giant Sands nähern möchte oder als Fan ihre unchaotischen Momente bevorzugt – so wie der Autor –, dem sei exemplarisch die hier verlinkte Spotify-Playlist empfohlen, die sich mit wenigen Ausnahmen über sämtliche Alben erstreckt, ohne deren sperrige Stücke mitzunehmen: https://open.spotify.com/playlist/0C8A1mHWJC628uX46WnYM9?si=d280266d74b44db2.

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