Die Prußen – auf den Spuren eines (fast) vergessenen Volkes

von Leif-Thorsten Kramps

Die Prußen – Auf den Spuren eines (fast) vergessenen Volkes

Im Januar 1701 setzte sich der Hohenzoller Friedrich III., Kurfürst von Brandenburg, im ostpreußischen Königsberg die Krone aufs Haupt und nannte sich fortan „König in Preußen“. Die Selbstkrönung des prunksüchtigen Provinzfürsten markierte den Aufstieg Brandenburg-Preußens zur europäischen Großmacht. Über mehr als 200 Jahre hinweg bestimmte der Hohenzollern-Staat ganz entscheidend die deutsche Geschichte. Preußen eroberte sich die Vorherrschaft im Deutschen Reich und wurde zu dessen Machtzentrum. Der Staat Preußen, nach Meinung der Alliierten „Sinnbild deutscher Machtansprüche und Hort des deutschen Militarismus“, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch Beschluß der Siegermächte aufgelöst.

Preußen hat stets zu sehr gegensätzlichen Beurteilungen provoziert. Noch heute assoziiert man Preußen mit Aufklärung und Absolutismus, mit Militarismus und Minderheitenschutz, mit Disziplin und Untertanengeist. Die Mehrheit der heutigen Deutschen verbindet mit dem Namen Preußen in erster Linie wohl den Alten Fritz und den Polizisten mit Pickelhaube.
Doch Preußens Geschichte beginnt nicht erst im Jahre 1701 mit der oben erwähnten Gründung des preußischen Königreiches. Auch nicht mit der Errichtung des Ordensstaates und ebenso wenig mit dem erstmaligen Übertreten der Weichsel durch den Deutschen Orden im Jahr 1231. Die Geschichte Preußens beginnt wesentlich früher.

Der römische Historiker Tacitus erwähnte bereits in seiner im Jahr 98 unserer Zeitrechnung erschienenen „Germania“ als Bewohner der Ostseeküste östlich der Gegenden der „Gotones“ (Goten) die „Aestorium gentes.“ (die Völker der Aestie) Die „Aestier“ blieben in der spätrömischen Kaiserzeit nicht unbekannt. Der damals weltberühmte griechische Geograph Ptolemäus nannte im 2. Jahrhundert die Stämme der „Galindi“ und „Sudini“, die uns später noch als „Galinder“ und „Sudauer“ begegnen werden.

Im Jahr 550 verfaßte der römische Geschichtsschreiber Jordanes eine Abhandlung, in der er, ebenso wie sein Landsmann Tacitus mehr als 450 Jahre zuvor, das Volk der Aestier erwähnt, das östlich des Weichselmündungsgebietes leben soll.
Auch der Wikinger Wulfstan, der 890 von Haithabu (im heutigen Schleswig-Holstein) bis nach Truso an der Nogatmündung gefahren war, sprach von den Gebieten östlich der Weichsel als „Eastenland“.
Um 965, also nur 75 Jahre später als Wulfstan, berichtete der weitgereiste spanische Jude Ibrahim Ibn Jakub davon, daß die Wikinger häufiger ein Volk überfallen würden, das er als „Brusi“ bezeichnet. Der Wohnsitz dieses Volkes soll nach Ibn Jakub an der Ostsee gelegen haben.


Mit dem Bericht des Ibn Jakub liegt die erste schriftliche Erwähnung jenes Volkes vor, das wir heute als „Altpreußen“ oder „Prußen“ kennen. Da zwischen der fast 800-jährigen literarischen Erwähnung der „Aestier“ und dem Auftreten der „Brusi“ für die Bewohner des gleichen geographischen Gebietes nur eine Spanne von 75 Jahren besteht und bereits im 2. Jahrhundert die Prußenstämme der „Galindi“ (Galinder) und „Sudini“ (Sudauer) urkundlich erwähnt wurden, kann in Folge der durch die moderne Archäologie geführten Nachweise der Siedlungsstetigkeit im frühgeschichtlichen Ostpreußen kein Zweifel daran bestehen, dass „Aestier“ und „Brusi“ ein und das selbe Volk bezeichnen: die Prußen. Durch die Wortähnlichkeit des Namens „Aestier“ mit dem heutigen finno-ugrischem Volk der Esten, sollte man sich nicht verwirren lassen. Vielmehr gebrauchte man in der Zeit von Tacitus bis Wulfstan die Bezeichnungen „Aestier“ oder „Easten“ willkürlich für eine Menschengruppe, die im Osten lebte.
Die Prußen sind das Volk, von dem der spätere Ordensstaat ebenso wie das Königreich Preußen seinen Namen erhielt. Sich selbst nannten die Prußen übrigens „Prusai“ (sprich: Prußai). Die heute noch recht häufig auftauchende mittelalterliche Schreibweise „Pruzzen“ entspricht übrigens genau dem heutigen Sprachbild „Prußen“. Das meiste, was wir heute über die Prußen wissen, stammt von den christlichen Missionaren, die zum größten Teil aus Deutschland kamen. Adam von Bremen (gestorben 1081) beschreibt die Prußen als ein blauäugiges Volk mit rötlichen Gesichtern und langem blonden Haar. Sie waren Bauern, Jäger und Fischer. Darüber hinaus waren sie als Bernsteinhändler bekannt. Die Prußen zählt man gemeinsam mit den Letten, Kuren und Litauern zur baltischen Völkerfamilie. Die prußische Sprache scheint mit dem heutigen Litauisch nächstverwandt zu sein.

Die prußischen Stammesgebiete


Das Prußenland bestand aus elf Stammesverbänden. Die Sassen und Galinder lebten im Süden, Sudauer im Südosten, Pomesanier, Warmier und Pogesanier im Westen, Barten, Natanger und Samländer in der Mitte und im Norden, Nadrauer und Schalauer im Nordosten. Eine gesamtstaaatliche Verbindung zwischen den einzelnen Prußenstämmen bestand nicht und scheint auch niemals angestrebt worden zu sein.


Was alle Prußenstämme jedoch einte, war ihre Religion. Im Mittelpunkt ihrer Religion stand, wie bei allen klassischen Naturreligionen, die Erde. Darüber hinaus war für den Prußen die ganze Natur seiner Heimat, ebenso wie Haus und Hof, von unzähligen Göttern, Göttinnen, bösen und guten Geistern durchwoben.
Das zentrale Heiligtum aller Prußen, Romowe, befand sich vermutlich in Nadrauen. Im Mittelpunkt des Heiligtums stand eine riesige Eiche, dessen Laub so dicht gewesen sein soll, daß weder Regen im Sommer, noch Schnee im Winter durchdrangen. In ihrem Stamm waren die Bilder der drei höchsten Götter eingefügt. In der Mitte befand sich das Bild von Perkunos, dem gewaltigen Herr des Blitzes und Donners, dessen Haupt von Flammenzungen und Blitzstrahlen umzuckt war. Seine Wangen leuchteten feuerrot, ein krauser Vollbart umhüllte das Kinn. Flankiert war das Perkunosbild von einer Darstellung des Potrimpos, dem Gott der Liebe, der Fruchtbarkeit und der Schönheit, einem strahlend schönen Jüngling mit einem Ährenkranz im Haar und vom Totengott Pikollos (auch Patullos), der als ein finsterer Greis mit kahlem Kopf, langem eisgrauen Bart und totenblassem Antlitz dargestellt wurde. Vor den Götterbildern brannte ein heiliges Feuer, das niemals, auch nicht in eisiger, schneesturmdurchbrauster Winternacht, verlöschen durfte.

Die drei prußischen Hauptgötter Pikollos, Perkunos und Potrimpos


Diese drei prußischen Götter entsprechen übrigens sowohl in ihren Eigenschaft als auch in der Art der Darstellung den Germanengöttern Thor, Freyr und Odin, deren Bildnisse im Tempel zu Uppsala in Schweden aufbewahrt wurden. Ebenso verkörperten Perkunos, Potrimpos und Pikollos als auch Thor, Freyr und Odin die Schutzgottheiten von Wehrstand (Krieger), Nährstand (Bauern) und Lehrstand (Priester).


Höchster Herr von Romowe war – nach den Göttern – der oberste Priester, der Kriwe. Dieser wurde von der gesamten Priesterschaft, den Waidelutten, gewählt. Waidelutten waren sowohl Männer wie Frauen. Einige von ihnen, die Kriwaiten deren Zahl nie größer als zwölf war, wohnten beim Kriwe im Heiligtum, die übrigen Priesterinnen und Priester lebten unter dem Volk. Ebenso wie der Kriwe blieben die Kriwaiten ehelos. In „Kriwaite“ und „Waidelutte“ verbirgt sich das prußische „Waidia“, das soviel wie „Erkenntnis“ oder „Wissen“ bedeutet.

Im Lindenbaum Verlag ist das Werk „Prußen – die ersten Preußen.
Geschichte und Kultur eines untergegangenen Volkes“
von Beate Szillis-Kappelhoff erschienen und kann hier direkt beim Verlag bestellt werden.


Der Kriwe wurde auf Lebenszeit gewählt, konnte aber wegen hohen Alters zurücktreten oder sich zur Versöhnung der Götter auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen. Er ließ sich nie in der Öffentlichkeit sehen. Wenn er dem Volk etwas mitzuteilen hatte, gab er es den Kriwaiten zu verstehen, die es dann dem Volk weitergaben.

Die Prußen widerstanden hartnäckig den Missionierungsversuchen und blieben ihrem angestammten Götterglauben treu. Die Bekehrungsapostel Adalbert von Prag und Bruno von Querfurt wurden in den Jahren 997 und 1009 von den Prußen erschlagen, nachdem die Kirchenmänner sich weigerten, ihre Missionierungstätigkeit im Prußenland einzustellen.

Prußen töten Adalbert von Prag, Darstellung auf der Gnesener Bronzetür aus dem 12. Jahrhundert


Im Jahr 1231 begann ein vom Herzog Konrad von Masowien inszenierter Missionierungsfeldzug gegen die heidnischen Prußen, an dem der Deutsche Ritterorden maßgeblich beteiligt war. Die Kämpfe endeten erst um das Jahr 1283 mit einer Niederlage der Prußen. Von nun an mußten die Prußen ein ähnliches Schicksal erleiden, wie später die sogenannten Indianer oder in heutiger Zeit die Tibeter. Eine fremde Kultur, Religion und Sprache wurde ihnen von fremden Herren aufgezwungen, die Pflege der eigenen Kultur und Sprache sowie die Ausübung der eigenen Religion wurde unter Todesstrafe gestellt. Doch noch schlimmer: Sie wurden darüber hinaus Opfer einer groß angelegten Umvolkungsaktion. Eine massive Zuwanderung von deutschen Siedlern setzte nun ein. Die Prußen wurden zur Minderheit im eigenen Land und allmählich zwangsassimiliert. Obwohl die Prußen nun von der deutschen Oberschicht gezwungen wurden, deutsch zu sprechen und den christlichen Glauben anzunehmen, hielt sich deren Sprache und Glauben hartnäckig. Bis über das 16. Jahrhundert hinaus wurden vereinzelt Prußen bei der Ausübung heidnischer Kulthandlungen ertappt. Die prußische Sprache erlosch erst um das Jahr 1700. Heute erinnern uns noch prußische Familiennamen (z.B. Albuschat, Mahraun, Manthei, Perbandt, Pillokat, Willuhn etc.), die bei Menschen, deren Vorfahren in Ostpreußen beheimatet waren, nach wie vor recht häufig vorkommen, an dieses tapfere Heidenvolk.

Rautenkranztanz der Prußen, nur von Frauen getanzt
Prußischer Männertanz (Huttanz)


In heutiger Zeit weiß leider kaum noch jemand etwas von dem Volk der Prußen. Um diesen Mißstand zu beseitigen, wurde im Jahr 1980 von Rutele Kauffmann-Tolkmitt die Vereinigung der Prußen und Prußenfreunde „Tolkemita e.V.“ (heute: Prußen-Stiftung Tolkemita) ins Leben gerufen. Vorrangige Ziele der Tolkemita sind u.a.:
– Die Erhaltung und Weitergabe der Erinnerung an das Volk der Prußen.
– Die Pflege und Vermittlung der kulturellen Hinterlassenschaft des Prußenvolkes.
– Die Erhaltung der Reste der prußischen Sprache sowie deren Erforschung und Weiterentwicklung. Darüber hinaus bemüht sich Tolkemita seit 1995 um den Status „Nationale Minderheit“ für die heute lebenden Prußen in Deutschland. Nach Einschätzung der Tolkemita ist circa jeder zweite vertriebene Ostpreuße prußischer Abstammung. Die meisten dieser Ostpreußen wissen jedoch nichts davon oder verschließen sich der Annahme ihrer prußischen Identität, da sie keineswegs als „Nichtdeutsche“ gelten wollen. In der Prußen-Vereinigung Tolkemita ist jeder willkommen, der sich als Pruße oder als Freund der Prußen bekennt.

Kontakt: Prußen-Stiftung Tolkemita, Am Neuen Markt 9d, 14467 Potsdam
c/o Reinhard Grunenberg, Sybelstraße 44, 10629 Berlin-Charlottenburg, Fernruf: 0 30/3 10 65 99, E-Post: grunenberg_prusa@yahoo.de

Verwendete Literatur:
Gimbutas, Marija: Die Balten. Geschichte eines Volkes im Osts-seraum. München 1983
Walter Görlitz: Die Prußen. Die alten Bewohner Ostpreußens. Geschichte, Kultur und Verschmelzung mit den Deutschen. Bonn 1980
Lothar Kilian: Zur Herkunft und Sprache der Prußen. Bonn: 1980
Steegen, Carl-Friedrich von: Unter dem Donnergott Perkunos. Streifzüge durch Ostpreußens Vorgeschichte. München 1986
Jonas Trinkunas: Rasa. Götter und Rituale des baltischen Heidentums. Engerda 2002





Hinterlasse einen Kommentar