Der Volksbegriff im Wandel der abendländischen Tradition

von Prof. Dr. Felix Dirsch

Der Volksbegriff im Wandel der abendländischen Tradition

I. Der Umbruch des Volksbegriffes in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Wenn man die Entitäten Volk und Konservatismus in Zusammenhang bringt, so muss man sich darüber klar sein, dass beide Begriffe sehr unterschiedlich verwendet werden. Bleiben wir vorerst bei dem, was man mit Volk umschreibt: Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts überwiegt die ältere Vorstellung, nach der man unter Volk „gemeiniglich […] Pöbel und Canaille“ („arme liute“) verstehen kann, als primäre Unterschichten. Aus früheren Jahrhunderten ist aber gleichfalls ein anderer Begriff überliefert: derjenige, der auf ethnische, kulturelle und politische Gemeinschaft abzielt. Der Gebrauch dieser Begriffe ist selbstredend lange Zeit verschieden. Man durfte annehmen, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hatte.

Der „Pöbel“ ist auch ein nicht unwichtiges Thema in Hegels „Rechtsphilosophie“. Bereits Kant hatte schon gesprochen von „der wilden Menge eines Volkes, die sich von Gesetzen ausnimmt“. Hegel umschreibt jene Schicht, für die die „niedrigste Weise der Subsistenz“ charakteristisch ist. Gleichzeitig ist für Hegel aber schon evident, dass „Armuth an sich Keinen zum Pöbel“ macht. Im Begriff schwingt eine politische Wertung mit. Es sei vielmehr eine „mit der Armuth sich verknüpfende Gesinnung, […] die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.“ Hegel sieht hier ein wichtiges Problem moderner Staatlichkeit. Wie kann Subversion verhindert werden? Wenn sich Armut im Pöbel mit revolutionärer Gesinnung verbindet, ist die Frage, wie hier vorzugehen ist.

Johann Gottfried Herder (1744-1803)

Erste Vorläufer, diese negative Konnotation zu überwinden, tauchen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf. Besonders nachhaltig wirkte Johann G. Herder, dem es gelang, die jahrhundertealte Vorherrschaft der (rationalistisch imprägnierten) Hochkultur zu brechen, die in der frühen Neuzeit besonders von Frankreich ausgegangen war. Herder unterstreicht die Ortsgebundenheit der Kulturen. Lebensregeln, Gewohnheiten und Denkweisen werden nachhaltig von der Herkunft bestimmt. Werte sind aus dieser Perspektive nicht universell gültig. Den Rationalismus verwies er in seine Schranken. Herder gilt als Paläoromantiker, der dem „Willen zum Eigenen“ einen wichtigen Stellenwert zugeschrieben hat. Begrüßenswert ist es, dass er sich trotz des Bewusstseins der geistigen Überlegenheit der Franzosen nicht verleiten ließ, die kulturellen Ideale des geistigen Nachbarn einfach zu übernehmen; vielmehr unternahm er vielfältige Tiefenbohrungen in der Geschichte der eigenen Kultur, insbesondere das Liedgut betreffend.

Obwohl Herder die ethnisch-nationalen Eigenarten mit dem Humanitätsideal versöhnen wollte, stößt er dabei auf scharfe Kritik. Martin Greiffenhagen spricht davon, dass der Weg zur deutschen Kulturnation von Herder „mit seiner folgenschweren Gleichsetzung des Humanitätsideals mit dem Ideal angeblich deutscher Grundeigenschaften beschritten wurde.

Es wäre aber gänzlich falsch anzunehmen, dass der Begriff des „Volkes“ in der alten ständisch geprägten Adelsgesellschaft keine Rolle gespielt hätte. Hier gibt es Verteidiger der societas civilis, die auf die Relevanz des Volkes verweisen. Bereits in vielen ständischen Traktaten im 18. Jahrhundert spielt Volk eine Rolle als Größe, die in den Generationen fortlebt und eine Einheit im Herkommen darstellt. Es wäre falsch, das 17. und frühe 18. Jahrhundert als unpolitisch anzusehen, gibt es doch laufend Konflikte zwischen Adel und Monarchen. Letzterer ist in Frankreich bekanntlich zum absoluten Herrscher mutiert. In diesem Kontext existieren katholische Adelige, die gegen die Möglichkeit eines protestantischen Monarchen die Ansicht ins Feld führen, dass der Herrscher dem populus unterworfen sei. Mit solchen Konflikten ging immer auch ein interpretatorischer Dissens einher. „Volk“ im Sinne der societas civilis ist ein ständisch gegliedertes. Abgelehnt werden überwiegend Vorstellungen gemäß der modernen Volkssouveränität, weiter ein atomistischer Volksbegriff, wie er sich in der Vorstellung einiger Aufklärer niederschlägt. Volk im Sinne der Ständegesellschaft meint alle, die Rechte und Privilegien besitzen. Diese Argumente werden vor allem bald nach der Revolution von Burke und der Historischen Rechtsschule aufgegriffen. Besonders die umfangreiche Monografie von Panajotis Kondylis hat vor über drei Jahrzehnten den Zusammenhang von Konservatismus und Adelsgesellschaft in sehr pointierter Weise exponiert. Man muss hinzufügen, dass der Volksbegriff in der langen Entwicklung der frühneuzeitlichen societas civilis kein einheitlich-unwandelbarer war.

In vielen katholischen Erörterungen gewinnt in der frühen Neuzeit das Volk zentrale Bedeutung. Gerade katholische Theoretiker (de Soto, Suarez, Mariana und so fort) verweisen auf Thomas von Aquin, der wiederum auf Aristoteles zurückgreift und auch eine gute Herrschaft der Vielen kennt. Der heftige Widerstand der meisten konservativen Theoretiker nach 1789 gründet weniger auf der Ablehnung des Volkes als der Volkssouveränität.

II. Die Genese des Konservatismus um 1800 und das Volk

Auch für den Konservatismus ist zu bemerken, dass er in unterschiedlichen Varianten existierte. Man kann grob gesprochen drei Spielarten differenzieren: Die eine möchte alte Zustände wiederherstellen: Es handelt sich also um restaurative Kräfte. Ein Beispiel stellt der Traditionalismus in Frankreich dar. Als herausragende Vertreter sind de Maistre, de Bonald und der frühe Lamennais anzuführen, die der Meinung sind, es könne und müsse ein Zurück hinter 1789 geben. Ein Sonderfall ist der patrimoniale Konservatismus, der mit dem Schweizer Gelehrten Haller eine herausragende Figur findet. Eine andere Richtung möchte den status quo bewahren und stimmt deshalb (zur Bewahrung bewährter Grundsätze und Regierungspraktiken) partiellen Reformen zu. Als Beispiel sind Verwaltungspraktiker und Juristen wie Ernst Brandes und August Wilhelm Rehberg zu nennen. Auch der Burke-Übersetzer Friedrich von Gentz ist zu dieser Gruppe zu rechnen. In England findet diese Strömung viele Anhänger, herausragend ist Edmund Burke, der auch im Alten Reich rezipiert wird. Alle diese Strömungen, die sich gegen „1789“ konstituiert haben, müssen gegen die Kategorie des Volkes fast natürliche Affekte hegen, scheint diese doch das alte ständische Schema weithin zu sprengen, da Unterschichten die legitime Ordnung mehr und mehr zu bedrohen schienen. Noch handelte es sich um 1800 um eher unkonkrete Zukunftsängste. Gerade der Verlauf des 19. Jahrhunderts, an dessen Ende die sichtbaren Tendenzen der Vermassung stehen, und der Industrialisierung verrät die Richtigkeit solcher Befürchtungen. Bereits um 1800 bildeten sich Volksheere und fanden Appelle an das Volk statt.

„Die Freiheit führt das Volk“. Gemälde von Eugène Delacroix (1830)

Jedoch gibt es eine weitere konservative Richtung, die katholisch geprägt ist. Sie bildete sich bezüglich ihrer geistigen Wurzeln vor dem Hintergrund der romantischen Weltsicht, in politisch-sozialer Hinsicht aber in der Abwehr des preußisch-protestantischen Obrigkeitsstaates. Zwei wichtige Vertreter sind Adam Müller und Friedrich Schlegel. Wenngleich der Volksgedanke in der Romantik eine Bedeutungszunahme erfahren hat, kann das nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch romantische Autoren wie Schlegel gegenüber der Masse der Unterschichten unentschieden waren. Wenn sich Bauern, Weber und andere einfache Leute an den Aufständen gegen Napoleon beteiligten, gründeten diese Aktivitäten nicht selten mehr in persönlicher Not als in anhebenden patriotischen Gefühlen.

Johann Joseph Görres (1776-1848), Lithographie von August Strixner, nach einem Gemälde
von Peter Cornelius

Zu den wichtigen romantischen Autoren gesellte sich der zuerst revolutionsfreundliche, später katholisch-konservative Gelehrte Joseph Görres. Diese Richtung unterscheidet sich vom regierungsaffinen Konservatismus dadurch, dass sie nicht unbedingt absolutistischer Neigungen verdächtig ist. Das hängt auch damit zusammen, dass der in den 1830er Jahren anhebende Katholizismus früh die Nachteile des Obrigkeitsstaates erdulden musste. Diese sind prägend für den katholischen Bevölkerungsteil vom Kölner Kirchenstreit bis zum Kulturkampf und darüber hinaus. Das wiederum zeitigt die Konsequenz, dass es von Anfang an eine starke rechtsstaatliche Dimension innerhalb des Katholizismus gibt. Dass der katholische Konservatismus auch gegenüber dem Volk eine andere Einstellung besitzt als Teile des protestantischen, hängt mit der damals noch relativen Geschlossenheit der katholischen Bevölkerung, insbesondere auf dem Land, zusammen. Man konnte damals noch Massen mobilisieren. Dies zeigte auch die Wallfahrt zum Trierer Rock 1844, die sogar dazu führte, dass sich eine kleinere „aufgeklärte“ Gruppe innerhalb des katholischen Milieus von diesem abspaltete. Bereits im Vorfeld der Paulskirchenversammlung 1848/49 machte sich der katholische Bevölkerungsanteil durch Petitionen bemerkbar und verwies auf seine Anliegen. Überhaupt kann man sagen, dass der sich etwa Mitte des 19. Jahrhunderts herauskristallisierende Ultramontanismus deutlich einherging mit dem demokratischen Element. Buchheim hat schon vor über einem halben Jahrhundert diesem Zusammenhang eine bis heute wichtige Monografie gewidmet. Der Papst wurde mehr und mehr zu einer Appellationsinstanz gerade der einfachen Katholiken.

Im Einzelnen müsste man die Relevanz des Volkes in der katholischen Publizistik natürlich nuancieren. Carl E. Jarcke (1801-1852), ein katholischer Autor, sah das Volk zwar als Einheit von Sprache, Sitte, Tradition, Lebensart und so fort, leugnete aber seinen Charakter als „juristische Person“; erst recht betrachtete er das volontaristische Element kritisch. Das Volk besitzt demnach keinen einheitlichen Willen. Man sah also auch von dieser Seite die Gefahr der Sprengung des staatlichen Zusammenhalts durch unterschiedliche Willensakte von Nationen und Völkern innerhalb eines Staates.

Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden Einwände auf konservativer Seite gegen den modernen Begriff von Volk und Nation deutlich. Diese Ambivalenzen lösen sich bei vielen erst nach 1871, während eine Minderheit weiter dagegen opponiert.

III. Der Umbruch hin zum Volk: Konservative im Kaiserreich

Das Verhältnis Konservativer zur Volkskategorie ist nicht ohne den Blick auf die Transformationen dieser Strömung zu bestimmen. Die massiven sozialen wie politischen Umbrüche, im Zuge der Reichsgründung wie auch der fortschreitenden Industrialisierung, haben auch das Verhältnis des Konservatismus zu Volk und Nation gewandelt. Schon in den 1870er Jahren bildete sich eine konservative Gruppierung, die (unter dem Druck der „Kraft des Faktischen“) die Verhältnisse anerkannte und damit die Bismarcksche Realpolitik goutierte. Einige Vorbehalte gaben jedoch auch überzeugte konservative Bismarckianer nicht auf, wenigstens nominell. Dazu zählte auch eine föderalistische Grundausrichtung, mit besonderem Blick auf Preußen, das schon wegen seines Dreiklassenwahlrechts Hochschätzung erfährt.

Wichtig ist es, auf den Strukturwandel des Konservatismus ein wenig einzugehen: Die Reste des Alt- und Hochkonservatismus geraten mit der Mehrheitspartei spätestens in den 1850er und 1860er in Konflikt. In dem Maße, in dem sich die Bismarckschen Realpolitik durchsetzt, wenden sich die christlichen Konservativen, repräsentiert durch die Gebrüder Gerlach, von dem von ihnen einst Protegierten ab. „Christus ist auch für die Staaten gestorben“, dieser Satz Adam Müllers wird in diesen Kreisen häufig zitiert. Überzeugte Konservative wie der Graf zur Lippe sehen den nationalen Gedanken als Ausdruck haltloser „Schwärmerei“, der noch nie etwas gebracht habe. Die Hochkonservativen wenden sich auch gegen den Kulturkampf der 1870er Jahre. Dennoch geraten sie spätestens zur Zeit der Reichsgründung in die Isolation.

Friedrich Julius Stahl (1802-1861), Stich von Gottlieb Sichling, 1840

Dass der Volksbegriff um 1850 auch von konservativer Seite als zentral empfunden wird, zeigt ein Blick auf einen der bedeutendsten konservativen Denker dieser Zeit, den Rechtsgelehrten Friedrich Julius Stahl. Er ging besonders dadurch in die Rechtsgeschichte ein, dass er überlieferte Grundprinzipien konservativen Denkens (wie das monarchische Prinzip) mit neuen parlamentarischen Erfordernissen verbunden hat. Berühmt ist die so genannte „Lückentheorie“, die auf ihn zurückgeht. Man könnte ihn als einen authentischen Konservativen bezeichnen, da er insbesondere die christlichen Traditionen in seine Theorien mit einbezogen hat. Er öffnete sich aber stärker als andere Konservative dem Zeitgeist. Deutlich wird das auch in seiner Auseinandersetzung mit dem Volksbegriff. Stahl unterscheidet zwischen einem natürlichen, historischen und rechtlichen Volksbegriff. „Volk“ stellt für ihn eine Einheit der Sitte, der Sprache und des Geistes dar. Er hebt hervor, dass die Wurzeln des Volksbegriffes vorpolitischer Natur seien; daher könne der Fürst nicht der Schöpfer sein. Völker und Staaten seien vielmehr interdependent und aufeinander bezogen. Da das Volk einer Organisation bedürfe (je moderner die Verhältnisse seien, desto mehr), sei eine rechtliche Ausgestaltung unvermeidlich. Darunter zu verstehen ist, dass das Volk einer Staatsgewalt Untertan sein müsse. Hervorzuheben ist, dass die Staatsgewalt Völker in ihrer Eigenständigkeit zu respektieren habe. Dieser Hinweis ist in einer Zeit des wachsenden Aufbegehrens von Völkern gegen die Zentralgewalt nicht ganz unwichtig. Bei Stahl ist die Dichotomie zwischen dem „gemachten“ Volk und dem naturwüchsigen nicht zu übersehen. Es wäre naheliegend, ist aber aus räumlichen Gründen nicht möglich, einen Volkskundler anzuführen. Wilhelm H. Riehl, einer der Väter des Faches, hat sich ebenfalls zu den Voraussetzungen und Möglichkeiten eines modernen Volksbegriffes geäußert.

Proklamation des preußischen Königs Wilhelm I. am 18. Januar 1871 zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal von Versailles. (Anton von Werner)

Im Laufe des Bismarckreiches kommt es zu deutlichen politischen Akzentverschiebungen. Damit einher gehen neue Sichtweisen über das „Volk“. Als Stichworte sind zu nennen: verstärkte Tendenzen von Nationalismus, Imperialismus, vereinzelt völkisches Denken, mitunter Strömungen von Antisemitismus. Dazu kommt noch der Einfluss von Lobbygruppen, wie der der Großagrarier, die die Politik des Kaiserreiches stark bestimmen – gerade durch ihren Einsatz für Protektionismus und Schutzzölle. Bei einigen Autoren, etwa Langbehn und Lagarde, kommt es auch zu einer Umformulierung der christlichen Botschaft. Glaube und Nation sollten so in Einklang gebracht werden. Gegen Ende des Jahrhunderts strömte vermehrt nietzscheanisches Gedankengut ein. Besonders war dies im frühen 20. Jahrhundert, bald nach dem Tod des Meisters, zu bemerken. Nicht zuletzt Intellektuelle vom Schlag Langbehns, der bekannt wurde mit seiner Schrift „Der Rembrandtdeutsche“, und Lagardes personifizierten die Neuakzentuierung des geistigen Fundaments des Konservatismus. Man kam in der späteren Zeit des Kaiserreichs von 1871 nicht mehr ausschließlich mit einer Identifikation mit den herkömmlichen Grundlagen des Christentums aus, da die Säkularisierung insbesondere des städtischen Lebens und besonders in protestantischen Regionen stetig fortgeschritten ist. Ein wesentlicher Hintergrund ist der Verlauf von Industrialisierung und Technik, der das Bedürfnis nach Transzendenz mancherorts zurückgehen ließ.

Paul Anton de Lagarde (1827-1891)

Verbleiben wir bei Lagarde und Langbehn, die schon im Kaiserreich einen Konservatismus neuen Typus verkörpern. Beide wollen Religion, Politik und Erziehung neu ordnen. Beide wissen, dass das Verständnis von Volk infolge der Reichseinigung nicht mehr so wie früher sein konnte. De Lagarde zitiert das berühmte Wort von Ernst M. Arndt nur noch ironisch: „soweit die deutsche Zunge klingt und Gott im Himmel Lieder singt“. Der zweite Teil passe nicht mehr auf die heutigen Zustände, so der zu seiner Zeit namhafte Göttinger Orientalist. Auch die Sprache als Kriterium für Volkszugehörigkeit wird hinterfragt, könne man doch den deutschsprachigen Teil der Schweiz nicht einfachhin zum deutschen Volk zählen.

Lagarde will wissen, was das Volk zum Volk macht. Ursprünglich sind es Kriegerbündnisse von Genossenschaften der Franken, Sachsen und Alemannen. Einen Spaltpilz bringt bereits früh das Christentum, es nehme die Eigenarten der Stämme nicht ernst. Die Schrift über die Lage des vor wenigen Jahren gegründeten Reiches blickt natürlich auch auf die Lage der eigenen Nation, und hier zeigt sich wiederum – wie oft in der Geschichte – der religiöse Einfluss als bedeutsam. Religion als Quelle der Zwietracht. Jedes Bekenntnis predige den Glauben verschieden. Das Christentum wird im Grunde genommen als außerdeutsche Macht gesehen, als eine Art „exzentrische Identität“ (Rémi Brague). In der Gegenwart trifft diese Situierung besonders auf den Katholizismus zu. Der Kulturkampf erreicht zur Zeit der Abfassung der Betrachtungen seinen Höhepunkt. Der Autor nimmt den Begriff, der damals in Umlauf kommt, zum Anlass, über die vielfältige Art und Weise von Kultur nachzudenken.

Ein Teil von Lagardes Erörterungen drehen sich um die Schwierigkeiten der Integration des Christentums in die Nation. Was hat denn die Forderung nach Nächstenliebe mit dem deutschen Volk zu tun? Lagarde verweist auf den Glauben an sittliche Menschenliebe und Humanität, er spielt auf die Gemeinsamkeiten von echten Christen und Sozialisten an, die beide die gleichen Wurzeln erkennen lassen. Er will die zumeist von Konservativen vertretene Ansicht, dem deutschen Volke reiche ein christliches Fundament vollkommen aus, um zu seiner Bestimmung zu gelangen, als Farce erscheinen lassen.

Lagarde als Vertreter eines neuen Konservatismus, der sich gegen Liberalismus, Fortschrittsglaube wie auch überliefertes Christentum wendet, findet eine vielfältige populärwissenschaftliche Rezeption. Zu dieser zählen auch die Schriften von Arthur Bonus, der einen „Deutschen Glauben“ und eine „Germanisierung des Christentums“ einfordert.

Über eine Generation jünger als Lagarde versucht der Verleger Eugen Diederichs die vielen Strömungen und Verästelungen der säkular-völkischen Varianten von Religion zu bündeln.

Der Schriftsteller Julius Langbehn tritt in die Fußstapfen Lagardes. Auch er schwimmt auf der kulturkritischen, kulturpessimistischen Welle der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und überzieht die Moderne mit dezidierter Kritik, genauer gesagt: das, was er als modern empfindet: Materialismus, Liberalismus, Kunst der Gegenwart, Individualismus, Verstädterung und vieles mehr. Aus dieser Diagnose ergeben sich Vorstellungen, die Rezepte zur Heilung der Übel versprechen. So soll Kunst wieder an Natur, Heimat und einfaches Volk gebunden werden. Der modernen Verweichlichung muss widersprochen werden. „Rembrandt“ wird als Maler der Tiefe gegen sämtliche Oberflächlichkeiten der Moderne ins Feld geführt. Man kann zweierlei Grundlinien der Bestimmung des Volkes bei Langbehn erkennen: eine stärkere rassische Ausprägung, aber auch dezidierte politische Deutungen: Politisch-organische Sichtweisen werden durch unorganische kontrastiert. Manches, aber nicht alles ist völkisch. Auch Nietzsches Einflüsse schimmern immer wieder durch, ebenso die des Vitalismus.

Zur Bedeutung des Volkes in diesen Kreisen stellt der Historiker Thomas Nipperdey fest: „,Volk‘, das eigene Volk, das ist all diesen Leuten die unbedingte Realität und Forderung, der absolute Wert gegen Identitätsverluste, es ist das Ganze, das bindet, Ehrfurcht fordert, uns mit dem Schicksal, mit Gott in Verbindung setzt. Und es ist das von der höheren, der germanischen Rasse bestimmte eigene Volk. Das sind die Anfänge einer neuen, nun eindeutig außerkirchlichen völkischen Religion, eine Art natürliche Religion, die zunächst freilich noch durch Uminterpretation mit dem Christentum verbunden schien. Aber im Kreis der vielen anderen war das vor 1914 nur ein Flügel, deutlich noch Minderheit“ (Nipperdey, S. 524).

Die Völkischen im Kaiserreich gehen davon aus, dass es ohne neue religiöse Mythologien nicht zu einer hohen Hochzeit des deutschen Volkes kommt. So begründen sie eine Sichtweise, die bis in die Weimarer Republik hinein eine starke Anhängerschaft innerhalb des Konservatismus besitzt. Sie vermuten wohl nicht zu Unrecht, dass eine Weltanschauung nicht gemacht werden kann, sondern wachsen muss; daher sehen sie das Völkische untrennbar mit der überlieferten Religion verbunden. Dazu sind zwei Autoren anzuführen, die die Traditionen von de Lagarde und Langbehn weiterführen, Edgar J. Jung und Wilhelm Schäfer. „Wenn die abendländische Menschheit wirklich an der Wende einer neuen Zeit steht, wenn neue Wertmaßstäbe und neues Lebensgefühl im Wachsen sind, so wird wahrhafte Neugestaltung des Gemeinschaftslebens nur auf einer religiösen Grundlage möglich sein, die heute ehrfürchtig erahnt, aber nicht im einzelnen bestimmt werden kann … Die Zukunft der Deutschen hängt von der Inbrunst ab, mit welcher sie religiös-geistiges Leben in den Mittelpunkt ihres Seins stellen“ (1930). Der populäre völkische Schriftsteller Wilhelm Schäfer spricht von der „Gestaltwerdung Gottes in einem Volk“, so in seiner Schrift „Der deutsche Gott“.
Doch es existieren nicht nur theologische Ansätze als Katalysator der Volkswerdung. Weiter gab es philosophische und historische Schrittmacher. Die Leipziger Schule wirkt auf diesem Gebiet, näherhin Hans Freyer und Arnold Gehlen. Zu verweisen ist auf Gehlens Schrift „Der Staat und die Philosophie“.

IV. Volk und Konservatismus in der Weimarer Republik

Damit sind wir bereits beim Phänomen der Konservativen Revolution. Jeder weiß, wie vielfältig das innerhalb des Konservatismus nach 1918 faszinierende ideengeschichtliche Konglomerat der Konservativen Revolution für viele Zeitgenossen war. Die Rechts-Links-Unterscheidung, die auch in unseren Tagen immer wieder für tot erklärt wird, war faktisch aufgehoben. Immer noch bietet sich an, im Anschluss an Armin Mohler von der deutschen „Weltalternative“ zu sprechen. Der deutsche Weg konnte aus der Sicht dieser Autoren nur ein genuiner sein, der sich weder an das noch junge bolschewistische Modell noch an das westliche anpassen soll.

Zum breiten Spektrum der Konservativen Revolution zählten die Völkischen als eine relevante Gruppe. Besonders während des Ersten Weltkriegs und kurz danach verzeichneten sie einen Aufschwung, der jedoch bald endete. In den 1920er Jahren verloren die Völkischen weithin an Einfluss. Manche krude Vorstellung, aber auch die Zerstrittenheit der Protagonisten trug dazu nicht wenig bei. Trotz aller Verschiedenheit der Vertreter und der sie stützenden Gruppierungen waren die Gegner doch die gleichen: Katholizismus, Freimaurerei, Judentum und Liberale jedweder Couleur. Repräsentanten dieser Strömung sind heute kaum mehr bekannt: Manche, wie Artur Dinter, fungierten im Umfeld des Nationalsozialismus, der jedoch nicht wenige als Häretiker aus der unfehlbaren politischen Kirche ausschloss. An andere erfolgreiche politische Kräfte war kein Anschluss möglich. Das verringerte ebenfalls die Wirkmöglichkeiten. Die meisten dieser völkischen Sekten übten sich darin, ein „Urevangelium“ zu finden, das das Christentum in besonderer Weise mit dem deutschen Volk verbindet. Sie lassen Traditionslinien zu den „Deutschen Christen“ erkennen, während überlieferungstreue Christen beider Konfessionen hier besondere Stoppschilder aufstellten: Man denke an die Barmer Theologische Erklärung von 1934. Die Völkischen stimmten darin überein, dass das „germanisierte Christentum“ ihrer Vorstellungswelt kaum noch etwas mit dem überlieferten Glauben zu tun haben würde.

Einer der führenden (und noch relativ seriösen) Köpfe und intelligentesten Vertreter dieser Richtung war Max Hildebert Boehm, der sich selbst wohl eher zu den Jungkonservativen gezählt hätte. Er schwankte zwischen Wissenschaft und Publizistik. Als eines seiner Hauptarbeitsgebiete pflegte er die Ethnopublizistik und Reflexionen über Ethnopolitik. Als zahllos dürfen seine Aktivitäten eingestuft werden, unter anderem in den 1920er Jahren im „nationalen Juni-Club“ und im „Politischen Kolleg“. Ein Teil der Völkischen beabsichtigte eine Modernisierung des Christentums im Sinne einer Germanisierung.

Max Hildebert Boehm (1891-1968)

Boehm interessierte sich sehr für den Zusammenhang von Volk und Sprache, wobei er dem Erstgenannten primäre Aufmerksamkeit widmete. Es gab um 1930 eine Diskussion über den Zusammenhang von Sprache und Volk. Georg Schmidt-Rohr bildete den Gegenpol zu Boehm im Kontext dieser Kontroverse („Die Sprache als Bildnerin der Völker“). Boehm verfasste eine Reihe vielbeachteter Bücher, etwa „Europa irredenta. Eine Einführung in das Nationalitätenproblem der Gegenwart“.

Die Schrift „Das eigenständige Volk in der Krise der Gegenwart“ gehört zu jenen vielen Texten, die heute gern als faschistisch abgetan werden, seinerzeit aber durchaus nicht als „Fleisch vom nationalsozialistischen Fleisch“ gesehen wurden. Auch in dieser Studie wird das ambivalente Verhältnis von konservativen Rechten und der ethnisch-nationalen Tradition reflektiert. Boehm sieht das nationale Denken gedämpft durch regionale Traditionen, aber auch durch die Anhänglichkeit an die Monarchie, die nicht selten als Vielvölkerstaat realisiert wird.

In dieser Publikation geht Boehm auch auf das Verhältnis von Volk und Nationalsozialismus ein. Die vermeintliche Nähe von Nationalsozialismus und Volksgedanken belastet bekanntlich eine einigermaßen vorurteilsfreie Sicht des Volksbegriffes bis heute. Boehm sieht diese Relation durchaus differenzierter. So betrachtet er die Vermengung von Volk und Rasse als einen der vielen problematischen Punkte im Nationalsozialismus. Der Zusammenhalt auf der Basis von Kultur, Sprache und Sitte wurde unzulässigerweise (aus Boehms Sicht) überlagert von biologischen Gesichtspunkten, die per se noch keinesfalls Gemeinschaft zu stiften in der Lage waren und sein konnten. Die „Volksordnung“ wurde durch darwinistische Elemente wie auch durch Bestandteile aggressiv nordisch-rassischer Mythologien ge-, ja sogar zerstört.

Die Parole vom eigenständigen Volk wurde von den Nationalsozialisten nicht besonders herausgestellt, vielmehr verfremdet. Dem alten Ziel der volksdeutschen Bewegung, allen Volksdeutschen eine Heimstatt in Deutschland zu geben, sieht Boehm durch den Nationalsozialismus und dessen völkerrechtswidrige Politik stark desavouiert. Die einzelnen deutschen Volksgruppen in den unterschiedlichen Ländern nahm die dortige Mehrheitsbevölkerung als fünfte Kolonne der Nationalsozialisten wahr. Unverzeihlich ist die Ausgrenzung von Deutschen, nämlich der Juden, aus der deutschen Volksgemeinschaft aus rassebiologischen Gründen, die mit dem Prinzip des „volklichen“ Zusammengehörens gar nichts zu tun haben.

Boehm als konservativem Volkstumstheoretiker liegt sehr viel an der Achtung der Integrität anderer Völker. Jedenfalls 1933 sieht er (wenigstens für kurze Zeit) ein gewisses Potenzial auch der Herrschenden für sein Ziel: Hitler gab in einer Reichstagsdebatte zu erkennen, dass er darauf abzielt, auch die Rechte der anderen Nationen zu achten. Wären solche Ziele tatsächlich auch in der politischen Praxis verfolgt worden, so hätte es in diesem Punkt eine Brücke zwischen nationalsozialistischer und konservativer Volkstumsauffassung gegeben. Die Realität aber sah, wie allseits bekannt, anders aus. Die ursprünglich so betonte Toleranz zwischen den Völkern, die vor Assimilierung in Schutz genommen werden sollten, kam in der praktischen NS-Politik völlig unter die Räder. Statt Gerechtigkeit erfolgte eine teilweise Versklavung der besiegten Völker, besonders des Ostens, die doch anfangs die Deutschen teilweise sogar als Befreier vom Bolschewismus begrüßt hatten. Bald bemerkten sie indessen den Irrtum dieser Sicht. Die fehlende Unterstützung dieser Völker beschleunigte neben anderen Faktoren die deutsche Niederlage. Boehm lehnt mit Recht die nihilistischen Grundlagen der nationalsozialistischen Außenpolitik mit aller Schärfe ab. Bereits die Umwandlung der Rest-Tschechei in ein Protektorat verstieß gegen das Prinzip der Selbstbestimmung, das bis dahin die Politik Deutschlands legitimiert hatte.

Genauso, wie er die NS-Volkstumspolitik vehement kritisierte, lehnte er auch die Volkstumspolitik in Europa nach 1945, besonders in Osteuropa, ab.

Welche Entwicklungen des Volksbegriffes im deutschen Konservatismus (von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einschließlich der Epoche vor 1945) kann man feststellen? Zunächst lässt der Konservatismus bezüglich der Auffassung vom Volk eine theologische Komponente erkennen. Dabei zeigt sich eine eigenartige Dialektik. Volk wurde eng mit der Gottesvorstellung als deren Quelle in Verbindung gebracht. Das geschah oft in einer Weise, die manchmal kitschig daherkam. In patriotischem Überschwang heißt es bei Werner Sombart: „So sollen auch wir Deutsche in unserer Zeit durch die Welt gehen, stolz, erhobenen Hauptes, in dem sicheren Gefühl, das Gottesvolk zu sein. So wie der deutsche Vogel, der Aer, hoch über allem Getier dieser Erde schwebt, so soll der Deutsche sich erhaben fühlen über alles Gevölk, das ihn umgibt und das er unter sich in grenzenloser Tiefe erblickt“.

In noch radikaleren Konzeptionen der Konservativen Revolution, die als „völkisch“ umschrieben werden können und in mancherlei Hinsicht der NS-Bewegung nahestehen, ersetzte aber schon das Volk die Religion. Volk diente vielfach als „mythische Persönlichkeit“ (Thomas Mann) und wirkte als metaphysische Potenz. In der Weimarer Republik konnte auf diese Weise auch das angebliche Homogenitätsdefizit kritisiert werden. Kritiker des Konservatismus (wie Greiffenhagen) verwenden die angebliche Aufwertung des Volksbegriffes im Nationalsozialismus zu seiner Desavouierung. So heißt es dort: „Die offene Erhebung des Volkes zur Heiligkeit durch den Nationalsozialismus bildete den Schlusspunkt dieser Entwicklung“ (Greiffenhagen), d. h. er referiert angebliche Kontinuitäten. Blickt man genauer auf die entsprechende NS-Rezeption, so muss man (wie Boehm das tut) die Oberfläche von einer tieferen Sicht scheiden. Bei aller Aufwertung in der Rhetorik war, wie erwähnt, der Volksbegriff nicht der oberste Wert im Kontext der NS-Propaganda.

V. Das Volk wird schrittweise verabschiedet, kann aber auch wieder revitalisiert werden: der Hauptstrom-Konservatismus und seine authentischen Erben

Der „demokratische Konservatismus“ (Wilhelm Ribhegge) nach 1945 fühlte sich eine gewisse Zeit in der CDU/CSU beheimatet. Dieser Hauptstrom tat sich schwer mit dem Zusammenhang zwischen Volk, Nation und Staat – einfach aufgrund der Last der Kontaminierung dieser Begriffe in der jüngeren deutschen Geschichte und der Tatsache, dass die CDU einen neuartig-integrativen Parteitypus darstellte, innerhalb dessen konservativ-patriotische Facetten höchstens am Rande eine Rolle spielten. Der seit den 1960er und 1970er Jahren immer unübersehbarere Wertewandel tat ein Übriges. Immerhin hat die Partei noch bis in die 1990er Jahre hinein weithin am Abstammungsprinzip als dem primären Prinzip der Staatsangehörigkeit festgehalten – und das in einer Art und Weise, die heute – über zwei Jahrzehnte später – wie ein Märchen aus vergangenen Zeiten erscheint. Wer heute noch so denkt und sich öffentlich äußert, darf sich darauf einstellen, künftig zum Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes zu mutieren, wenn er es denn nicht schon längst ist.

Merkel: Destruktionsprozesse der ethnischen und nationalen Identität werden vorangetrieben.

Auf der politischen wie auf der juristischen Ebene werden die Destruktionsprozesse vorangetrieben. Wie bekannt, machte die von 2005 bis 2021 amtierende Bundeskanzlerin das Staatsvolk als die „länger hier Lebenden“ lächerlich. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Beschluss im so genannten NPD-Verbotsverfahren gegenüber früheren Urteilen eine deutliche Kehrtwendung vollzogen. Man vergleiche dieses Urteil, 2017 gefällt, mit der „Teso“-Entscheidung von 1987. Gerade die ständige Polemik der Deutungseliten gegen alles, was mit Volk jenseits einer diffusen Bevölkerungsvorstellung zu tun hat, zeigt die Notwendigkeit einer Klärung auf wissenschaftlicher Basis.

„Der Nebel um den Volksbegriff“ (Christian Böttger) spiegelt sich auch in der von Konservativen geführten Debatte um Identitätsfragen in der Staatsrechtslehre. Während der Erlanger Emeritus Walter Leisner, ein Schüler des bedeutenden Staatsrechtslehrers Theodor Maunz, und der Bonner Verwaltungsjurist Klaus F. Gärditz die Freiheit des Gesetzgebers bei der Bestimmung der ethnischen Zusammensetzung des Volkes hervorheben, betont der Freiburger Jurist Dietrich Murswiek die Pflicht des Gesetzgebers zur Erhaltung des herkömmlichen Nationalstaates und des konkreten Volkes. Er sieht gar ein Verbot der Überwindung des Nationalstaates durch die multikulturelle Gesellschaft. Für diese Position gibt es Hinweise im Grundgesetz, freilich indirekter Art.

Wie kann man diesem Trend zumindest argumentativ widerstehen? Will der Konservative seiner typologischen Einstufung als „realitätsorientiert“ gerecht werden, so bleibt ihm nichts übrig, als den alten Zusammenhang von Volk und Abstammung mit neuen wissenschaftlichen Mitteln – gemeint sind primär die der Genetik – aufzuweisen. Dass diese Richtung durchaus erfolgreich sein kann, zeigt der Bestseller Thilo Sarrazins, der einige Erkenntnisse der Biopolitik populärwissenschaftlich verarbeitet und in den Kontext der Migrationsthematik gestellt hat.

Selbst ein politisch korrekter Biologe wie der Italiener Luigi L. Cavalli-Sforza schreibt in seinem Buch „Gene, Völker und Sprachen“, dass die weltweiten Verzweigungen der menschlichen Phänotypen, der Sprachen und der Gene miteinander übereinstimmen, und er bejaht diese Übereinstimmungen. Demnach spiegeln sich Verwandtschaften der Sprache auch im Erbgut; Unterschiede der äußeren (phänotypischen) Merkmale der Völker zeigen sich (zumeist, nicht immer) auch auf der Ebene der Genetik und der Linguistik. Ethnische Identität ist auch bezüglich moderner Nationalstaaten, die sich heute überwiegend als Einwanderungsgesellschaften verstehen, nicht zu leugnen.

Erst recht haben Autoren wie Ilse Schwidetzky und einer ihrer wichtigsten Erben in der Gegenwart, Andreas Vonderach, solche Befunde bestätigt. Schwidetzkys Buch „Grundzüge der Völkerbiologie“ aus dem Jahre 1950 hat das biologische Gefüge der menschlichen Lebensgemeinschaften mit drei zentralen Stichworten umschrieben: Wanderung, Siebung und Auslese. Völker sind eigenständige Entitäten mit biologischer Grundlage auch dann, wenngleich sie nie biologistisch oder gar rassistisch, also durch die Biologie allein existieren, sondern immer auch in Auseinandersetzung mit Umwelteinflüssen und historischen Entwicklungen. Diese Faktoren haben auch mit der menschlichen Freiheit zu tun, die sich in der Historie äußert.

Es gibt demnach einen Konnex von Volk, Nation und Staat, sosehr bekannt ist, dass die Begriffe nicht deckungsgleich sind. Die Organisation des Volkes im Staat ist gerade in moderneren Zeiten unabdingbar, da biologische Abstimmung in modernen Territorialstaaten an Bedeutung verlieren, was nicht heißt, dass sie unwichtig seien. Eine gewisse Unschärfe dieser Begrifflichkeit war und ist nicht von der Hand zu weisen. Bereits Schwidetzky hat ausführlich erläutert, warum die Völkerbiologie keine Naturwissenschaft ist. Dazu hat sich im Rahmen der Ethnogenese und -mutation immer die Geschichte, die ja nicht zu berechnen ist, als unkalkulierbare Größe erwiesen.

Wandlungen, die es im Hinblick auf diese Größen immer gegeben hat, berechtigen nicht zu der Annahme, dass Völker einfach austauschbar seien und keine genuinen Individualitäten besäßen. Gerade neuere Befunde der Genetik legen nahe, dass ethnische Gemeinsamkeiten wenigstens eine wesentliche Voraussetzung für politische Organisation darstellen, wenn auch nicht die einzige. Diverse Arbeiten belegen, dass Menschen im starken, wenn auch nicht ausschließlichen Maß ihr Verhalten als Funktion genetischer Ähnlichkeit gestalten. Anzuführen ist lediglich die Studie von J. Philippe Rushton („Rasse, Evolution und Verhalten“). Die Theorie genetischer Ähnlichkeit bedeutet, dass Menschen in der überwiegenden Zahl der Fälle ihre Gruppe gegenüber Fremden bevorzugen. Hier ist eine wesentliche Basis für den Ethnozentrismus zu sehen.

Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf eine wichtige Erkenntnis Christian Böttgers („Ethnos“): Er macht ein Verbreitungsgebiet der „Ur-Indoeuropäer“ zwischen Mitteleuropa über die Karparten bis in die Ukraine aus. Hier liegt der bronzezeitliche „Völkerherd“. Alle heutigen weißen Völker können wesentliche genetische Wurzeln in diese Periode zurückführen. Diese Phase dürfte um 1500 v. Chr. abgeschlossen gewesen sein. Das sind die materiellen Wurzeln, die viel später von christlich-abendländischen Gedanken überwölbt werden. Diese haben „einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung und geistigen Vervollkommnung des abendländischen Menschen geleistet“ (Böttger).

Dieser Beitrag wurde am 24.11.2019 als Vortrag in Semriach gehalten. (FREIHEITLICHER AKADEMIKERVERBUND UND INSTITUT FÜR STAATSPOLITIK)

Prof. Dr. Felix Dirsch

Prof. Dr. Dirsch betätigt sich seit längerer Zeit als Publizist im katholisch- konservativen Milieu und schreibt neben anderen für die „Junge Freiheit“ , die „Tagespost“ und die „Sezession“.
Seit 2012 ist er Lehrbeauftragter an der Hochschule für Politik im Fachbereich Theorie der Politik.
Auch im Schulbetrieb und in der Erwachsenenbildung ist Prof. Dirsch tätig.
Immer wieder einmal erscheint ein Buch von ihm wie etwa 2012 die Veröffentlichung „Authentischer Konservatismus. Studien zu einer klassischen Strömung des politischen Denkens“ (Münster 2012).
Seit 2013 ist Prof. Dr. Dirsch auch Professor für politische Wissenschaft an der Universität Gjumri/Armenien, wo er in Abständen Blockveranstaltungen hält.

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