von Dr. Jens Woitas
Ist der „populistische Moment“ schon Vergangenheit?
Alain de Benoist zeichnete in seinem 2017 erschienen Buch „Der populistische Moment“ ein neues Bild politischer Auseinandersetzungen auf, die das klassische „Rechts-links-Schema“ überwinden. Da eine deutsche Übersetzung dieses Werkes erst seit einigen Monaten vorliegt, war es auch ein Ziel meiner eigenen Buchveröffentlichung „Revolutionärer Populismus“ (Lindenbaum Verlag, 2021), diese aus meiner Sicht für deutsche Oppositionelle wegweisenden Erkenntnisse zu popularisieren. De Benoists Meinung nach tritt im Zeitalter der Globalisierung ein neuartiger Konflikt in das Zentrum des Geschehens, der sich nicht mehr mit herkömmlichen, teils noch aus dem 19. Jahrhundert stammenden Begriffen beschreiben lässt. Die eine Partei bilden dabei Globalisierungsbefürworter und Globalisierungsgewinner, die sich weitgehend aus traditionellen Identitäten wie Nation, Religion, Familie und Geschlecht gelöst haben und zumindest teilweise eine internationale Elite bilden. Ihnen gegenüber steht eine zwar zahlenmäßig größere, aber deutlich weniger einflussreiche Gruppe von Menschen, die an den genannten Identitäten festhalten wollen und daher der Globalisierung skeptisch bis feindlich gegenüberstehen. Da in dieser Auseinandersetzung ein Begriff von „Heimat“ – sowohl im wörtlichen als auch übertragenen Sinne – eine große Rolle spielt, kann man in den Worten des britischen Journalisten und Autors David Goodhart auch von anywheres und somewheres sprechen. Die globalistische Elite wird durch die etablierten Parteien und Medien politisch repräsentiert, die Globalisierungsgegner durch populistische Parteien, Alternativmedien und zunehmend auch durch Proteste im öffentlichen Raum. Im Establishment verschwindet der alte Rechts-links-Gegensatz mehr und mehr zugunsten einer Art Einheitsmeinung, die sich auf die vorgebliche Alternativlosigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse stützt. Der oppositionelle Populismus wird zwar meistens als „rechts“ bezeichnet und nimmt sich oft auch selbst so wahr. In Wirklichkeit muss er aber, de Benoist zufolge, eine „als unmöglich erscheinende Synthese“ aus den herkömmlichen politischen Haltungen gewinnen, um tatsächlich zu einer dem 21. Jahrhundert angemessenen und vor allem mehrheitsfähigen Politikform zu werden. „Querfront“ ist aus meiner Sicht kein angemessener Begriff für diese Synthese, weil dieser Begriff viel zu sehr mit der alten Rechts-links-Begrifflichkeit beladen ist.

In diesem Essay sollen die Erfolgschancen des Populismus in der aktuellen politischen Situation der westlichen Staaten und Gesellschaften diskutiert werden. Zunächst einmal könnte man dabei die berechtigte Frage stellen, ob de Benoists „populistischer Moment“ vielleicht nicht schon der Vergangenheit angehört. Seinen Höhepunkt hätte der Populismus dann im Jahre 2016 mit der Brexit-Volksabstimmung im Vereinigten Königreich und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten erreicht. Danach wäre es aber zu einem anhaltenden Abwärtstrend gekommen, der von dem Zerbrechen der italienischen Regierungskoalition des linkspopulistischen Movimento Cinque Stelle (M5S) mit der rechtspopulistischen Lega im Sommer 2019 über die Abwahl Donald Trumps (2020) bis zur jüngsten französischen Präsidentschaftswahl reicht. Diese Wahl gewann bekanntlich der erklärt globalistische Amtsinhaber Emmanuel Macron am Ende doch relativ deutlich gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen.
Gerade das Beispiel Frankreich ermöglicht es aber bei näherer Betrachtung, die These von einem unaufhaltsamen Abwärtstrend des Populismus zumindest teilweise zu entkräften. Im ersten Wahlgang am 10. April erhielten nämlich drei ohne Zweifel populistische Kandidat(inn)en zusammen deutlich mehr als 50 % der Stimmen: Marine Le Pen, der rechtskonservative Journalist Éric Zemmour und der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon. Zusammen mit einer Reihe von weiteren Kandidat(inn)en, die nur Ergebnisse im unteren einstelligen Prozentbereich erzielten, kommt man fast auf eine Zweidrittelmehrheit für den Populismus. Der populistische Stimmenanteil lag zudem sowohl im ersten als auch im zweiten Wahlgang deutlich höher als im letzten Wahljahr 2017, was der These von einem Abwärtstrend des Populismus eindeutig widerspricht. Dass dies alles letztlich nicht zum Erfolg führte, ist allein dem Umstand geschuldet, dass de Benoists „als unmöglich erscheinende Synthese“ hier (noch) nicht verwirklicht wurde. Mélenchon stellte im Vorfeld des zweiten Wahlganges leider den reflexhaften „Kampf gegen rechts“ über das Ziel, den globalistisch-wirtschaftsliberalen Präsidenten Macron aus dem Elysée-Palast zu entfernen. Seine Anhänger hätten klüger sein können als ihr Kandidat. Zum Teil waren sie es auch, aber der Wählerzuwachs von links her, den Marine Le Pen durchaus erhalten hat, reichte eben am Ende nur für ca. 42 % der Stimmen. Zwei weitere Faktoren spielen hierbei eine Rolle: Erstens ist das französische Wahlsystem, in dem jedes Mandat nur mit einer absoluten Stimmenmehrheit gewonnen werden kann, schon zu Zeiten Charles de Gaulles mit dem Zweck ersonnen worden, „Radikale“ möglichst von der Macht fernzuhalten. In der Stichwahl wird sich fast immer eine gemäßigte „Mitte“ durchsetzen, weil „Linke“ und „Rechte“ sich gegenseitig ablehnen und jeweils allein kaum eine absolute Mehrheit erreichen können. Genau dies ist am 24. April in Frankreich geschehen. Zweitens haben wir bei der französischen Präsidentschaftswahl in bisher ungekanntem Maße das Phänomen einer „ethnischen Wahl“ erlebt. Mélenchon zog die Stimmen nicht-europäischer Einwanderer bzw. ihrer Nachkommen auf sich, deren Anteil in Frankreich aufgrund seiner Kolonialgeschichte deutlich höher ist als in Deutschland. Diese Wählergruppe konnte aus offensichtlichen Gründen nicht in ein rechtes Lager wechseln, das teilweise zu einem offenen Kulturkampf des bodenständigen Frankreich (la France de souche) gegen nicht-europäische Einflüsse aufruft.
Man sieht also, welche Probleme vor allem gelöst werden müssen, damit sich bei zukünftigen Wahlen vielleicht doch eine populistische Position durchsetzen kann. Eine solche Mehrheit ist, wie wir gesehen haben, mancherorts schon vorhanden. Sie muss sich nur zu einer tatsächlich wirksamen politischen Kraft formieren. Meiner Meinung nach kann dies nicht gelingen, wenn die Rechte auf einem Anspruch auf Ausschließlichkeit ihrer Denkweisen beharrt, vor allem auf einem zu eng gefassten ethno-kulturelle Volksbegriff. Das Problem der „ethnischen Wahl“ wird aus rein demographischen Gründen ja nicht geringer, sondern größer werden. Stattdessen müssten Teile des rechten Programms auf die Linke übergehen und dort in die erwähnte „als unmöglich erscheinende Synthese“ einfließen. Es ist mir völlig klar, dass diese Idee angesichts des realen Zustandes der linken Parteien in Europa als utopisch betrachtet werden muss. Deren Apparate sind vom Globalismus völlig korrumpiert worden. Dies hat dazu geführt, dass Kritik am globalen Kapitalismus weitgehend aus der linken Programmatik verschwunden ist, ja im Zuge einer geradezu wahnwitzigen Gedankenakrobatik dort sogar als „antisemitisch“ eingestuft wird. Stattdessen wird ein entgrenzter Linksliberalismus praktiziert, der mit einer wirklich sozialen Gesinnung nur noch wenig zu tun hat. Die Hoffnung kann allein darin bestehen, dass an irgendeinem Punkt an der Basis dieser Parteien – oder wenigstens bei einem nennenswerten Teil ihrer Wähler – die Erkenntnis dämmert, dass man hier einer riesengroßen Täuschung durch das Establishment aufgesessen ist. Sobald wieder zu einer linken Globalisierungskritik zurückgekehrt wird, wie wir sie vor einigen Jahren etwa in Gestalt der Occupy-Wallstreet-Bewegung schon einmal kannten, muss eigentlich auch der heute verfemte Begriff der Nation eine neue Würdigung durch die Linke erfahren. Nur eine Rückkehr zu Nation und Nationalstaat kann nämlich bewirken, dass eine völlig entgleiste Globalisierung wieder Platz für Demokratie und eine soziale Gesellschaft macht. Dabei sollte auf ein Denken abgezielt werden, das bei aller Bedeutung des ethno-kulturellen Volksbegriffes diesen nicht überzieht, sondern auch Menschen mit Migrationshintergrund eine Teilhabe an der Nation ermöglicht, soweit diese das selbst wollen. So kann man der Falle der „ethnischen Wahl“ entgehen, ohne rechte Positionen völlig aufzugeben.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass die französische Linke einen großen Schritt in diese Richtung bereits gegangen ist. Mélenchon und seine Partei La France insoumise können durchaus als linksnationalistisch bezeichnet werden und wenden sich etwa, genauso wie die Rechte, gegen das zentralistische Maastricht-Europa. Es hat also in Frankreich wirklich nicht viel zu einem populistischen Wahlsieg gefehlt, und vielleicht kann bei den bald anstehenden Wahlen zur Nationalversammlung sogar noch ein Teilerfolg erzielt werden, der einigen Sand in Macrons globalistische Politik streuen würde. Es ist sogar noch eine weitergehende Entwicklung möglich: Das global-liberale Programm hat den Westen bereits in eine sich stetig verschärfende innere Krise getrieben, und es ist aller Erwartung nach nicht möglich, diese Krise durch Reformen innerhalb des Global-Liberalismus auf befriedigende Weise zu lösen. Dies liefe nämlich auf nichts anderes hinaus als auf das Hirngespinst von einem Great Reset, der kein ausgeklügelter Plan von „Verschwörern“ ist, sondern sich vielmehr durch die fast völlige Abwesenheit eines Planes auszeichnet. An irgendeinem Punkt könnte die Krise der Globalisierung so sehr eskalieren, dass – gerade in Frankreich mit seiner reichen revolutionären Tradition – das Volk selbst die Macht übernehmen und eine populistische Regierung einsetzen müsste. Denkbare Anlässe dafür gibt es genug, ich nenne hier nur Inflation, eine selbstmörderische westliche Strategie im Ukraine-Konflikt und die von Tag zu Tag realer werdende Möglichkeit von großflächigen Gesundheitsschäden durch die Corona-Impfungen.
Alain de Benoists Moment populiste ist also in Frankreich keineswegs schon Geschichte. Vieles bisher Gesagte lässt sich auch auf andere westliche Staaten übertragen, insbesondere die USA. Dort hat der Wahlsieg Joe Bidens nämlich keineswegs zu einem grandiosen Aufschwung des Globalismus geführt. Vielmehr haben die äußeren Umstände dieses Machtwechsels das politische System der USA vielleicht irreparabel geschwächt, und anstelle eines Aufbruches breitet sich eine tiefgreifende Unzufriedenheit aus, der man kaum noch mit demokratischen Mitteln begegnen kann. Ob dies zu einer Rückkehr Trumps, einer „Amerikanischen Revolution“, einer Machtübernahme des Militärs oder einem endlosen Sich-Weiterschleppen des status quo führt, kann und soll hier nicht ergründet werden. In Ungarn ist die Regierung des Populisten Viktor Orbán und seiner Fidesz-Partei vor wenigen Wochen deutlich im Amt bestätigt worden. In Schweden könnten, gerade angesichts der erschreckenden ethnisch-religiösen Gewalt im Lande, bei den Parlamentswahlen im September die populistischen „Schwedendemokraten“ zu einer beherrschenden Kraft werden. Schließlich gibt es im Frühjahr 2023 auch in Italien nach dem dann fälligen Ende der Notstandsregierung des Globalisten Mario Draghi wieder Parlamentswahlen. Umfragen sehen dort Giorgia Melonis Fratelli d’Italia als stärkste Partei. Ob es im Zusammenspiel mit Matteo Salvinis Lega zu einer Regierungsübernahme reicht, wird hauptsächlich davon abhängen, ob beim Wahlrecht das sogenannte Italicum in Kraft bleibt, also die automatische Aufstockung eines Stimmenanteils von mehr als 40 % für die siegreiche Parteienkoalition zu einer absoluten Parlamentsmehrheit.
Italien ist leider auch ein Beispiel dafür, wie undurchdachtes Handeln eine populistische Mehrheit sehr schnell wieder verspielen kann. 2018/19 regierte dort schon einmal eine Koalition von Rechts- und Linkspopulisten, die in der Sozial- und Einwanderungspolitik Erfolge erzielte, welche nach bundesdeutschen Maßstäben als Unmöglichkeit gelten müssten: Ein Rentenniveau von 62 % des letzten Nettoeinkommens nach 38 Berufsjahren, einen generellen Anspruch auf eine auskömmliche soziale Grundsicherung und den weitgehenden Stopp der illegalen Migration über das Mittelmeer. Das Ende dieser Erfolgsgeschichte wurde durch die völlig abwegige Forderung des linkspopulistischen M5S ausgelöst, den Bau der Hochgeschwindigkeits-Bahnstrecke von Turin nach Lyon abzubrechen und unvollendet liegen zu lassen. Dies ist leider ein Beispiel dafür, dass Populismus nicht immer ein positiver Begriff sein muss.
Damit kommen wir zum Schluss dieses Essays in die bundesdeutsche Gegenwart. Die Lage des deutschen Populismus kann nur als traurig bezeichnet werden. Eine AfD, deren Öffentlichkeitswirkung sich weitgehend im Bild innerer Zerstrittenheit erschöpft, noch weiter rechts stehende Organisationen, deren Geschichtsbild jegliche Massenwirksamkeit unmöglich macht, und auf der anderen Seite des politischen Spektrums DIE LINKE (meine ehemalige Partei), die anscheinend unaufhaltsam auf ihr eigenes Ende hinarbeitet, das man inzwischen als wohlverdient bezeichnen muss. Als eine im positiven Sinne populistische Figur bleibt da eigentlich nur noch Sahra Wagenknecht übrig, deren Denken allerdings dieselbe Schwäche aufweist wie jenes von Jean-Luc Mélonchon: Eine reflexartige, unverrückbar scheinende Abgrenzung nach „rechts“. Frau Wagenknecht könnte im Stillen darauf warten, sich an irgendeinem Punkt der Entwicklung nicht mehr selbst in Stellung bringen zu müssen, sondern gerufen zu werden, sei es von ihrer Partei, sei es sogar von einer Mehrheit des Volkes zur Bildung einer Übergangsregierung, wie es Manfred Kleine-Hartlage in seinem Buch „Systemfrage“ andeutet. Ob sie in einer solchen Situation den Willen und die Kraft zur Führung hätte, kann nur sie selbst wissen. Unabhängig davon gilt auch in Deutschland, dass der Problemstau infolge nicht mehr kontrollierbarer globaler Entwicklungen immer größer wird und damit zwangsläufig zu einer immer größeren Unzufriedenheit im Volk führen muss, was populistische Politikansätze auf fast natürliche Weise fördert. Meiner Meinung nach steht unserer „populistischer Moment“ noch bevor. Wann genau er eintritt und wer seine Protagonist(inn)en sein werden, kann aber in diesem Essay nicht geklärt werden.

Jens Woitas, geboren 1968 in Wittingen (Niedersachsen), verheiratet, lebt (mit einigen Unterbrechungen) seit 1970 in Wolfsburg. Abitur 1988, dann Zivildienst und Tätigkeit als Gartenarbeiter. Studium der Physik in Clausthal-Zellerfeld und Tübingen, dann Promotion zum Doktor der Naturwissenschaften in Heidelberg (1999). Wissenschaftlicher Mitarbeiter an astronomischen Forschungsinstituten in Tübingen, Heidelberg und Tautenburg (1995-2005), dann Unternehmensberater. Seit 2011 Erwerbsunfähigkeitsrentner. Von Kindheit an lebhaft an Politik, Geschichte, Literatur und Religion interessiert, Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche und von 2017 bis 2020 Mitglied der Partei DIE LINKE. Neben einer Reihe von Artikeln in astronomischen Fachzeitschriften auch Autor einer autobiographischen Erzählung (Schattenwelten, Mauer Verlag, Rottenburg am Neckar 2009). In den letzten Jahren intensive Beschäftigung mit dem Denken des Neomarxismus und der „Neuen Rechten“ unter Einbeziehung französischer Originaltexte, insbesondere von Alain de Benoist und Jean-Claude Michéa.
Im Lindenbaum Verlag ist unlängst das Buch „Revolutionärer Populismus. Das Erwachen der Völker Europas“ von Dr. Jens Woitas erschienen und kann hier bestellt werden: https://lindenbaum-verlag.de/produkt/revolutionaerer-populismus/