Preußen – keine Renaissance?

Auszug der ostpreußischen Landwehr 1813 ins Feld, (Öl auf Leinwand) von Gustav Graef, 1860

von Dr. Bodo Scheurig

Preußen – keine Renaissance

Die Auflösung Preußens im Februar 1947 war ein Akt der Siegermächte. Daß dieser Akt den historisch Hauptschuldigen traf, bestreitet inzwischen eine kaum noch übersehbare Literatur. Gleichwohl sind vorbehaltlose Apologien des ausgelöschten Staates auch heute nicht erlaubt. Preußens Renaissance ist von seiner Endphase her am wenigsten zu verfechten.

Wohl schien 1933 die Vorstellung absurd, daß Hingabe und Pflichterfüllung mißbraucht werden könnten. Eide hatten bis dahin wechselseitig gebunden. Totalitäre Praktiken waren allen Schichten fremd. Entscheidend wirkte, daß Hitler an patriotische Empfindungen und Überzeugungen rührte, Stichworte: Volksgemeinschaft, Überwindung der Arbeitslosigkeit und des Versailler Diktats. Mit solchen Appellen konnte er täuschen, aber über die nationalsozialistische „Bewegung“ war einem intakten Preußentum keine Illusion erlaubt.

Hitler schürte den Führerkult und plante, das Recht nach dem Nutzen des Volkes zu bestimmen; sein Rassismus erklärte Menschen einzig wegen ihrer Abstammung zum Freiwild; er wollte nicht allein über Deutschland, sondern gottähnlich auch über die Gewissen herrschen. All das war – vom verstiegenen NS-Imperialismus ganz zu schweigen – zutiefst unpreußisch und hätte preußische Menschen von vornherein warnen müssen. Damals, 1933, widersetzten sich nur Außenseiter. Hier wäre insbesondere Ewald von Kleist-Schmenzin hervorzuheben, in dem Preußentum noch lebendig war und der dem Nationalsozialismus mit der Unerbittlichkeit eines Cato Kampf ansagte. In der Mehrheit dagegen waren preußische Instinkte ertaubt: Sie bejubelte Hitler und trug, tatkräftig wie je, zu einer preußischen Jammergeschichte bei.

Vorwürfe müssen im Rückblick Politiker, Beamte und nicht zuletzt die Generalität treffen, die an der Spitze des Heeres stand. Gewiß köderten gerade die Generalität „Gründe“: Wiederaufrüstung und nationale Erneuerung waren Parolen, die namentlich die Armee verführten. Bald darauf schreckten Hitlers Nimbus und ein Volk, von dem man annehmen mußte, daß es dem Nationalsozialismus erlegen sei. Schließlich waren Militärs nicht erzogen, politisch zu denken oder gar zu folgern. Aber daß die Generalität die Verfemung jüdischer Kameraden, den Kommissar-, Kriegsgerichtsbarkeits- und Kommandobefehl hinnahm, ohne eine eindeutige und geschlossene Abwehrfront zu bilden, blieb moralisches Versagen. Nach den ersten Kriegsniederlagen wurde ihr demonstriert, daß Hitler jeden vernünftigen Führungsgrundsatz mißachtete. Damit meldete sich der Krebs auch auf militärischem Gebiet, also in dem Bereich, in dem ranghöchste Soldaten traditionsgemäß Mitverantwortlichkeit zu zeigen hatten. Erkennbar war, daß im Endeffekt die Wehrmacht zerbrochen würde. Erkennbar war, daß Deutschland, wehrlos geworden, dem Willen der Gegner verfallen mußte.

Preußische Landesflagge (1892–1918)

Das sind keine nachträglichen Weisheiten. Schon das allgemeine Trauerspiel um Stalingrad sprach beredt genug. Vollends konnten dessen Folgen aufrütteln. Doch die führenden Militärs duckten sich und duldeten auch die unsinnigsten Zumutungen des Diktators und seines OKW. Sehenden Auges und beunruhigten Gewissens ertrugen sie, was ihnen Auge und Gewissen hätten verbieten müssen. Schwächen dieser Art richteten vor allem Feldmarschälle wie Manstein, Kluge und Rundstedt. Sie waren keine Nationalsozialisten; ihr militärisches Können begriff, was Hitler der Truppe zufügte; sie wurden von der Opposition bestürmt und gestanden, die Ruchlosigkeit des Staatsoberhauptes und Obersten Befehlshabers durchschaut zu haben, aber sie versagten sich und handelten nicht. Im Gegenteil: sie fesselte, obgleich der Marschallstab zur Teilhabe an der Souveränität verpflichtete, mißverstandener Gehorsam – ein Gehorsam, bei dem keine Unterschiede zwischen Feldmarschall und Grenadier zu bestehen schienen. Solch ein Preußen war verächtlich und durfte zum Teufel fahren. Leider ist mit ihm auch das Deutsche Reich, das eine höhere Pflichterfüllung verlangte, zusammengebrochen und auf der Strecke geblieben.

„Ohne Preußen“, hieß es einmal, „ist Deutschland keine Nation.“ Diese Worte stammen nicht etwa von einem verbohrten Preußen, der auf Deutschlands übrige Staaten nur dünkelhaft herabsehen kann, sondern von Charles de Gaulle, der – eher ein Antipode Preußens – auch hier historisches Gefühl bewies. Mit Preußen wäre Deutschland kaum so leicht zu spalten gewesen. Mit Preußen hätte es nicht seine europäische Mittellage zwischen West und Ost verleugnet, aber Preußen gehört der Vergangenheit an. Wenngleich es sich gegen Hitler und den eigenen Untergang auflehnte: Preußen ist – insgesamt – an seinen Führungsschichten zugrunde gegangen. Diese Führungsschichten verdammten die Fronde des 20. Juli 1944 zu tragischer Einsamkeit. Sie beklagten lediglich Wahn und Mißbrauch, Schande und Verbrechen. Was bei ihnen überwog, war funktionalistischer Gehorsam, mit dem sie widerstandslos in die Katastrophe des Ganzen taumelten. So wurden sie geprüft und auch ohne Gerichtsprozesse schuldig gesprochen. Soweit Reste von ihr leben, haben sie besondere Anrechte eingebüßt. Das gilt nicht nur moralisch. Mit dem Ende des Deutschen Reiches, in dem Preußen trotz aller Spannungen noch immer Aufgaben wahrzunehmen hatte, sind sie historisch ortlos geworden. Niemand kann an sie anknüpfen, ohne ein falsches und fruchtloses Epigonentum zu fördern. Preußen endete am Galgen oder muß aus Scham verstummen.

Die DDR vermochte für Preußen nicht einzuspringen. Obgleich sie sich auf Berlin, die Mark Brandenburg und preußische Traditionen stützte, obgleich sie sich mit Eifer und Zucht preußisch großhungerte, lenkte sie – vorsätzlich unpreußisch – eine diesseitige Ideologie, forderte sie einzig den Gehorsam unterwürfiger Dienstwilligkeit. Wenn auch Preußentum und soziale Haltung bei guten Preußen seit je zusammengehörten: selbst nach Metamorphosen wäre die Deutsche Demokratische Republik kein neues Preußen gewesen. Verabsolutierte Menschenordnung und nicht-religiöse Heilsgewißheit standen im Weg. Die Bundesrepublik Deutschland aber, in der ohnehin nur matte preußische Erinnerungen zu mobilisieren waren, wurde entsprechend Adenauers Willen zu einem bewußt antipreußischen Staatsgebilde. Dieser Kanzler, preußisch in der Pflichtauffassung, doch ein Feind Ostelbiens, blieb durchdrungen davon, daß Preußen nie wieder aufkommen dürfe. Er entschied sich gegen Berlin und für die vorbehaltlose West-Integration. Die damalige Bundesrepublik – geographisch ein zweiter Rheinbund – erleichterte, ja diktierte geradezu seine Politik. Mit ihr kehrte sich Bonn Frankreich und den angelsächsischen Mächten zu, während es Osteuropa vier Jahrzehnte lang beiseite ließ: auch dies kein zufälliger Vorgang.

Die Wende hat Deutschland wieder in die Nachbarschaft Ost-Mittel-Europas gerückt. Preußische Erfahrungen könnten erneut gefragt oder zumindest dienlich sein, doch selbst wenn man hier Chancen sähe, würde Preußen als Wirklichkeit nicht wiedererstehen. Dieser Staat gründete auf unseren Ostprovinzen. Da sie mit Brief und Siegel an Polen verloren sind, können wir ihn schwerlich zu neuem Leben erwecken. Auch der Menschenschlag Pommerns, Schlesiens und Ostpreußens, den Preußen prägte und der Preußen repräsentierte, dürfte keine Renaissance mehr erleben. Er wurde von Grund und Boden vertrieben und damit seiner ursprünglichen Kraftquellen beraubt. Man muß sich nicht die Schönheiten der Ostprovinzen vergegenwärtigen, um ermessen zu können, welche Wunden Preußens Wirklichkeit erlitten hat. Noch mögen manche Pommern, Schlesier und Ostpreußen ein Bewußtsein von der einstigen Heimat wachhalten. Mit ihrem Abgang wird – ganz gewiß zur inneren Verarmung Deutschlands – auch dieses Bewußtsein geschwunden sein.

Preußen 1905, aus: Meyers Großes Konversations-Lexikon

So bliebe von Preußen bestenfalls die Idee. Kein Zweifel: preußische Tugenden sind heute, milde formuliert, kaum anerkannt. Man will nicht mehr dienen, sondern verdienen. Jeder Beschwörung, die auf das Gegenteil abzielt, haftet der Geruch des Rückständigen, wenn nicht gar des Inhumanen an. Vielleicht aber erwächst der preußischen Idee in Zukunft eine Chance? Die Geschichte liebt nicht nur Fortschritte: oft streben Entwicklungen auf Umwegen zu erprobten Werten zurück. Fleiß, Sauberkeit, Sparsamkeit und Hingabe für das Ganze stellen zeitlose Tugenden dar. Diese Tugenden – sicher nicht allein preußisch, doch Inbegriff der preußischen Idee – helfen immer. Ohne sie ist „kein Staat zu machen“.

Dr. Bodo Scheurig

Dr. Bodo Scheurig (1928 – 2008), studierte nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft Neuere Geschichte und Philosophie an der Freien Universität Berlin und an der Columbia University, New York. Zahlreiche zeitgeschichtliche Veröffentlichungen, u.a. Standardwerke über Ewald von Kleist-Schmenzin (Neuauflage in Kürze im Lindenbaum Verlag), Henning von Tresckow und Generaloberst Alfred Jodl (Alfred Jodl. Gehorsam und Verhängnis. Biographie im Bublies Verlag).

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