Zum 100. Geburtstag von Otfried Preußler – sein „wir selbst“-Interview vor 25 Jahren

Zum 100. Geburtstag von Otfried Preußler – sein „wir selbst“-Interview vor 25 Jahren

Die in der Kindheit angesponnenen Geschichten erzählt er zu Ende. Interview zum 75. Geburtstag des Schriftstellers und Kinderbuchautors Otfried Preußler (er verstarb am 18. Februar 2013) in der Zeitschrift wir selbst (Nr. 2/1998)

Herr Prof. Preußler, Ihre Geschichten kennt buchstäblich jedes Kind. Aber Ihre eigene (Lebens-) Geschichte dürfte nicht ganz so bekannt sein. Erzählen Sie sie uns?

Ich bin ein Deutscher aus Böhmen, präzise aus Nordböhmen, bin am 20. Oktober 1923 geboren in der damals noch deutschen Stadt Reichenberg in Böhmen. Aufgewachsen bin ich in einem eher bescheidenen Elternhaus, wenn man von den materiellen Verhältnissen ausgeht. Aber: Es war ein Elternhaus voller Bücher und voller Geschichten.

Mein Vater war Hilfsschullehrer, wie es damals hieß, heute sagt man dazu Sonderschullehrer. Als Volkskundler und als Kunsthistoriker hat er sich eine große Bibliothek von einigen 6000 Bänden geschaffen. Mein erster Satz soll gewesen sein „Dorten oben Bücher“. Mein verstorbener jüngerer Bruder und ich hatten von klein auf unbegrenzten Zugriff auf Vaters Bibliothek, und wir haben regen Gebrauch gemacht davon. Ich glaube, von dort her, von Vaters Bücherei stammt meine Liebe zu Büchern.

Vater hat auch zahlreiche Dichter und Künstler als Freunde gehabt – Hans Watzlik zum Beispiel, den grandiosen Jugendstilillustrator Ernst Kutzer, Robert Hohlbaum – Dichter „zum Anfassen“, die schon frühzeitig den Wunsch in mir erweckt haben, auch einmal Geschichten zu schreiben.

Die Buchwelt, in die ich hineingewachsen bin, war das eine. Das andere waren die lebendig erzählten Geschichten, für die meine Großmutter eine Hauptquelle war, Vaters Mutter. Sie war eine einfache Frau vom Dorf, die in der Nähe der Sprachgrenze aufgewachsen ist. Der Urgroßvater hatte dort eine Fuhrmannsherberge. Und am Abend, wenn die Fuhrleute ausgespannt hatten, sind dann Geschichten erzählt worden. Und wenngleich nicht alle diese Geschichten für ein kleines Mädchen bestimmt waren, hat meine Großmutter eben zugehört und sie sich gemerkt. Als sie dann unsere Großmutter war, hat sie abendelang Geschichten erzählt.

Noch zu meiner Kinderzeit ist auf den Dörfern im Isergebirge sehr viel erzählt worden. Auch mein Vater ist immer wieder losgezogen, um solche Geschichten zu sammeln und aufzuschreiben. Da hab ich ihn ein paarmal begleiten dürfen. Für mich waren das Ausflüge in eine Zauberwelt. Erzählt wurde am Abend in den Baudenstuben oder in einer Bergwirtschaft beim Schein der Petroleumlampe. Da konnte man schon leibhaftig an all die Dinge glauben, von denen die Rede war. Wenn der Nachtjäger übers Dach hinweggefahren ist oder wenn der Wassermann an der Iserbrücke geplätschert hat, dann waren das Realitäten für uns. Der Vater hat die Geschichten immer aufgeschrieben – manchmal hat er auch darauf vergessen, weil er so fasziniert zugehört hat. Die Ausbeute seiner Sammeltätigkeit ist dann nach dem Krieg in alle Winde verstreut worden, sprich: auf die Straße geworfen und zum Altpapier gegangen, naja. Vielleicht hat es meinen Vater getröstet, daß ich von damals her viele Stoffe, viele Gestalten in meine eigene Erzählertätigkeit herübergenommen habe, so ganz verloren sind jene Geschichten also nicht.

Die Sudetendeutschen waren nach dem Ersten Weltkrieg gegen ihren erklärten Willen der neugegründeten Tschechoslowakei einverleibt worden. Wie haben Sie in Ihrer Kindheit das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen erlebt?

Reichenberg war eine deutsche Stadt, und so habe ich, außer im Tschechischunterricht, als kleiner Junge kaum ein tschechisches Wort gehört. Aber an jeder Haltestelle der Straßenbahn, da stand oben „Zastávka“ und darunter stand „Haltestelle“. Und über jedem Amt und jeder öffentlichen Einrichtung stand der tschechische Name oben und der deutsche stand unten. Selbst auf jedem Gasthausschild stand oben „Hostinec“ und darunter „Gasthaus“, was entsprechend auch für die Straßennamen und Wegweiser galt. Wir Deutschen mußten uns in den böhmischen Ländern als Staatsbürger dritter Klasse fühlen, obgleich statistisch auf jeweils zwei Tschechen ein Deutscher kam. Ganz gezielt wurden in die ursprünglich deutschen Gebiete tschechische Staatsbeamte versetzt, hauptsächlich bei der Post, bei der Bahn, im Forstwesen, bei der Polizei. Im Sinne dieser konsequent betriebenen Bevölkerungspolitik wurden mit Vorliebe kinderreiche tschechische Familien in die deutschen Siedlungsgebiete verpflanzt; und von einem bestimmten, sehr kleinen Bestand an hatten sie dann Anspruch auf eigene Schulklassen, bald schon auf ganze Schulen mit tschechischer Unterrichtssprache. Umgekehrt ist meine Mutter, die an einer Bürgerschule Deutsch und Geschichte unterrichtete, gegen Ende der zwanziger Jahre im Verlauf der Reduzierung des deutschen Schulwesens „abgebaut“ worden. All das führte nicht dazu, daß wir uns jener Regierung in Prag übermäßig verbunden fühlten, die uns dergleichen zugemutet hat.

Ich selbst bin in der Jungturnerschaft aufgewachsen. Die Turnvereine bildeten bei uns, wie übrigens auch bei den Tschechen, einen wichtigen außerschulischen Erziehungsfaktor. Wir waren noch sehr stark hündisch eingefärbt; das Bekenntnis zum Deutschtum, wie man es damals nannte, gehörte maßgeblich mit dazu.

Das Münchner Abkommen vom September 1938, das den Anschluß des Sudetenlandes an das Deutsche Reich regelte, empfanden Sie demnach als Befreiung?

Ja, natürlich. Die Engländer hatten im Sommer 1938 einen Lord Runciman (bei uns Kindern hieß er Runzelmann) nach Böhmen geschickt, der dort die Verhältnisse erkunden sollte; er ist auch ganz eindeutig zu der Auffassung gekommen, da hilft eigentlich nur eine klare Trennung. Und als die Sache sich nach dem Anschluß Österreichs immer weiter zugespitzt hatte – schaun Sie, wir hatten ja Ausnahmezustand, wir lebten unter Belagerungszustand – war es für unsere jungen Männer, die nicht sehr viel älter waren als ich, eine schwierige Sache, als sie plötzlich zur tschechoslowakischen Armee eingezogen wurden – mit der ziemlich großen Wahrscheinlichkeit, auf Deutsche schießen zu müssen. Da haben wir schon alle sehr aufgeatmet, als es, nicht ohne tatkräftige Mitwirkung von Hitlers Staatssekretär Ernst Freiherr von Weizsäcker, im Frühherbst 38 zum Münchner Abkommen gekommen war und das Sudetenland von den tschechischen Gebieten Böhmens klar getrennt wurde.

Und im übrigen: Wäre in der damaligen Situation Deutschland kommunistisch gewesen und Thälmann hätte uns als Reichskanzler die Befreiung von der tschechischen Vorherrschaft versprochen, dann wären wir vermutlich alle für Thälmann gewesen – so wie wir dann halt für Hitler waren.

Im März 1939 wurde das Protektorat Böhmen und Mähren errichtet…

Ich erinnere mich deutlich, wie damals im Freundeskreis der Eltern ein großes Erschrecken um sich griff, verbunden mit dem Stoßseufzer „Endlich sind wir die Tschechen losgewesen – und jetzt haben wir sie wieder am Hals!“

… und dann kam der Zweite Weltkrieg.

Zwei Tage nach der Matura 1942 bin ich Soldat geworden. Und im Spätsommer 1944 geriet ich als noch minderjähriger Leutnant und Kompanieführer bei dem Desaster in Bessarabien in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Es war eine schreckliche Katastrophe, wohl schlimmer als die von Stalingrad, es sind einige hunderttausend Soldaten dort umgekommen. Nach wochenlangem Transport im überfüllten Viehwaggon landete ich mit einer schweren Hungerdystrophie im Lazarett des Kriegsgefangenenlagers Jelabuga, weit hinten in der tatarischen Republik. Mein Leben verdanke ich einer jüdischen Ärztin, die sich rührend um die kranken Gefangenen angenommen hat. Dort schon, in den endlos langen Nächten im Kriegsgefangenenlager Jelabuga und später in Kasan, hab ich angefangen, Geschichten zu erzählen. Die einen haben Kochrezepte kolportiert, die anderen haben sich auf Gedichte besonnen oder von ihren Reisen berichtet, und Preußler hat eben Geschichten erzählt. Insgesamt fünf Jahre bin ich in Gefangenschaft geblieben, bis 1949. Das war eine überaus harte Zeit. Vorsichtig geschätzt, haben vierzig Prozent meiner Mitgefangenen sie nicht überlebt.

Wußten Sie damals eigentlich, daß Ihre Angehörigen ihre Heimat hatten verlassen müssen?

Im Herbst 1945 hatte uns ein sowjetischer Polit-Instrukteur von den Potsdamer Beschlüssen Kenntnis gegeben – auch von der, wie er sagte, humanen Aussiedlung der Deutschen aus Osteuropa und den böhmischen Ländern. In Wirklichkeit war es keine Aussiedlung, es war eine brutale Vertreibung im Vollzug kollektiver Rache. Meine Braut, ihre Mutter und ihre Geschwister wurden in den ersten Junitagen des Jahres 1945 einfach zum Bahnhof getrieben, auf offene Kohlewagen verladen, jenseits der Grenze hinaus geworfen und ihrem Schicksal überlassen.

Mein Vater war aufgrund einer Verwechslung von tschechischen „Revolutionsgardisten“ verhaftet und schwer mißhandelt worden. Der Schwiegervater befand sich in tschechischer Kriegsgefangenschaft. Meine Mutter mit der Großmutter wurden aus dem Haus gejagt, vorübergehend in einem sogenannten Lager untergebracht und dann erst ein Jahr später in einen Transport gesteckt, der sie nach Hessen brachte.

Es war bemerkenswert, mit was für einer Akribie man versucht hat, die gewachsenen Nachbarschaften zu zerstören. Wenn ich mir überlege, wohin allein Transporte aus Reichenberg gegangen sind! Man hat uns über das gesamte restliche Deutschland verstreut. Ich bin sicher, daß Herr Stalin im Verein mit seinen tschechischen und polnischen Helfershelfern sich der Hoffnung hingegeben hatte, er schüfe mit diesen Maßnahmen in Deutschland ein revolutionäres Potential. Seine Rechnung ist glücklicherweise nicht aufgegangen – denken Sie nur an den bereits Anfang der fünfziger Jahre feierlich proklamierten Verzicht der Vertriebenen auf Rache und Gewalt.

Meine Familie kam mit den üblichen zwanzig Kilo Gepäck pro Kopf, die man mitnehmen durfte, im Westen an. Doch selbst diese spärliche Habe war mehrfach unnachsichtig gefilzt worden. So ist es meiner Mutter nicht gelungen, eine einzige Fotografie von mir durchzubringen: von ihrem Sohn, den sie für tot gehalten hat. Ich hab aus meiner Kinderzeit keine Bilder. Erst ein jüdischer Schulfreund, der 1938 mit seinen Eltern emigriert ist und jetzt in England lebt, hat mir einige alte Aufnahmen geschickt.

Nur durch eine Verkettung unwahrscheinlicher Fügungen habe ich wieder Verbindung mit meiner Braut bekommen. Mit der letzten Postkarte, die ich im Lager erhielt, erfuhr ich, daß sie aus dem sächsischen Erzgebirge nach Stephanskirchen in Oberbayern gegangen war, und so habe ich mich hierher entlassen lassen. Unser erstes Ziel war es, zu heiraten. Ich weiß noch, wie im Aufgebot von der Kanzel herab verkündet wurde, das Flüchtlingsmädchen Annelies Kind und der Spätheimkehrer Otfried Preußler gedächten in den heiligen Stand der Ehe zu treten. Das war genau die Beschreibung unseres damaligen Status. Wir hatten nichts, wir waren nichts, aber wir waren beisammen und wir hatten den Willen und die Hoffnung, eine Familie zu gründen, uns ein menschenwürdiges Leben aufzubauen.

Was Ihnen ja in der Tat gelungen ist.

No ja, als kaufmännischer Angestellter hätte ich zuerst einmal einen Betrieb fast auf den Hund gebracht, weil ich mich dazu nicht eigne. Ich hab dann, nachdem mein Vater, den die Tschechen eingesperrt hatten, auch hierher gekommen war, ein rasches Lehrerstudium absolviert und hatte das Glück, daß ich anschließend in Rosenheim meine erste Anstellung bekam. Ich hatte eigentlich vorgehabt, Hochschullehrer in Prag zu werden, aber da führte nun kein Weg mehr hin. In der Schule hab ich dann mein Publikum gefunden. Ich hatte damals 52 Kinder in meiner Schulklasse, und da hat mir mein damaliger Rektor ein paar Ratschläge mitgegeben für den Unterricht: Wenn die Bande laut wird, dann werden’S um Himmels willen net auch laut, sondern fangen’S an, ganz staad eine Geschichte zu erzählen! Tatsächlich, das war eine herrliche Möglichkeit. Da hab ich gemerkt, daß Kinder Geschichten, wie ich sie erzähle, mögen, daß sie sie offensichtlich auch brauchen. So kam eins zum andern. Den „Kleinen Wassermann“, mein erstes Kinderbuch, hab ich buchstäblich mit meinen Schulkindern zusammenfabuliert…

… und damit gleichzeitig auf eine wichtige Sagengestalt des deutsch- slawischen Grenzgebiets zurückgegriffen.

Ich steckte und stecke voller Geschichten, die sich alle in meiner Kindheit angesponnen haben: eine Tatsache, die mir eigentlich erst im Laufe meines Schriftstellerlebens bewußt geworden ist.

Mit der „Kleinen Hexe“ und ihren Geschichten ist es nicht viel anders als mit dem „Kleinen Wassermann“. Das „Kleine Gespenst“ geht unmittelbar auf eine Geschichte meiner Großmutter zurück, die zu unserem großen Vergnügen erzählt hat, wie der General Torstenson bei der Belagerung eines böhmischen Schlosses einen fürchterlichen Schrecken gekriegt hat und wie er im Hemd, zähneklappernd, vor dem Bett gekniet ist, als die weiße Frau plötzlich vor ihm stand.

Ich habe bewußt gerne immer wieder Familiennamen, Flurnamen, Ortsnamen aus meiner Kinderheimat in meine Geschichten hereingenommen. Die Hutzelmänner im Siebengiebelwald tragen alle für unsere nordböhmische Gegend bezeichnende Namen. Selbst der Name Hörbe ist ein bei uns geläufiger Familienname gewesen.

Ich werde auch manchmal gefragt, wie mein Räuber zum Namen Hotzenplotz gekommen ist. In einem normalen Kasperltheater, wie wir es als Kinder gespielt haben, ist der Räuber einfach nur der Räuber. Aber wenn man eine Geschichte schreibt, ist es zweckmäßig, ihn mit einem Namen zu versehen, und ich hab keinen gefunden. Da hab ich mir lange Listen mit in Frage kommenden Namen aufgeschrieben, und plötzlich war der Name Hotzenplotz da. Wir haben im mährischen Schlesien ein Flüßchen und eine Stadt Hotzenplotz. Der Name war mir in der Schule drollig vorgekommen – und paßte er nicht wie der Räuberhut auf den Räuberschädel? Auch damit habe ich ein Stück Namenstradition mit in meine Geschichte herübergenommen, wobei mir die ehemaligen Hotzenplotzer zunächst gar nicht besonders grün waren. Ich hab ihnen geantwortet: Leute meint ihr, der Name Hotzenplotz wäre jemals in Japan bekannt geworden, wenn ich ihn nicht verwendet hätte? Das hat sie überzeugt.

Nach vielen Jahren habe ich’s dann unternommen, der Liebe zu meiner Kinderheimat in dem Roman „Die Flucht nach Ägypten – königlich-böhmischer Teil“ Ausdruck zu geben. Bekanntlich hat damals, in jenen heiligen Zeiten, der Weg von Bethlehem nach Ägypten durchs Königreich Böhmen geführt. Und demzufolge hat auch die heilige Familie seinerzeit, auf der Flucht vor dem König Herodes, bei uns in Nordböhmen durchkommen müssen. Zusammen mit meiner Frau habe ich den Reiseweg vor Ort erkundet. Er führte an Reichenberg leider vorbei, was mir manche Reichenberger ein bissel übelnehmen. Aber was will man dagegen machen, es war eben so. Für mich, der ich jahrzehntelang für Kinder geschrieben hatte, war es ein Heidenspaß, jetzt mal seitenlange Sätze niederzuschreiben, in verschachtelter k.k. böhmischer Amtssprache. Dieser Roman enthält viel Persönliches, auch manches aus unserer Familiengeschichte. Er spielt um die Jahrhundertwende, zu Zeiten des k.u.k. Kaisers Franz Josef von Österreich-Ungarn, der bekanntlich auch König der k.k. böhmischen Länder gewesen ist. Im übrigen habe ich in der „Flucht“ versucht, das gutnachbarliche Zusammenleben von Deutschen und Tschechen in Nordböhmen zu schildern, die ja nicht immer miteinander verfeindet gewesen sind, weiß Gott nicht. Erst nach 1848 sind auf beiden Seiten die nationalistischen Ideen ins Unkraut geschossen, die dann letzten Endes zu erbitterter Feindschaft zwischen den Nachbarn geführt haben. Und zur Vertreibung der Sudetendeutschen. Dabei halte ich es für kein schlechtes Omen, daß „Die Flucht nach Ägypten“ vor zwei Jahren endlich auch auf tschechisch erscheinen konnte.

Weihnachtskrippen haben in unserer Kinderzeit eine große Rolle gespielt – „Der Engel mit der Pudelmütze“ ist ein Kinderbuch mit Weihnachtsgeschichten aus Nordböhmen. Auch „Herr Klingsor konnte ein bißchen zaubern“ spielt expressis verbis in Reichenberg, an der Rudolfschule, die heute noch unter dem Namen Rudolfka in Reichenberg existiert, das heute Liberec heißt und auch Liberec ist. Liberec hat mit dem alten Reichenberg ein paar Häuser gemein, Steine. Aber was unser Reichenberg ausgemacht hat, das lebt nur noch in unserer Erinnerung weiter. Von dieser Erinnerung möchte ich ganz bewußt ein bißchen Zeugnis geben.

Wenn auch nicht in erster Linie. Das erste und wichtigste sind die Geschichten, die ich erzähle und mit denen ich weiter keine Absicht verfolge als meinem verehrten Publikum Spaß zu machen. Ich bin zwanzig Jahre lang Schulmeister gewesen – ich lege Wert auf diese Bezeichnung – und habe mit Bestürzung festgestellt, wie die Kinderliteratur eines Tages wieder einmal den Regeln der Didaktik unterworfen wurde, wie jedes Buch plötzlich einen möglichst gesellschaftspolitischen Sinn haben sollte. Ich fabriziere absolut keine Heile-Welt-Literatur, aber ich bin der Meinung, Kinder leben heute in einer derart verschulten Welt, daß man sie damit verschonen sollte, auch noch die Kinderliteratur als verlängerten Arm der Schule zu mißbrauchen. Und noch eins! Kinder sind geborene Optimisten. Darf man ihnen in der Startphase des Lebens mutwillig „den Hacks legen“, wie man in Bayern sagt? Darf man ihnen unentwegt vor Augen führen, wie abgrundtief verworfen die Menschheit ist, wie miserabel die Welt? Das halte ich schlichtweg für ein Verbrechen. Es ist Mode geworden, Kindern die ungelösten Probleme der Erwachsenen aufzubürden. Was ist damit geholfen, wenn man ihnen, zum Beispiel, die Schrecknisse der Atombombe an die Wand malt, die Gefahren der Übervölkerung? Sehr viel wichtiger erscheint es mir, sie auf einem Gebiet zu aktivieren, das häufig zu kurz kommt: auf dem Gebiet der Phantasie, der kreativen Phantasie. Was wissen wir denn, was in 35, in 40 Jahren sein wird, wenn die Kinder von heute dann die Erwachsenen sind, von denen die Geschicke der Welt bestimmt werden? Ob dann die Atomenergie noch die große Rolle spielt? Ich weiß es nicht, vielleicht sind es ganz andere Probleme und Bedrohungen. Und wenn unsere Kinder dann in der Lage sind, ihre Probleme mit kreativer Phantasie anzugehen, dann sind sie mit Sicherheit in keiner ganz ausweglosen Situation.

Ich werd’s ja hier nicht mehr erleben. Aber etwas erlebe ich, und das freut mich schon sehr, daß nämlich meine Bücher, so schlicht sie sein mögen, große Wirkung haben. Die Kinder lernen beispielsweise, mit Sprache umzugehen – ich bin nicht der Meinung, daß man ihren Slang kopieren soll. Sondern ich schreibe ein bewußt klares und reines Deutsch und bin froh, wenn meine Übersetzer, die die Bücher in Fremdsprachen übertragen, dies auch für ihre Sprache übernehmen.

Eine besonders enge Verbindung haben Sie ja mit dem Tschechischen, allgemein mit dem Slawischen.

Krabat zum Beispiel ist eine Geschichte, die auf eine sorbische Volkssage zurückgeht. Und in dem Buch „Die Abenteuer des starken Wanja“ habe ich Gestalten, Namen und Motive der überlieferten russischen und ukrainischen Volksliteratur verwendet, ebenso wie in dem Bühnenstück „Der Goldene Brunnen“.

Und dann ist da natürlich noch der Kater Mikesch. Ich glaube, es war 1952, da kam eine große Kiste mit tschechischen Kinderbüchern, der Jahresproduktion des Prager Kinderbuchverlags, nach München in die Internationale Jugendbibliothek. Kein Mensch wußte irgendwas damit anzufangen, da hab ich mich erboten, die Bücher für die Bibliothek zu lektorieren, also durchzulesen. Darunter war der Kater Mikesch von Josef Lada. Der „Kocour Mikes“ hat mir sehr, sehr gut gefallen, weil das ein lustiges Buch voll kindlicher Phantasie ist. Daraufhin hat der Schweizer Verlag Sauerländer angefragt, ob ich es nicht übersetzen möchte. Ich habe mit der Arbeit begonnen – und mußte zu meiner Bestürzung feststellen, daß es mit einer wörtlichen Übersetzung hier nicht getan war. Ich mußte mir neue tschechische Namen einfallen lassen, leicht lesbar für deutsche Kinder! Ich mußte bei zahlreichen Wortspielen versuchen, eine adäquate Form im Deutschen zu finden. Schließlich galt es auch, böhmische Eigenarten „aus dem Text heraus“ zu erklären. An dieser Übertragung habe ich lang gesessen – um dabei etwas zu erfahren, was ich nie für möglich gehalten hätte: daß wir böhmischen Deutschen und unsere tschechischen Nachbarn uns sehr viel näher sind als zum Beispiel den Ostfriesen. Da sind sehr viele Dinge, die einfach auf beiden Seiten sehr, sehr ähnlich waren. Ich hab mit dem Kater Mikesch, dessen deutsche Fassung dann den Deutschen Kinderbuchpreis bekommen hat, der tschechischen Kinderliteratur nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg freigemacht nach Westen. Der Mikesch ist, bis nach Japan hin, in zahlreichen westlichen Varianten erschienen, auf der Grundlage meiner Version. Von da an interessierte man sich im Westen für die tschechische Kinderliteratur, die ja einiges zu bieten hatte. Und das rechne ich mir schon als einen kleinen Beitrag zur Völkerverständigung an.

Wie ist Ihr Verhältnis zu den Tschechen heute ?

Gibt es die Tschechen? Es gibt sie so wenig wie die Deutschen. Ich habe Dutzende von tschechischen Freunden, mit denen ich mich verstehe, mit denen ich in manchen Dingen auch nicht gleicher Meinung bin. Sie hatten wie ich gehofft, daß nach der Staatspleite – denn es war keine Revolution, es war wie in der ehemaligen DDR ein Staatsbankrott, der dazu geführt hat, daß die sozialistische Herrschaft in sich zusammengebrochen ist, jedenfalls äußerlich –, daß nun alles sich endlich in einer vernünftigen Weise regeln würde, wie es unter Nachbarn wichtig wäre. Auf der einen Seite gab es die Entschuldigungsrede von Vaclav Havel, auf der anderen Seite gab es sehr viel guten Willen bei den Sudetendeutschen. Doch dann sind auf beiden Seiten verhängnisvolle Fehler gemacht worden: Von unserer Seite kam plötzlich die Frage der materiellen Wiedergutmachung auf den Tisch anstatt nur eine moralische Wiedergutmachung zu verlangen. Hinzu kam das absolute Unverständnis der „Reichsdeutschen“ für unsere Situation, denken Sie an die Ignoranz eines Herrn Kinkel. Und auf der anderen Seite erfolgte die Weigerung, sich von den Benes-Dekreten zu distanzieren. Jener Unhold Benes, dessen blutige Vertreibungsdekrete von 1945 drüben immer noch geltendes Recht sind, ebenso wie die von ihm erlassene Amnestie für alle an Sudetendeutschen begangenen Verbrechen: jener Herr Benes erfreut sich in der Tschechei neuerdings – nicht zuletzt als Namenspatron von Straßen, Plätzen und Brücken – einer Renaissance, wie ich sie niemals für möglich gehalten hätte. Meine tschechischen Freunde sagen, ihr Volk gehe moralisch vor die Hunde, wenn es an dieser Einstellung festhalte. Da mag was dran sein.

Wir waren seit 1965 viele Male in Reichenberg zu Besuch. Das einstige Reichenberg ist für uns eine fremde Stadt geworden, eine Stadt voller fremder Menschen. Ich habe zuvor nie gewußt, wie sehr der Begriff Heimat auch mit den Menschen zu tun hat, gerade mit ihnen.

Bei einem dieser Besuche hatte ich mein Elternhaus fotografiert (Ironie der Geschichte: Gerade als sie die letzte Hypothek abbezahlt hatten, waren meine Eltern daraus vertrieben worden), – da merkte ich, daß man aufmerksam geworden war auf mich. Ich sagte auf tschechisch: Keine Sorge, ich mache nur ein paar Erinnerungsfotos, wir haben mal hier gewohnt. Dann hat man uns reingebeten auf einen Kaffee. Es war ein älteres Ehepaar. Den Kaffee haben wir aus dem Geschirr meiner Eltern getrunken. An den Wänden hingen Bilder, die mein Vater von seinen Malerfreunden geschenkt bekommen hatte, und es stand unser Klavier noch da. Wissen Sie, das war schon gespenstisch. Die guten Leute hatten offensichtlich kein so ganz großartiges Gewissen und haben uns dann noch erklärt, daß sie für 40.000 Kronen, das war damals ein Pappenstiel, das Haus mit allem Drum und Dran vom tschechoslowakischen Staat gekauft haben. Meine Frau hat das einzig Richtige getan, sie hat Bilder gezeigt von Haidholzen, wo wir jetzt wohnen. Wir sind in Frieden auseinandergegangen, und ich hab mich gewundert, wie kalt mich die ganze Geschichte gelassen hat… Wir sind mit einer merkwürdigen Distanziertheit mit der Sache umgegangen, anders hätten wir es gar nicht schaffen können.

Zusammenfassend möchte ich sagen: Meine Frau und ich, wir stammen beide aus Reichenberg in Böhmen, aus einer Stadt, die es heute so, wie sie uns lieb und teuer gewesen ist, nicht mehr gibt. Zu Hause sind wir nun hier in Haidholzen, am Rübezahlweg. Nicht umsonst hab ich mein Rübezahlbuch, das vor ein paar Jahren erschienen ist, mit der Geschichte vom Haus am Rübezahlweg enden lassen.

Was das einstige Reichenberg vom heutigen Liberec unterscheidet, lebt nur noch im Gedächtnis unserer Generation weiter. Wie tröstlich, daß es mir als Geschichtenerzähler möglich ist, von der Stadt und der Landschaft unserer deutschen Kindheit in Böhmen dann und wann Zeugnis zu geben.

Herr Prof. Preußler, ich danke Ihnen.

Hier finden Sie die offizielle Webseite von Otfried Preußler – Geschichtenerzähler,
Schulmeister und Kinderbuchautor mit vielen Informationen zu seinem Leben und Werk. https://www.preussler.de/

Nachfolgend finden Sie die aktuelle Druckausgabe der Zeitschrift wir selbst:

Die beiden Druckausgaben des Jahres 2022 unserer Zeitschrift sind auch noch erhältlich:

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