von Gerald Haertel
Oktober 1944: Die Befreiung von Nemmersdorf. Eine Comic-Besprechung
Im Herbst 1944, als eine Vorhut der Roten Armee über die ostpreußische Ortschaft Nemmersdorf herfiel, begann für Millionen Ostdeutsche das Ende ihrer mehrhundertjährigen Geschichte. Das „Massaker von Nemmerdorf“ war der grausige Vorbote von Flucht und Vertreibung, mit der im Deutschen Osten alles zerfiel in Haß, Hunger, Entwürdigung, Angst und Tod. Über 2 Millionen Deutsche Landsleute überlebten diese Katastrophe nicht.
Kann man diese schreckliche Geschichte in einem Bilderroman erzählen? Man kann. Dem Zeichner Paul Freytag und dem Autor Markus Pruss ist etwas gelungen, das in der hiesigen Comic-Landschaft ein Novum ist, und zwar die traumatische Geschichte von deutschen Opfern im 2. Weltkrieg zeichnerisch zu erzählen. Die beiden haben in Archiven intensiv zu den Vorgängen in Nemmersdorf geforscht, haben sogar noch lebende Zeitzeugen gefunden und befragt. Ohne dieses enorme Engagement für das Thema und ihre Begeisterung für eine Umsetzung in Comicform wäre dieser Band niemals Realität geworden.
Als am 21.10.1944 noch die Frühnebel über der ostpreußischen Moränenlandschaft waberten, rasselten erstmals Panzer der Roten Armee auf den Chausseen von Gumbinnen herab. An der Brücke über die Angerapp in Nemmersdorf, einem 637-Seelen-Dorf, machten sie halt, besetzten die Gemeinde und richteten unter der überraschten Bevölkerung in den nächsten 48 Stunden ein schreckliches Massaker an. Als Wehrmachtsverbände und Volkssturmeinheiten am Morgen des übernächsten Tages, und hier beginnt der Bilderroman, Nemmersdorf in verlustreichen Kämpfen zurückeroberten, bot sich den Befreiern ein Bild des Grauens. Wege und Straßen lagen voller Leichen, kein Haus und kein Hof, die nicht geplündert waren. Alle Mädchen und Frauen von 8-80 Jahren waren geschändet und mit Kopfschuß getötet worden. Insgesamt wurden 110 Personen ermordet, darunter auch französische Kriegsgefangene.

1944, Bildquelle: Bildarchiv der Kreisgemeinschaft Preußisch Eylau
Die schlimmsten Gerüchte, die einem möglichen Einmarsch der Roten Armee vorausgingen, stimmten nicht – in Wirklichkeit war alles noch viel schlimmer als befürchtet. Besonders die Vergewaltigungen deutscher Mädchen, Frauen und Greisinnen war ein furchtbares Mittel der aufgehetzten roten Soldateska, ein Mittel des Terrors, um die Überfallenen zu demoralisieren, einzuschüchtern und zu ängstigen. „Frau komm!“, dieser gefürchtete Ruf, durchzog die gesamte Geschichte des roten Einmarsches und der Vertreibung der Deutschen aus ihren angestammten Gebieten im Osten des Deutschen Reiches.
Wer allerdings in der sonst so flüchtlingsaffinen BRD dieses Grauen thematisiert, findet kein Gehör mehr im politisch-medialen Hauptstrom, er macht sich sogar verdächtig, deutsche Kriegsverbrechen zu relativieren oder Opfer gegeneinander aufzurechnen. Besonders an unseren Schulen werden die deutschen Opfer des letzten Weltkrieges systematisch ausgeblendet. Sie passen nicht zum liebgewonnenen Schuldkult, der deutschen Kindern und Jugendlichen bis zum St. Nimmerleinstag eingebläut werden soll.


Daher ist dem kleinen, aber feinen Dresdner Hydra-Verlag zu danken, daß er sich dieser Thematik gestellt hat, um es in zeitgemäßer Form, die auch die Jugend anspricht, wirkmächtig zu präsentieren. Nur Empathie und Verständnis für die eigenen Großeltern, welche Flucht und Vertreibung erleben mußten, können eine vorurteilsfreie Versöhnung über Generationsgrenzen hinweg bewirken. Der Rezensent dieser Zeilen hofft, daß dieser einzigartige Comicband ein neues Kapitel in der Verbreitung der historischen Wahrheit aufschlägt und wünscht dem Verlag, dem Zeichner und dem Autor viel Erfolg für ihr Unterfangen, deutsche Geschichte visuell und spannend für alle Generationen wieder erlebbar zu machen.
Die erste Auflage des Comicbandes „Die Befreiung von Nemmersdorf“ erschien im Februar 2023, kostet 9,90 € und trägt die ISBN 978-3-9822671-6-6. Auch eine Hardcoverversion wird vom Verlag für 19,90 € angeboten, hier lautet die ISBN 978-3-9822671-7-3. Bestellungen nimmt gerne der Hydra-Verlag entgegen, aber auch alle anderen nonkonformen Buchdienste und Buchhandlungen führen beide Versionen dieser Graphic Novel-Sensation.
Zum Abschluß möchte ich noch erwähnen, daß beiden Ausgaben ein ausführlicher Redaktionsteil angegliedert ist, in dem der Autor Markus Pruss seine Forschungsergebnisse sowie Quellen zu Nemmersdorf im Detail präsentiert. Sicherlich interessant für all jene Leser, die nach der Lektüre tiefer in die Thematik einsteigen wollen.

Gerald Haertel
Gerald Haertel ist 64 Jahre alt, gelernter Verlagsbuchhändler, war 33 Jahre in der Musikbranche tätig, u.a. bei Firmen Ariola und Virgin-Records. Lebt in Süddeutschland.
Zu diesem Thema empfehlen wir auch das Buch „Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948“ (herausgegeben von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen). Bitte hier bestellen.
Vielen Dank für den wertvollen Tip. Das Heft werde ich mir bestellen.
LikeLike