von Lothar Esser
Zeitschriftenbesprechung BAHAMAS: Ich singe aus Angst vor dem Dunkeln ein Lied Und hoffe, dass nichts geschieht.
Die 1992 als links-antideutsche Zeitschrift aus den Restbeständen des Kommunistischen Bundes (KB) hervorgegangene „Bahamas“ versteht sich heute als ideologiekritische Zeitschrift. Reaktionssitz ist seit vielen Jahren mittlerweile Berlin.
Das Cover der aktuellen Ausgabe Nr. 91 Frühjahr 2023 zeigt eine Sahra Wagenknecht, die sich auf dem Gelände der Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin an einen Baum anlehnt und sich dem Betrachter zuwendet. Das untere Fünftel der Titelseite gibt einen Vers wieder:
„Ich singe aus Angst vor dem Dunkeln ein Lied
Und hoffe, dass nichts geschieht“
Die Worte entstammen der ersten Strophe des Liedes „Ein bißchen Frieden“, mit dem die damals siebzehnjährige Nicole beim Eurovision Song Contest am 24. April 1982 im englischen Harrogate als letzte der achtzehn Teilnehmer auftrat und den Titel nach Deutschland holte. Schaut man auf Wikipedia den Texteintrag zu dem Lied nach, stößt man unter „Kritik“ auf Bemerkungen, wonach das Lied eine „für die Bundesrepublik typische, für das Ausland jedoch rätselhafte „Mischung aus romantischer Emotionalität und hysterischer Weltuntergangsstimmung“ repräsentiere. Bemerkenswert erscheint der Hinweis, dass das Lied wegen seiner ausgedrückten Hoffnung auf lediglich ein „bißchen Frieden“ von der damaligen Friedensbewegung „eher kritisch aufgenommen und bisweilen als Provokation empfunden“ worden sei.

Wie dem auch sei, das Editorial des neuen Heftes geht auf die Herkunft des Verses und die damalige Zeit der Nachrüstung mit keinem Wort ein, dafür ist Sahra Wagenknecht knapp ein Viertel des Editorials gewidmet und begegnet dem Leser später noch einmal.
Ein festes Leitthema findet man bei Bahamas nicht, dafür bietet sich dem Leser eine ohne Werbung auskommende Publikation in dreispaltigem Format in klarer analytischer Diktion.
Der Anfang Dezember publik gemachten Vereitlung eines vermeintlichen Putsches geht Sören Pünjer in „Das wirklich Beängstigende. Anmerkungen zur größten Anti-Terrorrazzia in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ nach. In seinem Resümee stellt der Autor klar heraus, dass der Glaube daran, „dass Prinz Reuß und sein Reichsbürger-Netzwerk zur großen Verschwörung gegen die FdGO in der Lage wären“ „eindeutig irrationale Züge trägt“. Vielmehr habe „der Staat mitsamt seiner PR-Abteilung gegen Rechts“ diesmal derart überzogen, dass man darauf hoffen könne, „dass dergleichen in der Bevölkerung immer weniger verfängt“. Als wirklich beängstigend empfindet Sören Pünjer die „geistige Verwandtschaft solcher Phantasien mit dem irren Verschwörungsdenken der Reuß-Truppe“.
Mit „Die Wut der Ostdeutschen. An den Protesten gegen steigende Lebenshaltungskosten im Osten ist nichts zu retten“ hat sich Autor Mario Müller die Beschreibung eines ostdeutschen Bewusstseins vorgenommen, das insbesondere auch die Sympathiebekundungen mit Russland erklären soll.
Unter Berufung auf Studien und Publikationen führt Müller an, dass die „russlandfreundlichen Einstellungen bei bekennenden Zonis“ weniger mit Propaganda von außen zu erklären seien, sondern u.a. daher herrühren, dass man von sich glaube, ein wenig die russische Seele zu verstehen. So beriefen sich viele auf Brieffreundschaften, Schüleraustausche oder Reisen. Das findet der Autor dann allerdings seltsam und spricht von einer „Verklärung der Geschichte“: „Denn die SED-Propaganda musste die Sowjetunion und deren Truppen, welche nach dem Sieg über Deutschland 1945 auf dem Gebiet der SBZ und der DDR stationiert waren, der Bevölkerung als Befreier vom Faschismus erst schmackhaft machen.“Später – so Müller unter Angabe einer Darstellung bei rnd – RedaktionsNetzwerkDeutschland – habe sich das „Bild der Russen vom einstigen ungeliebten Besatzer zum Schicksalsgefährten gewandelt. Ostdeutsche hätten die „nunmehr abgezogenen Russen als heimliche Verbündete“ entdeckt. Der neue Feind sei nun „der arrogante, ignorante Wessi“ geworden. Im weiteren beschreibt Müller das Vorhandensein einer Art Gegenprinzip zu Westdeutschland, wenn er feststellt: „Dieser Ostkult kann keineswegs nur als ein folkloristisches Phänomen betrachtet werden und insbesondere die als Sozialproteste deklarierten Montagsdemonstrationen stehen exemplarisch dafür, dass das Beitrittsgebiet nach wie vor als Sonderbewusstseinszone angesehen werden muss.“
Diesen Zustand bewertet der Autor als „alles andere als harmlos“ und spricht hierbei sogar von „ostdeutscher Ideologie“. Die Hinwendung zu Russland sieht er als Ergebnis eines Ausfalls des Denkens. Eine Kritik an Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion vermisst er. Sahra Wagenknecht, die Müller schon zu Beginn „ohne Übertreibung als die ideale Gesamtostdeutsche“ tituliert hat, hätten sich die „Berufsossis als ihr Sprachrohr“ erwählt. Wagenknechts „Injektiven gegen die Grünen…und Lifestyle-Linken sowie ihre sozialpolitischen Forderungen“ schienen anschlussfähig zu sein.
In „Früher war er einfach unser Präsident, jetzt ist er unser Führer. Aus der Geschichte lernen – Russland““ gibt Autor Karl Nele eine Darstellung dessen, was das offizielle Russland ausmacht. Entlang der Teilüberschriften „Tatkraft, Mitgefühl und Härte“, „Die Ordnungsmacht“, „Im Spinnennetz“, „Krieg und Frieden“, „Aufbruch in die neue Zeit“, „Russland liebt die Freiheit nicht“ und „Der Glaube unserer Väter“ vermittelt der Autor in einem wohltuend sachlichen und unaufgeregtem Ton einen Überblick über das offizielle politische Handeln Russlands. Schon am Anfang des Artikels vermittelt er ein klares Bild des Russischen Präsidenten:
„[Putin] organisiert die Zustimmung zum Führer, der in vielen Verkleidungen Tatkraft, Mitgefühl und Härte zur Schau stellt, – immer in russländischer Tradition und Geschichte geerdet. Diesem System liegt ein ethnonationalistisches Verständnis russischer Werte im Gegensatz zu einem staatsbürgerlichen Selbstverständnis mit individuellen Rechten zu Grunde“. Nele gibt auch ein Aussage des russischen Präsidenten aus dem Jahre 1999 wieder, wonach die Russen im starken Staat keine Anomalie, nicht etwas, das man bekämpfen sollte, sähen.
Weitere Beiträge beschäftigen sich mit folgenden Themen:
- „Mahsa Amini aufs Grab gespuckt. Wie der Diversity-Diskurs das Kopftuch zum
feministischen Symbol umlügt“ - „Seinen eigenen Sinnen trauen, die Katastrophe wahrnehmen. Deutsche Linke erleben den Zivilisationsbruch und landen bei RAF und Lebensreform“
- „Deutsche Staatsräson: Vereint gegen rechte Juden. Wie die neue israelische Regierung als deutsche Projektionsfläche dient“
- „ Wir können unsere kulturelle Vergangenheit nicht rückwirkend umerziehen. Wie der
antisemitische Scharfmacher Hugo Ball dem nationalen Erbe zugeschlagen wird“ - „Vom Charakter der iranischen Proteste. Wie die islamische Republik wurde, was sie heute ist“
- „Das Land der aufgezwungenen Religion.Warum der Iran nie vollständig islamisiert werden konnte und nicht laizistisch wurde“
- „Versuch unserer Auslöschung. Genderideologen begreifen Transfeindlichkeit als
genozidales Verbrechen“ - „Rassismus gegen die Menschlichkeit. Vom Holocaust zum Völkermord ohne Tote“ über die im Oktober fast unbemerkt beschlossene Ausweitung des Volksverhetzungsparagraphen 130 des Strafgesetzbuches
Abgerundet wird das Heft mit dem Artikel „Ihr Beitrag zur Revolte“ Auf der Internetseite des Magazins heißt es hierzu: „Die Verleihung des Literaturnobelpreises an Annie Ernaux und Ihr Beitrag zur Revolte ist Justus Wertmüller Anlass, ihr Werk zu begutachten. Warum er Ernaux eine Betriebsnudel der frankophonen Literatur nennt.“
Bahamas erscheint zwei- bis dreimal jährlich. „Bahamas“ zu lesen kann durchaus immer wieder anregend sein, auch wenn man nicht mit allem einverstanden sein muß.
Kontakt: Redaktion Bahamas, Postfach 30 42 14, 10 757 Berlin, Einzelheft 6 Euro, Jahresabo 18 Euro. https://redaktion-bahamas.org