von Dr. Christian Böttger
Der Weg der Rußlanddeutschen von einer ethnischen Gruppierung zu einer nationalen Minderheit
Eine wichtige Grundfrage bei der Einwanderung von Angehörigen einer bestimmten ethnischen Gemeinschaft in das Gebiet eines anderen Ethnos ist die, ob die Einwanderer von dem dominierenden Ethnos assimiliert werden, oder ob es ihnen gelingt, sich nach Annahme der neuen Staatsbürgerschaft als nationale Minderheit zu etablieren. Diese Frage hat gegenwärtig insbesondere im Hinblick auf die immer wieder erhobene Forderung nach einer doppelten Staatsbürgerschaft für Einwanderergruppen an Relevanz gewonnen. Der historische Vergleich kann hier wesentliche Denkanstöße vermitteln und schließlich Klarheit auf diesem hoch sensiblem politischen Problemfeld schaffen.
Im Zusammenhang mit der Ansiedlung von Deutschen in Rußland, die nach 1871 in das Spannungsfeld von Autonomiebestrebungen und Russifizierung gerieten, drängt sich diese Frage förmlich auf. Vorab soll schon verraten werden, daß es hier bis zum Ende des Ersten Weltkrieges nicht zu einer vollständigen Integration in die russische Gesellschaft und schon gar nicht zu einer anschließenden Assimilation durch das russische Ethnos gekommen ist.
Aber warum war das so? Schließlich hatten sich im 19. Jh. die deutschen Einwanderer in Amerika auch zum größten Teil schon nach wenigen Generationen assimiliert. Die Hugenotten in Deutschland benötigten ebenfalls nur wenige Generationen, um ein fester Bestandteil des deutschen Volkes zu werden.
Ausschlaggebend für das Gelingen ethnischer Integrations- und Assimilationsprozesse sind offenbar ganz bestimmte Bedingungen und Faktoren, die derartige Prozesse beschleunigen, verlangsamen oder gar verhindern. Dazu gehört zunächst Siedlungsform der Einwanderer, d. h. die Art und Weise, wie die Ansiedlung organisiert wird.
Die Integration der deutschen Einwanderer in das Zarenreich war vom Beginn der Kolonisation an so angelegt worden, daß die Kolonisten ihre eigene ethnische Entwicklung nehmen konnten. Die Siedlungsweise der Rußlanddeutschen war durch die Möglichkeit eines kompakten Siedelns gekennzeichnet – wenn auch in ganz verschiedenen Gegenden des riesigen russischen Reiches. Damit wurde beabsichtigt, ihnen die Furcht vor der fremden Umgebung zu nehmen und somit die gesellschaftliche Integration in ihre neue Umgebung zu erleichtern.

Die kompakte Siedlungsform resultierte auch aus den Motiven für die Anwerbung. In Rußland waren die Herrscher vor allem daran interessiert, ausländische Kolonisten zu gewinnen, um die gegen Ende des 18. Jahrhunderts erworbenen fast unbesiedelten Grenzregionen zu bevölkern und die Landeskultur allmählich den mittel- und westeuropäischen Verhältnissen anzugleichen. Auf russische Bauern stießen die deutschen Siedler dabei vorerst kaum.
Eine weitere Besonderheit der deutschen Siedlungskomplexe war das System der Selbstverwaltung. Es war sehr wesentlich an der Herausbildung eines Sonderbewußtseins bei den deutschen Kolonisten beteiligt. Bereits das von Katharina II. im Jahre 1763 erlassene Manifest sicherte den einwanderungswilligen Kolonisten das Recht auf Selbstverwaltung zu.
Ein wichtiges Element dieses Systems war die Gemeindeversammlung als beschlußfassendes Organ. Jeder Hof hatte einen Vertreter dahin zu entsenden. Die Gemeindeversammlung wählte den Dorfschulzen und zwei Beisitzer. Sie bildeten das Dorfamt. Die Landgemeinden waren zu Kolonistenbezirken mit jeweils einem Bezirksamt zusammengefaßt, das aus dem Oberschulzen und zwei Beisitzern bestand. Die Bezirksverwaltung unterstand dem für ausländische Ansiedler zuständigen Fürsorgekontor. Dieses wurde 1766 in Saratow gebildet. Es hatte die Selbstverwaltung der Kolonisten zu überwachen, das Wirtschaftsleben zu regeln und das Rechtswesen zu organisieren.
Auch für das Schwarzmeergebiet war ein Fürsorgekontor zuständig, das im Jahre 1800 in Jekaterinoslaw (sowj. Dnjepropetrowsk, 2016 Dnipro) gegründet wurde.
Um die weiteren Integrationsbedingungen zu ergründen müssen wir versuchen, verschiedene Sphären des gesellschaftlichen Lebens der Rußlanddeutschen dahingehend zu untersuchen, ob sie für die Veränderungen im System ethnischer Merkmale von Bedeutung gewesen sind. Dazu sind einerseits die wesentlichen Grundzüge der Kultur und Lebensweise einer näheren Betrachtung zu unterziehen sowie andererseits die politische Einflußnahme darauf zu untersuchen.
Was den ganzen Bereich der materiellen Kultur betrifft, so kann man feststellen, daß es bei den Kolonisten zur Übernahme und Einschmelzung von Kulturgut ihrer Umgebung und zur Schaffung von sinnvollen und zweckentsprechenden Mischformen kam. Für die Anlage der Kolonistenhöfe und die Architektur der Bauernhäuser z. B. waren für die einwandernden Kolonisten in der Regel nämlich nicht ihre Herkunftsgebiete, sondern vor allem das Gelände des zu besiedelnden Gebietes mit seinen entsprechenden geographischen Bedingungen und das dort zur Verfügung stehende, lokal vorherrschende Baumaterial entscheidend.
Die Haus- und Hofformen der Rußlanddeutschen (1), die sich von denen ihrer slawischen und tatarischen Umgebung wesentlich unterschieden, unterlagen allerdings einem ständigen Entwicklungsprozeß. Indem die Kolonisten das Kulturgut ihrer jeweiligen Herkunft mit slawischem durchsetzten und sinnvolle, zweckentsprechende, dem Klima angemessene und der Landschaft gemäße Mischformen schufen, wurden sie zu schöpferischen Gestaltern dieses Entwicklungsprozesses.

Das trifft besonders auf das Wolgagebiet zu. Die Höfe und Bauwerke weisen hier auf den ersten Blick nur wenige an die alte Heimat erinnernde Züge auf. Die Grundrisse der Häuser, die Architektur, das Schnitzwerk an den Fenstern und Giebeln müssen vorwiegend als Ergebnis einer slawischen und klimatischen Umweltbeeinflussung betrachtet werden. Sogar die Schmuckelemente des Hauses waren schon stärker durch die russische Volkskunst beeinflußt. Der Wolgadeutsche Pfannenofen, der aus einer Umgestaltung des slawischen Ofens hervorgegangen ist, kann als Eigenleistung der Wolgadeutschen betrachtet werden. Er war Heiz- und Kochofen zugleich, wobei die angrenzenden Zimmer von der Küche aus beheizt wurden. Diese „Hinterladereigenschaft“ stammte noch aus der alten Heimat.
Im Schwarzmeergebiet hatten sich die hier angesiedelten Mennoniten hinsichtlich der Haus- und Hofformen stärker an ihre alte Heimat angelehnt und errichteten ihre Häuser oft nach der dort üblichen Bauart. Aus der alten Heimat kamen auch das hohe steile Dach und die besonders gut ausgeprägten Scheunen. Auch die Schmuckelemente wie z. B. die Pferdeköpfe, die man häufig auf den Dächern sehen konnte, waren stärker von der alten westpreußischen Heimat beeinflußt.

Abb. 3 Kolonistenhof in Rückenau im Molotschnaer Mennonitengebiet, Taurien (Südrußland), Anfang des 20. Jh.
Wesentlich differenzierter und komplizierter gestaltete sich der Bereich der geistigen Kultur. Zunächst gilt es dabei das kirchlich-religiöse Leben der Deutschen in Rußland einer näheren Betrachtung zu unterziehen. (2) Dem religiösen Bekenntnis nach gehörten die eingewanderten Kolonisten zu 75% der evangelischen und zu 13% der katholischen Kirche an. Knapp 4% waren Mennoniten. Die beiden großen christlichen Konfessionen, die von den Rußlanddeutschen getragen wurden, vermittelten nicht nur permanente Beziehungen zum Mutterland, sondern schufen auch mit ihren jeweiligen Kirchenorganisationen die organisatorischen Entwicklungsrahmen für die zwar hier und da kompakt siedelnde, aber dennoch über das ganze Land verteilt lebende ethnische Gemeinschaft der Rußlanddeutschen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß es auch gerade Repräsentanten der evangelischen und katholischen Kirche waren, die bei dem großen politisch-organisatorischen Vereinigungswerk der Deutschen in Rußland im Jahre 1917 eine führende Rolle spielten. Hervorzuheben sind hier solche Persönlichkeiten wie z. B. der ev. Pastor Jakob Stach (1865 – 1944), der Vikar und spätere Professor für katholische Religion Johannes Ehresmann (1882 – 1954) und der ev. Pastor Daniel Steinwand (1857 – 1919).
Die sich noch in der ersten Hälfte des 19. Jh. herausbildenden Kirchenorganisationen und -ordnungen der lutherischen und katholischen Kirche müssen deshalb als ein Teil eines überregionalen institutionellen Beziehungsgefüges der Rußlanddeutschen aufgefaßt werden. Sie übten in ihrer Rahmenfunktion einen großen Einfluß auf die Entwicklung der Rußlanddeutschen von einer eher diffusen ethnischen Gruppierung von ganz unterschiedlicher deutscher Herkunft hin zu einer nationalen Minderheit mit politischem Anspruch aus.

Abb. 4 Kirche in Eugenfeld im Schwarzmeergebiet (Südrußland)
Untrennbar verbunden mit dem kirchlichen Leben in den Kolonien war ihr Bildungswesen. Es kann ebenso wie ihre Agrarordnung, ihr Verwaltungswesen oder ihre Kirchenorganisationen als ein fester Bestandteil der nur für sie geltenden „eigenen Ordnung“ gewertet werden. Das Schulwesen, das eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg und die wirtschaftliche Leistungskraft der Deutschen in Rußland darstellte, sollte deshalb auch gegen Ende des 19. Jh. in besonders harter Weise der Russifizierungspolitik ausgesetzt sein. Bis zur Aufhebung der Selbstverwaltung waren die Schulen in den deutschen Gemeinden praktisch Kirchenschulen. Träger dieser Schulen waren die Gemeinden. Dennoch haben diese Schulen viel geleistet. Während im übrigen Rußland 1897 noch 78 % der Bevölkerung aus Analphabeten bestand, konnte in den deutschen Gemeinden ein wesentlich höherer Anteil als bei den Russen (deutsch) lesen und schreiben.
Es war vor allem das deutsche Schulwesen, das neben dem Elternhaus und der Kirche bei der Erhaltung und Pflege der deutschen Sprache, der Weitergabe von deutschen Sitten und Bräuchen sowie der Vermittlung überlieferter Wertvorstellungen eine ganz zentrale Rolle spielte, womit eine stabilisierend wirkende Einflußnahme auf die ethnische Identität einherging. Diese Rolle gilt insbesondere im Hinblick auf die Muttersprache der deutschen Kolonisten.
Über eine gemeinsame Muttersprache erfolgt in der Regel die kulturelle Einbeziehung der Individuen in eine ethnische Gemeinschaft. Auch bei den Rußlanddeutschen wurde innerhalb der Familien und der Siedlungen die deutsche Muttersprache gepflegt. Allerdings darf man sich dabei nicht von der Vorstellung leiten lassen, daß die Rußlanddeutschen im 18. und 19. Jh. im alltäglichen Leben über eine gemeinsame hochdeutsche Standardsprache verfügt hätten. Für die deutschen Kolonisten waren die Mundarten für das gegenseitige Verstehen ausreichend. Dieser Sachverhalt ist für viele ländlichen Gebiete Deutschlands in diesem Zeitraum allerdings ebenfalls zutreffend.
Mit der Entwicklung des Schulwesens aber verbreitete sich ebenfalls die hochdeutsche Sprache. Sie wurde vor allem auch durch Predigten, Bibeln und Gesangbücher vermittelt und lag in den Händen des Pfarrers oder des Küsterlehrers. Dabei war die ihre Beherrschung (Lese- und Schreibfähigkeit) in hohem Maße vom Herkunftsgebiet der Auswanderer abhängig, da auch die Schulausbildung (Schulpflicht) in den deutschen Ländern große regionale Unterschiede aufwies.
Regelmäßige Sprachkontakte zur russischen Bevölkerung gab es natürlich verstärkt nur in den Städten (z. B. in Saratow). Bei der deutschen Dorfbevölkerung darf unterstellt werden, daß die Mehrzahl dieser Kolonisten bis weit in das 19. Jahrhundert hinein des Russischen nicht mächtig war. Nach 1871 (Zeitpunkt der russischen Reformen und der Russifizierung) erfolgte eine Integration der Deutschen in die russische Verwaltung. Durch Schule, Schulwesen, Militär und Verwaltung nahm der russische Sprachgebrauch der Deutschen im Außenverhältnis immer mehr zu. Aber auch im Binnenverhältnis drang infolge von Militärdienst, Krieg und Revolution das Russische verstärkt ein. Im Sprachgebrauch der Wolgakolonien bis 1914 wurden im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit ca. 800 Entlehnungen aus dem Russischen nachgewiesen. Es hatte auch eine Russifizierung der Vornamen und Verwendung der ans Russische angepaßten Vatersnamen stattgefunden. Das Russische besaß in dieser Zeit bereits ein hohes Sozialprestige, da es von sozial höheren Schichten (Gebildeten) verwendet wurde und entsprechende Wirkungen auf die übrige Dorfbevölkerung ausübte. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde die deutsche Sprache in der Öffentlichkeit verboten. Das betraf insbesondere die deutschen Schulen und Kirchen in Südrußland. (3) Teilweise sind deutsche Schulen im Schwarzmeerraum auch geschlossen worden. Gleiche Vorgänge sind für die Wolgakolonien allerdings nicht belegt. Erst das Dekret über die Nationalitätenrechte der Völker Rußlands von 1917 erlaubte erneut den deutschsprachigen Unterricht an deutschen Schulen.
Bis zur Machtergreifung der Bolschewiki spielte sich das Leben in den deutschen Kolonien in überlieferten Ordnungen ab, zu deren wichtigsten Elementen die Sitten und Bräuche gehörten. Soziale Unterschiede beeinträchtigten diese Form des Zusammenlebens noch nicht wesentlich, da die soziale Differenzierung noch nicht weit genug fortgeschritten war und ein einheitliches Leitbild das Leben der Kolonisten bestimmte.
Die Bräuche der deutschen Kolonisten in Rußland (4), die überwiegend aus der alten Heimat stammten, hatten aber nicht nur eine die Dorfgemeinschaft reproduzierende und stabilisierende Funktion. Darüber hinaus trugen sie im Rahmen eines Kontrastbewußtseins (zu den Russen) sehr wesentlich zur Entstehung eines ethnischen Selbstbewußtseins als Rußlanddeutsche bei, das die Grenzen der Dorfgemeinschaft überschritt. Das gilt insbesondere für die Spezifik des deutschen Weihnachtsbrauchtums, feiert der Deutsche doch überall auf der Welt drei Tage Weihnachten und zu einem anderen Zeitpunkt als der russische Nachbar. Erst nach der 1941 erfolgten Deportation und der daraus resultierenden Zerstreuung der Rußlanddeutschen war das Dorfleben in den überlieferten Ordnungen nicht mehr möglich. Damit war dieser ethnischen Gemeinschaft die wichtigste Grundlage ihrer Existenz und Reproduktion weitgehend entzogen.
Zu den Besonderheiten im ethnisch-kulturellen Leben der Rußlanddeutschen gehörten die sich allmählich etablierenden deutschen Presseerzeugnisse (5) und die deutschen Vereinsbildungen. An diesen insbesondere vom städtischen Raum ausgehenden gesellschaftlichen Aktivitäten läßt sich der Übergang der deutschen Kolonisten von einer diffusen ethnischen Gruppierung zu einer nationalen Minderheit gut nachverfolgen. Sie haben bei den Rußlanddeutschen den national-kulturellen Konsolidierungsprozeß sehr wesentlich vorangetrieben. Pressewesen und Vereinsbildungen leisteten neben der Kirche und der Schule einen wesentlichen Beitrag zur Herausbildung eines die einzelnen Kolonien übergreifenden ethnisch-kulturellen Bewußtseins, das nun nicht mehr nur in Form eines ausschließlich im regionalen Rahmen auftretenden Kontrastbewußtseins existierte. Besonders die Presseerzeugnisse müssen hier hervorgehoben werden, da sie als in Hochdeutsch gedruckte Kommunikationsmittel einen das ganze Land übergreifenden Charakter annehmen konnten. Sie formten unter den deutschen Ansiedlern sehr wesentlich das Bewußtsein, einer gemeinsamen Nationalität anzugehören. (6) Wichtige Presseerzeugnisse waren die St. Petersburger Zeitung (1727), das Unterhaltungsblatt für deutsche Ansiedler im südlichen Rußland (1846), die Odessaer Zeitung (1863), Der Botschafter (Berdjansk im Schwarzmeergebiet), Christlicher Volksbote (1868 in Odessa), Der Friedensbote (1884 in Beideck im Wolgagebiet), Die Friedensstimme (1903 in Halbstatt im Schwarzmeergebiet), die Deutsche Rundschau (1906 in Odessa), die Saratower Deutsche Zeitung (1766, Neugründung 1906 mit Beilagen), die Kaukasische Post (1906 in Tiflis), Der Kolonist (Katharinenstadt im Wolgagebiet), Der Sibirische Bote (1917 in Omsk), Der Landwirt (vor 1914 in Eugenfeld im Schwarzmeergebiet mit mehreren Beilagen). Neben den Zeitschriften wurden auch zahlreiche Kalender herausgegeben, die zahlreiche Daten zu den Kolonien veröffentlichten.
Das deutsche Vereinsleben in Rußland entstand gegen Ende des 19. Jh. In den Zentren der städtischen Deutschen hatten bereits ab Mitte des 19. Jh. deutsche Vereine (Wohlfahrts- und Sportvereine) und Clubs bestanden. Ihre Aufgaben sahen diese Vereine in der Förderung einer sinnvollen Freizeitgestaltung durch gesellige Zusammenkünfte mit musikalischen und dramatischen Aufführungen, lehrreichen Vorträgen und sportlichen Übungen. Darüber hinaus sollten durch die Gründung einer Armen-Kasse hilfsbedürftige Vereinsmitglieder unterstützt werden. Konkret wurde diese umfassende Zielstellung durch die Gründung von Gesangsvereinen, Frauenvereinen, Laienchören und -theatern usw. sowohl in den großen Städten, wo Deutsche lebten, wie Odessa, Saratow, Baku, Slawogorod, Tiflis, Petersburg, Moskau, als auch in den Kolonien verwirklicht. Einer der bekanntesten Vereine war der Südrussische Deutsche Bildungsverein, der 1905 in Odessa entstand. (7) Ein anderer Verein war der Deutsche Verein in Saratow (Wolgagebiet). Er ging um 1906 aus dem Leserkreis der Saratower Deutschen Zeitung hervor.
Eine herausragende Bedeutung erlangten die deutschen Vereine in den baltischen Gouvernements. Sie waren nicht nur zahlenmäßig stark, sondern hatten auch im deutschbaltischen Adel die meisten Fürsprecher und Geldgeber. Im Gegensatz zu den anderen Gebieten Rußlands war der Inhalt ihrer Tätigkeit von einer stärkeren Bindung zum deutschen Reich gekennzeichnet. So existierten hier auch gute Beziehungen nach Berlin zum Alldeutschen Verband, der in Riga und Reval (heute Tallinn) bereits über Ortsgruppen verfügte.
Ausschlaggebend für die vermehrte Gründung deutscher Vereine im Schwarzmeer- und Wolgagebiet war das Manifest von Zar Nikolaus II. vom 17. Oktober 1905. Es gewährte politische Freiheiten, verkündete die Unantastbarkeit der Person und die Einberufung von Wahlen für die gesetzgebende Duma.
Nicht unberücksichtigt lassen darf man die politischen Faktoren, die bei der Formung der Deutschen als nationale Minderheit eine Rolle spielten. Die ab 1871 einsetzende Russifizierungspolitik des zaristischen Systems scheint auf den ersten Blick die Möglichkeiten einer Eigenentwicklung des kulturellen Lebens der Rußlanddeutschen wesentlich eingeschränkt, ja in der Endkonsequenz auf eine ethnische Assimilation hingewirkt zu haben. Tatsächlich führte der forcierte Integrationsdruck aber zu einer stärkeren Bewußtwerdung der eigenen Lage und ließ die Probleme der verschiedenen sozialen und regionalen Gruppen der Rußlanddeutschen als gemeinsame Probleme erkennen. Besonders während des Ersten Weltkrieges erreichten die Repressalien gegen die deutsche Minderheit ihren schmerzlichen Höhepunkt. Sie machten vielen Deutschen, selbst den sprachlich und kulturell bereits durch das russische Ethnos teilweise assimilierten Stadtdeutschen, ihre Lage erst richtig bewußt. (8)
Die bürgerliche Februarrevolution 1917 in Rußland ließ auch bei den Rußlanddeutschen Hoffnungen auf eine Verbesserung ihrer Lage aufkommen. Die neue provisorische Regierung unter Kerenski verkündete mit ihrem „Freiheitsdekret“ vom 20. März 1917 die Menschenrechte. Demnach sollten sich in Zukunft alle Völker Rußlands in voller Gleichberechtigung entwickeln. Für die Rußlanddeutschen ging es in diesem Zusammenhang vor allem um eine Rücknahme der Liquidationsgesetze (Enteignungen) und um die Wiedereinführung der deutschen Sprache als Amts- und Unterrichtssprache sowie als Sprache des Gottesdienstes in den deutschen Gemeinden. Die Notwendigkeit einer politischen Vertretung wurde offensichtlich. Selbst bei vielen städtischen Deutschen, die sich bereits auf dem Weg zur Assimilation befanden und kaum noch deutsch sprachen, machte sich ein Trend zur „Re-Ethnisierung“ bemerkbar. Die Behandlung, die diese schon stärker in die russische Gesellschaft integrierten und fast schon assimilierten Deutschen erfahren hatten, veranlaßte sie, sich an den Vereinigungsbestrebungen der deutschen Kolonisten zu beteiligen.
Und genau hierin unterscheiden sich die Rußlanddeutschen von den deutschen Einwanderern, die überwiegend im 19. Jh. in die USA eingewandert waren. Auch diese Amerikaner deutscher Herkunft waren während der Zeit des ersten Weltkrieges einem deutschen Sprachverbot an ihren Schulen ausgesetzt. „Die den Kriegseintritt der USA begleitende Loyalitätshysterie“ hatte dann zu einem „beschleunigten Ende des organisierten Deutschamerikanertums“ geführt. (9) Während sich aber in den USA die 1914 einsetzende Unterdrückung der deutschen Sprache und Kultur nach Beendigung des Krieges in Form einer Selbstverleugnung der deutschen Einwanderer fortsetzte, gestalteten sich die Voraussetzungen für die ethnische Entwicklung in Rußland mit dem nach der Februarrevolution 1917 hier hereinbrechenden Völkerfrühling völlig anders. Die Nachfahren ethnisch eher diffuser Einwanderergruppen aus dem Mitteleuropa des 18. und 19. Jh. konnten sich unter den hier aufgezeigten spezifischen und im Komplex wirkenden historischen Bedingungen zu einer nationalen Minderheit entwickeln, die nun ihre Rechte anzumelden begann.

Abb. 5 Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in Odessa
Zu einer ersten Zusammenkunft kam es am 18. März 1917 in Odessa. Hier wurde ein Organisationskomitee gegründet, das die Einberufung eines Allrussischen Kongresses der russischen Deutschen vorbereiten sollte. Dabei ging es vor allem darum, die Wahlen für die Gebietsbevollmächtigten für diesen Kongreß anzustoßen.
Vom 14. – 16. Mai 1917 kam dann dieser erste Kongreß rußlanddeutscher Kolonisten in Odessa zusammen. (10) Unter den Anwesenden in waren nicht nur Vertreter der Kolonien aus dem Gebiet Odessa gekommen, sondern aus dem ganzen ehemaligen Gouvernement Cherson sowie aus Bessarabien, Taurien u. a. Gouvernements. Etwa 2.000 Menschen versammelten sich im bekannten Zirkusbau der Stadt. Als Höhepunkt der Veranstaltung war der Besuch des Ministerpräsidenten Kerenski vorgesehen. Die Kolonisten erwarteten von ihm bei dieser Gelegenheit die Bekanntgabe der Rücknahme der Enteignungsgesetze. Kerenski blieb jedoch dem Kongreß fern, was eine große Enttäuschung hervorrief. Auf dem Kongreß wurde beschlossen, einen Verband zu gründen, um die Interessen der Kolonisten legal wahrnehmen zu können. Auf diese Weise entstand ein Verband der Südrussischen deutschen Kolonisten. Seine Verwaltungsspitze war das vom 1. – 3. August 1917 auf einem weiteren Allrussischen Delegiertenkongreß in Odessa gebildete Zentralkomitee. Nach der Oktoberrevolution mußte der Verband seine Arbeit einstellen.
Neben dieser südrussischen Gruppe, die unmißverständlich den Führungsanspruch unter den Rußlanddeutschen anmeldete, trat bereits im April eine Moskauer Gruppe um den namhaften Vorkämpfer für die Rechte der Rußlanddeutschen, Prof. Karl Lindemann (1847 – 1928), in Erscheinung.

Abb. 6 Prof. Karl Lindemann
Die von dieser Gruppe organisierte erste überregionale Versammlung von Rußlanddeutschen nach dem Sturz des Zaren fand vom 20. bis 22. April 1917 in Moskau statt. An diesem „Allrussischen Kongreß der russischen Bürger deutscher Nationalität“ nahmen allerdings nur 86 Vertreter aus 15 Gouvernements teil. Zum Vorsitzenden wählten die Deligierten Karl E. Lindemann. Die hier tonangebenden Persönlichkeiten waren geprägt vom Einfluß der russischen Kriegsgesetze und strebten überwiegend eine zentralisierte Zusammenfassung der Deutschen in Rußland an. Zu Vertretern dieser Richtung gehörten auch der Sprecher der Kaukasusdeutschen, Theodor Hummel (1869 – 1944), sowie der protestantische Pastor Johannes Schleuning (1879 – 1961) aus dem Wolgagebiet. (11)

Abb. 7 Johannes Schleuning als Student in Dorpat
Zu den Ergebnissen dieser Zusammenkunft gehörte die Wahl eines „Zeitweiligen Komitees zur Vertretung der Interessen der russischen Bürger deutscher Nationalität“. (12) Für den Sitz dieses Komitees war Petersburg vorgesehen. Es sollte so lange bestehen, bis ein Allrussisches Zentralkomitee der Bürger deutscher Nationalität gebildet werden würde.
Zu kulturellen Autonomiebestrebungen von den Angehörigen der deutschen Minderheit kam es auch in Sibirien. (13) Auf einer Versammlung, die am 17. Mai 1917 in Slawgorod stattfand, wurde von 1.500 Vertretern der evangelischen, katholischen und mennonitischen Kolonisten die Gründung eines „Deutschen Komitees“ mit Sitz in Omsk vorbereitet. Ihm sollten je drei Vertreter der evangelischen, katholischen und mennonitischen Bevölkerung des Altais und des Omsker Gebietes angehören. Es repräsentierte alle Deutschen Sibiriens und Mittelasiens. An der Gewinnung der Sibiriendeutschen für das Komitee hatte die Zeitung „Der Sibirische Bote“ einen großen Anteil.
Die Aufgabe des Komitees bestand darin, die Sibiriendeutschen in ein Verhältnis zur deutschen Frage in Rußland insgesamt zu setzen. Es entsandte deshalb einen Abgeordneten in das gleichzeitig entstandene Deutsche Zentralkomitee in St. Petersburg. Ein Kernstück der Arbeit des Komitees war die Ausarbeitung einer Verfassung für eine exterritoriale „personell-kulturelle“ Autonomie“ für die Rußlanddeutschen. Diese Verfassung sollte auf einer bevorstehenden allrussischen konstituierenden Versammlung vertreten werden.
Interessant ist auch die Entwicklung in den Wolgakolonien, da hier ein größeres zusammenhängendes Siedlungsgebiet vorlag, das eine territoriale Autonomie ermöglichte. Zu einer Versammlung der Kreisbevollmächtigten der Wolgakolonien kam es vom 25. – 27. April 1917 in Saratow. (14) Daran nahmen 386 Vertretern der ländlichen Kolonisten und der wolgadeutschen Intelligenz sowie etwa 1.000 Gäste teil. Die Versammlung war vom Zeitweiligen Deutschen Komitee in Saratow einberufen worden, das aus einem schon im Februar 1917 gebildeten Büro von Kolonistensöhnen hervorgegangen war. Bei dieser Zusammenkunft traten erstmalig auch sozialistisch orientierte Vertreter von Arbeitern und Lehrern mit einer teilweise internationalistischen Tendenz auf, deren Stellungnahmen jedoch von der Mehrheit der Versammlung abgewehrt wurden.
Die Ziele der Zusammenkunft bestanden in der Analyse der politischen Situation, der Erarbeitung erster politischer Stellungnahmen und der Schaffung einer Basis für eine feste Organisation der Wolgadeutschen. Als wichtigstes Ergebnis kann die Wahl eines Zentralkomitees der deutschen Wolgakolonisten mit Sitz in Saratow genannt werden. Es hatte die Aufgabe, die „Gemeinsamkeit der materiellen wie der geistigen Interessen aller Deutschen“ an der Wolga zu repräsentieren. Außerdem war das Komitee für die Gründung von Gemeinschaftseinrichtungen der Kolonisten, wie Genossenschaften, Kreditanstalten usw., zuständig. Ein Hauptbüro des ZK sollte in Saratow eröffnet werden, das Kontakte zu anderen deutschen Gruppen aufzubauen hatte.
Auf einem zweiten Kongreß der Wolgakolonisten, der im September 1917 im Dorf Schilling stattfand, wurde bereits die Forderung nach einer eigenen föderativen Republik der Wolgadeutschen aufgestellt. (15) Auf dieser Veranstaltung waren bereits die Anhänger des Bundes deutscher Sozialisten stark vertreten. Dieser Bund, der sich aus Lehrern, anderen Intellektuellen und Arbeitern aus Katharinenstadt und Umgebung zusammensetzte, hatte sich 1917 im Wolgagebiet gebildet. Nach der Machtergreifung der Bolschewiki Ende 1917 büßte das Wolgadeutsche Zentralkomitee seine bisherige Bedeutung ein. Die weitere Entwicklung der Rußlanddeutschen insgesamt, wurde von nun an durch die zentralen Vorgaben der Bolschewiki bestimmt.
Bei der eingangs gestellten Frage nach den Ursachen für die Entwicklung der Rußlanddeutschen von einer eher diffusen ethnischen Gruppierung verschiedener deutscher Herkunft hin zu einer nationalen Minderheit mit politischem Anspruch, sind im Rahmen dieses Beitrages mehrere Faktoren sichtbar geworden. Als wesentliche Voraussetzungen dafür erwiesen sich zunächst die kompakte Siedlungsform in eigenen Kolonistenbezirken und das System der Selbstverwaltung. Bei der Erhaltung und Pflege der deutschen Sprache, der Weitergabe von deutschen Sitten und Bräuchen sowie der Vermittlung überlieferter Wertvorstellungen spielte neben den Familien vor allem das kirchlich-religiöse Leben eine ganz zentrale Rolle. Es war deshalb vor allem die Rahmenfunktion der sich in der ersten Hälfte des 19. Jh. herausbildenden lutherischen und katholischen Kirchenorganisationen und -ordnungen, die als ein entscheidender Faktor in Erscheinung trat. Die Kirchenorganisationen können als Teil eines überregionalen institutionellen Beziehungsgefüges verstanden werden, das großen Einfluß auf die ethnische Entwicklung ausübte. Die führenden Theologen hatten ihre Ausbildung nicht selten im deutschsprachigen Raum oder im Baltikum (Dorpat) erhalten und pflegten entsprechende organisatorische Kontakte. Von Kirchenvertretern oder religiösen Führern gingen oft die entscheidenden Impulse aus, die zur Etablierung einer Kolonistenpresse und zu deutschen Vereinsgründungen beitrugen. Als die Rußlanddeutschen mit dem nach der Februarrevolution 1917 hereinbrechenden Völkerfrühling ihre politischen Rechte und Ansprüche anzumelden begannen und sich politisch organisierten, waren es sehr häufig die Angehörigen dieser Bildungsschicht, die diesen Prozeß einleiteten.
Im Hinblick auf die Gesetzmäßigkeiten der Völkerentwicklung läßt sich verallgemeinernd folgendes festhalten: Religiösen Organisationen, Vereine und Medien in der Muttersprache bilden jene Orte, in denen kulturfremde Einwanderer in der neuen Heimat ihre ethnische Selbstsicherheit finden können. Voraussetzung dafür bildet allerdings eine kompakte Ansiedlung. Nur wenn Menschen gleicher Herkunft in durchgängige Wechselwirkung untereinander treten können, kann die Entstehung neuer nationaler Minderheiten erfolgen. Diese Zusammenhänge zu begreifen ist wichtig, wenn man Deutschland tatsächlich als ein Einwanderungsland, auch für kulturfremde Einwanderer, betrachtet und weiter in diese Richtung umbauen will. Es dürfte klar sein, daß man sich auf diese Weise auch in der Bundesrepublik allmählich nationale Minderheiten schafft, die schon recht bald ihre Volksgruppenrechte einfordern werden. Das macht die Gesellschaft zwar „diverser“ aber verkompliziert auch alle gesellschaftlichen Beziehungen, weil sich auf dem engen Raum die Reibungsflächen erhöhen. Wir haben eben keine unbewohnten Flächen zu besiedeln wie Rußland im 18. und 19. Jh., auch wenn aufgrund einer kapitalistischen Fokussierung und Konzentration auf bestimmte Standorte (Standortwirtschaft) schon ganze Landstriche im Osten Deutschlands zu veröden beginnen. Die Privatisierungen von Post und Bahn haben die Versorgungslage und die Mobilität der Bevölkerung wesentlich erschwert. (Wie schwierig ist es in den letzten Jahren geworden, um selbst am Stadtrand von Berlin noch eine Postbankfiliale zu finden. Postämter wurden reihenweise geschlossen und fehlen sehr. Das Gleiche gilt für Streckenstillegungen bei der Bahn, z. B. die „Wriezener Bahn“, die früher Berlin über die Höhenzüge des Barnim mit dem Oderbruch verband.)
Auch aufgrund dieser Bedingungen und Voraussetzungen werden von den Einwandernden die ohnehin schon überfüllten urbanen Ballungszentren und Stadtteile bevorzugt, wo auf diese Weise „soziale Brennpunkte“ entstehen. Besonders „die schon länger hier leben“ (Merkel) werden die Leidtragenden sein, weil auf sie alle Schuld der vorprogrammierten Konflikte abgeschoben werden wird. Das ist ja bereits jetzt schon der Fall. Der Rassismusvorwurf ist inzwischen allgegenwärtig, weil er schwammig und so einfach zu handhaben ist. In der alltäglichen Praxis werden die Schwächen der ideologisch aufgeladenen und konsequent umgesetzten kulturmarxistischen „Diversitätskonzepte“ durch die Einteilung der Menschen in Gute (folgsame) und Böse (widerspenstige Rassisten) einfach „weggezaubert“. Wer will schon „Rassist“ genannt werden. Die Widerspenstigkeit verlagert sich dann eben auf ein anderes Gebiet. Das zeigen die Proteste gegen die Corona-Politik mehr als deutlich. Eines sollten die dafür verantwortlichen Politiker stets bedenken, wenn sie leichtfertig und ohne Not die ethnischen Strukturen unseres Landes verändern: Die Taten von heute werden die Tränen von morgen sein…
Quellen und Anmerkungen
- Vgl. Schnurr, Joseph.: Die Siedlung, der Hof und das Haus der Rußlanddeutschen. In: Heimatbuch der Deutschen aus Rußland. Stuttgart 1967/68, S. 1 – 64
- Schnurr, Joseph: Die Kirchen und das Religiöse Leben der Rußlanddeutschen, Evangelischer Teil. 2. überarbeitete und erweiterte Auflage, Stuttgart 1980
- Bei dem Begriff Südrußland handelt es sich um eine Bezeichnung der südlichen Gebiete der heutigen Ukraine am Schwarzen Meer. Sie kamen im Ergebnis der russisch-türkischen Kriege Ende des 18. Jahrhunderts in den Machtbereich Rußlands. 1796 wurde das ”Neurussische Generalgouvernement” geschaffen, das die Schwarzmeergebiete zwischen Dnjestr, Dnjepr, Don einschließlich der Krim und ab 1812 auch Bessarabien umfaßte. Diese zuvor wenig bevölkerten Gebiete (Tataren) zeichnen sich durch fruchtbare Schwarzerde aus und dienten als Ansiedlungsgebiet u. a. für deutsche Kolonisten.
- Seib, Eduard: Der Wolgadeutsche im Spiegel seines Brauchtums. In: Heimatbuch der Deutschen aus Rußland, Stuttgart 1967/68, S. 145 ff.; Heimatbuch der Deutschen aus Rußland, Stuttgart 1959, S. 68 f.
- Heimatbuch der Ostumsiedler. Stuttgart 1954, S. 38 ff.; Heimatbuch der Deutschen aus Rußland, Stuttgart 1961, S. 112 u. 124f.
- „Nationalität“ bedeutet hier nicht Staatsangehörigkeit, sondern Volkszugehörigkeit. Traditionell wird in Mittel- und Osteuropa Nationalität als historische Vorform der Nation, als eine feudale Völkerschaft mit der Tendenz zur bürgerlichen Nationsentwicklung betrachtet. Ausschlaggebend für das Wesen dieser Vorform einer nationalen Einheit ist der Komplex der charakteristischen ethnischen Züge, Eigenschaften und Merkmale, der sich auf der Grundlage dieser nationalen Vorform und mit ihr zusammen herausgebildet und gefestigt hat. Zweitens wird der Begriff der „Nationalität“ im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Nation oder ihrer Vorform gebraucht, wobei dann die Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Menschen gemeint ist, die gleiche ethnische Merkmale aufweisen. Erst in jüngster Zeit gelangte drittens aus dem angelsächsischen Raum die eher etwas triviale Begriffsbestimmung des Nationalitätsbegriffes zu uns, nämlich Nationalität (nationality) = Staatsbürgerschaft, was aber unseren mittel- und osteuropäischen Sprachgewohnheiten widerspricht und zu Mißverständnissen führen kann, da mit dem Nationalitätsbegriff eben gerade nicht die staatliche, sondern die ethnische Zugehörigkeit zum Ausdruck gebracht werden soll. Die Ursachen für die in einigen westeuropäischen Ländern gebräuchliche Begriffsbestimmung des Nationalitätsbegriffs in liegen in dem historisch bedingten Nationsverständnis dieser Staaten begründet, das nationale (ethnische) Minderheiten ignoriert und Staatsvolk und Nation gleichsetzt. (So leben in Großbritanien eben neben den Engländern noch Angehörige anderer autochthoner Nationen und Nationalitäten, wie Iren, Schotten und Waliser). In diesem Sinne sollte auch von uns dieser Begriff verwendet werden.
- Eisfeld, Alfred: Die Rußland-Deutschen. Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Band 2, Langen Müller, München 1992, S. 66
- Vgl. Fleischhauer, Ingeborg: Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturgemeinschaft, Stuttgart 1986, S. 540
- Adams, Willi Paul: Deutsche im Schmelztiegel der USA. Erfahrungen im größten Einwanderungsland der Europäer. Berlin 1994, S. 33
- Eisfeld, Alfred: Die Rußland-Deutschen. Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Band 2, Langen Müller, München 1992, S. 78 f.
- Schleuning, der wegen der Unruhen im Baltikum die Erlaubnis bekam, im Sommersemester 1906 in Greifswald zu studieren, schrieb dazu in seinen Lebenserinnerungen: „Die Verehrung für Deutschland, das ich als stilles Heiligtum in meinem Herzen trug, ging mit mir durch meine Kindheits- und Jugendjahre, und jetzt sollte die Sehnsucht, das Urväterland kennenzulernen, Erfüllung finden.“
- Fleischhauer, Ingeborg: a.a.O., S. 532 f.
- Stach, Jacob: Das Deutschtum in Sibirien, Mittelasien und dem Fernen Osten – von seiner Entstehung bis in die Gegenwart, Stuttgart 1938, S. 117 f.
- Eisfeld, Alfred: Die Rußland-Deutschen. Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Band 2, Langen Müller, München 1992, S. 78
- Fleischhauer, Ingeborg: a.a.O., S. 538
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 1 Kompakte Siedlungsgebiete der deutschen Kolonisten in Rußland vor 1941 mit Mutterkolonien, Tochterkolonien und Streusiedlungen. Quelle: Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland e. V. aus Heimatbuch der Ostumsiedler 1955, S. 16a
Abb. 2 Kolonistenhof in Balzer (Wolgagebiet), Holzhaus mit abgewalmten Dach am Anfang des 20. Jh. Quelle: Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland, Stuttgart
Abb. 3 Kolonistenhof in Rückenau im Molotschnaer Mennonitengebiet, Taurien (Südrußland, heute Ukraine), Anfang des 20. Jh. Quelle: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Foto: Willi Vogt (Archiv Viktor Krieger)
Abb. 4 Evangelische Kirche in Eugenfeld im Schwarzmeergebiet (Südrußland) 1902. Quelle: Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland aus Heimatbuch 1962
Abb. 5 Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche St. Paul in Odessa 2012. Hauptkirche der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine. Quelle: wikimedia.org, File:Novoselskogo-68-9.jpg; Urheber: Alex Levitsky und Dmitry Shamatazhi (eigenes Werk), CC BY-SA 3,0
Abb. 6 Prof. Dr. Karl Lindemann um 1925; Quelle: wikimedia.org. gemeinfrei, unbekannter Autor
Abb. 7 Johannes Schleuning als Student in Dorpat. Quelle: Mein Leben hat ein Ziel. Lebenserinnerungen eines rußlanddeutschen Pfarrers. Witten 1964

Dr. Christian Böttger
Christian Böttger, geb. 1954, Facharbeiterausbildung als Gärtner für Zierpflanzenbau mit Abitur 1974, studierte von 1983-1988 Ethnographie, deutsche Geschichte und Volkskunde an der Humboldt-Universität zu Berlin. Danach arbeitete er bis Ende 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Wissenschaftsbereich Kulturgeschichte/Volkskunde am Zentralinstitut für Geschichte (Akademie der Wissenschaften der DDR) an einem Forschungsprojekt auf dem Gebiet der Kulturgeschichte sozialer Reformbewegungen in Deutschland um 1900. Ende 1993 promovierte er an der Humboldt-Universität zum doctor philosophiae. Anschließend war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an verschiedenen Lexikonprojekten beschäftigt.
Autor der Bücher:
Christian Böttger: Ethnos. Der Nebel um den Volksbegriff.
NEU:
Christian Böttger: Autonomie für die Afrikaanse Nation! Ein Superethnos in Südafrika