Wolfszeit – „Jetzt sind sie halt da!“

von Dr. Winfried Knörzer

Wolfszeit – „Jetzt sind sie halt da!“

Gelegentlich bediene ich mich einer rhetorischen Technik, die darin besteht, dem Gegner ein Stück weit entgegenzukommen, seinen Thesen eine gewisse Berechtigung zuzubilligen. Das mache ich nicht aus purer Menschenfreundlichkeit, die hier nicht angebracht wäre, noch in der Erwartung eines sportlich-ritterlichen Kräftemessens. Darauf legt der Gegner, mit dem man es allzumeist in der aktuellen Lage zu tun hat, keinen Wert, weshalb auf das Angebot eines Austauschs von Höflichkeiten verzichtet werden kann. Wenn der Gegner absolut dumm und seine Argumentation völlig unsinnig wäre, brächte es keine Ehre, einen solch hilflosen Wurm niederzuringen. Darum muß man sich einen Gegner aussuchen, dessen Argumente zumindest im Ansatz oder teilweise richtig sind. Denn erst wenn man nachweisen kann, daß auch das ansatzweise Richtige letztlich in die Irre führt und selbst das Beste, was der Gegner aufbieten kann, nicht ausreicht, um einem diskursiven Angriff standzuhalten, hat man einen echten Sieg errungen.

Das Thema, um das es hier gehen soll, ist der Wolf. Bei diesem Thema bin ich gerne bereit, mich dem Gegner anzunähern, denn auch ich bin davon überzeugt, daß die Erde nicht nur dem Menschen gehört, denn auch ich schätze die Gegenräume zur total verstädterten Hyperzivilisation, schätze die ursprüngliche Natur, zu der eben nicht nur niedliche Häschen und rundäugige Rehe, sondern auch Wölfe und Bären gehören. Allerdings meine ich, daß die gegenräumlichen Tummelplätze der Bären und Wölfe in Sibirien, Norwegen oder den Karpaten liegen sollten und nicht in Schleswig-Holstein, dem Harz oder gar im Ruhrgebiet.

Der Wolf und das Lamm, Jean Baptiste Oudry (1686-1755)

Auch dem aus dem Osten hereinwandernden Wolf hat man eine Willkommenskultur beschert. Begeistert hat man die in diesem Tier inkarnierte Rückkehr zur Natur begrüßt. Berauscht hat man sich an der scheinbar Wirklichkeit gewordenen Synthese von archaischer Natur und moderner Zivilisation. Ursprüngliche Natur ist also hier und heute doch noch möglich – so lautet der Grundgedanke der offiziell verordneten Lykophilie. Der Wolf avancierte zum Totemtier einer im Vollgefühl der Sicherheit städtischer Zivilisation ausgeübten Zivilisationskritik. Bedauerlicherweise konnte sich der Wolf allerdings nicht dazu überwinden, die ihm zugedachte Rolle als Projektionsfläche rousseauistischer Sehnsüchte zu spielen, sondern beharrte eigensinnig darauf, ein Wolf zu sein.

Sein traditionsverhaftetes Wolfsein stellte der Wolf in keineswegs überraschenden Aktivitäten unter Beweis, als da vor allem wären das Zerfleischen und Verspeisen von Schafen. Aber auch von aggressiven Annäherungen an Spaziergänger wurde bereits berichtet. So war das natürlich nicht gedacht. Was man sich gedacht hat, falls der Begriff des Denkens in diesem Fall überhaupt anwendbar ist, soll später erörtert werden. Man reagierte auf diese Vorkommnisse so wie jeder in Bedrängnis geratene Verantwortliche reagiert – mit Beschönigen und Beschwichtigen, mit dem Herausstreichen des wenigen Positiven und dem Verschweigen des vielen Negativen. Zu den Wölfen verhält man sich wie zu den menschlichen Migranten. Nach dem Abklingen der Initialfreude ob der spektakulären, den langweiligen Alltag aufbrechenden Novität begnügt man sich zu konstatieren: „Jetzt sind sie halt da“ und hofft darauf, daß schon irgendwie alles gutgehen werde. Wenn nun aber früher oder später doch das Schreckliche eintritt und ein Mensch getötet wird, wird man vielleicht in bewährter Manier dem Opfer die Schuld geben (es habe provoziert, sich falsch verhalten oder Warnhinweise nicht beachtet), sicherlich aber kleinlaut schließlich doch den Wolf zum Abschuß freigeben.

Junge Bauern müssen sich eines Wolfs erwehren – Gemälde von François Grenier de Saint-Martin (1833)

Man sollte nicht umstandslos alles Unerfreuliche den Linken anlasten. Nicht nur setzt man sich dadurch dem Verdacht des Verschwörungstheoretischen aus („Die“ sind an allem schuld, auch an Corona und dem verregneten Sommer), sondern man würde sich auch an der zum würde- und gedankenlosen Gesellschaftsspiel gewordenen Diabolisierung des Gegners beteiligen. Die Lizenzierung der Wolfsmigration war kein forciert vorangetriebenes politisches Projekt, sondern vornehmlich das Resultat administrativer Akte, die freilich tatkräftig von einschlägigen NGOs unterstützt wurden. Allerdings ist linke Mentalität, ohne daß dies den meisten Betroffenen bewußt geworden wäre, durch jahrzehntelang ununterbrochen anhaltende mediale und pädagogische Indoktrination subkutan bis in die feinsten Verästelungen aller relevanten Institutionen eingedrungen. Darum läßt sich mit einiger Berechtigung behaupten: alles, was der Fall ist, ist links. Wenn also alle sozialen Tatsachen links imprägniert sind, scheint es keinen Erkenntnisgewinn zu bringen, noch eigens zu betonen, daß sie links sind. Nichtsdestotrotz kann es nicht schaden, die allumfassende linke Normalität am Leitbild des Wolfes zu dekonstruieren.

Zunächst ist eines typisch und auffällig: die Zeche zahlen stets die anderen, hier die Bauern und Schäfer, deren Tierbestände dezimiert werden, und die Bewohner der betroffenen Gebiete, die in beständiger Angst leben müssen und sich nicht mehr zum Wandern in den Wald trauen. Stets wird ein in der Theorie grandioses, ideologisches Projekt rücksichtslos exekutiert, wobei man sich, wenn der Schaden eingetreten ist, aus der Verantwortung stiehlt. Nach der Wende 1990 hingen an einigen Marx/Engels-Statuen ein Schild, auf dem zu lesen stand: „Sorry, wir haben uns geirrt.“ Immer und immer wieder verhallen die sich nachträglich stets als zutreffend erweisenden Kassandrarufe der Rechten ungehört, ganz so wie es den modernen Avataren der Kassandra vom Schicksal bestimmt ist. Die Zivilisiertheit des modernen europäischen Menschen schützt die bösartig-starrsinnigen Herrschenden selbst bei einem Systemwechsel wie in der DDR vor Racheorgien. Im Normalfall, dem Fortbestehen des politischen Systems, braucht erst recht niemand, Konsequenzen zu fürchten, da die Mächtigen weiterhin über die Macht verfügen, Sanktionen zu verhindern. Allenfalls rafft man sich zu einer widerwillig dahingenuschelten Entschuldigung auf (Baerbock: „Da habe ich eben Sch… gebaut“) oder es wird ein besonders exponierter Schwarzer Peter zum Rücktritt genötigt. Diese Verantwortungslosigkeit hat freilich nicht nur mit der in allen politischen Systemen anzutreffenden Arroganz der Macht zu tun. Der Marxismus in seiner ursprünglichen ideologischen Form ist erledigt. Aber nach Aufgabe seiner expliziten Dogmen haben sich, ähnlich wie beim Christentum, wesentliche Glaubensinhalte in verwässerter, zu vagen Werten verdünnter Form nicht nur erhalten, sondern diese haben sich nach Unkenntlichwerden ihres Ursprungs umso fester als mentalitätsmäßige Prägung in den Köpfen der Menschen verankert. Einer dieser Glaubensinhalte besteht in der unumstößlichen Gewißheit, im Recht zu sein, weil man dank wissenschaftsfundierter Prophetie den Lauf der Welt erkannt habe. Man kann schlichtweg nicht irren, solange man nicht den vom geschichtsmetaphysischen Heilsplan vorgezeichneten Pfad verläßt. Dies unterscheidet linke Postdemokratien von liberalen Demokratien aber auch von klassischen, nicht-totalitären Diktaturen. Die Politiker dieser beiden politischen Systeme wissen, daß ihre Herrschaft von der hier freiwilligen, da erzwungenen Zustimmung der Beherrschten abhängig ist, weshalb sie in der Wahl ihrer Mittel auf deren zustimmungsbefähigende Tauglichkeit achten müssen, weshalb diese Wahl sich an zweckrationalen Überlegungen ausrichtet. Dagegen zieht der von der irrationalen Überzeugung von der grundsätzlichen Richtigkeit seines Handelns durchdrungene mentalitätsmäßige Linke potentiell falsifizierende Momente überhaupt nicht in Betracht. Er ist der Gute und deshalb prädestiniert, das Richtige zu erkennen. Das als gut und richtig Erkannte wird sich über kurz oder lang durchsetzen; es bedarf nur des Anstoßes des von ihm ausgehenden Handelns. Diese verharmlosend als Gesinnungsethik bezeichnete Haltung ist überhaupt keine Ethik, weil eine Ethik verlangt, Verantwortung zu übernehmen, was der echte Gesinnungsethiker auch tut. Der Linke an der Macht verschwendet keinen Gedanken an Verantwortung, weil er sich als Instrument des Weltgeistes dünkt. Wenn dann doch etwas schiefläuft, dann wurde dies im Stalinismus auf Sabotage und konterrevolutionäre Machenschaften zurückgeführt, heute auf unvorhersehbare Friktionen, Systemzwänge, individuelle Unfähigkeit irgendwelcher Anderer oder dem aktuell angesagten Niveau grundschulhafter Entschuldigungsrhetorik gemäß auf schlichtes Pech. Wer hätte denn auf die Idee kommen können, daß ein ökologisch so wertvolles Tier wie ein Wolf plötzlich Schafe anfällt! Mit treuherzigem Augenaufschlag bittet man um Verständnis und hält damit die Sache für abgetan, wenn man sich nicht sogar erdreistet, den Spieß umzudrehen und den Kritikern vorzuwerfen, durch ihre Kritik die nach wie vor unzweifelhafte Gutheit der ursprünglichen Intention in Frage zu stellen.

Überzeugt von der eigenen Gutheit und dem Besitz der Wahrheit, kann der Opponent nur böse sein und sich irren. Das ist die Grundannahme, aus der alles Weitere folgt. Wegen der prinzipiellen Bosheit des Opponenten wird seinen Diskursen nicht zugebilligt, wahre Aussagen über die Wirklichkeit zu sein. Wenn er einen schlechten Ausgang eines linken Vorhabens vorhersagt, dann ist dies nur die Projektion seiner eigenen Schlechtigkeit. Gerade weil die Kritik von der falschen Seite kommt, die immer nur Böses und Falsches absondert, ist man umso sicherer, das Richtige zu tun. Aufgrund dieser von vornherein feststehenden Pathologisierung muß man die Diskurse der Rechten auch dann nicht ernst nehmen, auch wenn sie recht behalten. Die wissenschaftlich erwiesene Absurdität der Behauptung, Wölfe seien Raubtiere, gebietet von selbst, derlei Unsinn zu ignorieren.

So wendet sich für den Linken das Gute stets zum Besten. Erstens: Es tritt kein legitimer Kritiker auf den Plan, der mir eine Schuld vorwerfen könnte, weil entweder fast alle meiner Meinung sind und die wenigen, die dies nicht sind, eh nichts zu sagen haben. Zweitens: ich bin nicht schuld, weil ich das Gute gewollt habe. Darum frischauf ans Werk, um die braven Bürger mit neuen, noch besseren, noch phantastischeren Plänen zu beglücken!

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Dr. Winfried Knörzer

Dr. Winfried Knörzer

Dr. Winfried Knörzer, geboren 1958 in Leipzig, studierte in Tübingen Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaften, Japanologie und promovierte über ein Thema aus der Geschichte der Psychoanalyse. Berufliche Tätigkeiten: Verlagslektor, EDV-Fachmann. Seit Anfang der 90er Jahre ist er mit Unterbrechungen publizistisch aktiv.

Die Neuerscheinung im Juni2021: „Farben der Macht“ von Dr. Winfried Knörzer im Lindenbaum Verlag. Sie können dieses Buch direkt beim Verlag versandkostenfrei bestellen.

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