von Andrzej Madela
Einige Bemerkungen zum „Konservatismus“-Begriff
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Das eigentlich Schwierige an einem Vorhaben, die Grenzen und den Inhalt eines Konservatismus zu umreißen, besteht wohl darin, daß die Objekte dessen, was „konserviert“ (bewahrt) werden soll, eine nahezu verwirrende Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit aufweisen. Dies ist für Konservatismusforscher insofern ein Problem, als es auch Versuche gibt, den erwähnten Begriff vom zu bewahrenden Gegenstand her zu bestimmen. Die Konsequenz solchen Verfahrens muß aber in der Endfolge auf Beliebigkeit hinauslaufen, die der Chance einer wertenden Unterscheidungsfähigkeit sich selbst beraubt und, zumindest potentiell, Gefahr lauft, in Zusammenhängen aufzuwachen, die nicht die ihren sind.
Diese Gefahr ist in der jüngeren Konservatismus-Forschung (Armin Mohler, Gerd-Klaus Kaltenbrunner, Hans-Christof Kraus) mehrfach thematisiert worden und ließe, mit unvermeidlicher Vereinfachung, etwa folgendermaßen sich formulieren: Die Bestimmung des Begriffs vom Gegenstand her mache eine Klassifizierung und Gliederung weitestgehend unmöglich, da der gesamte Inhalt des Konservatismus auf eine natürliche menschliche Reaktion der Bewahrung des Vorhandenen hinauslaufe; diese Reaktion könne jedoch unter recht unterschiedlichen Umständen auftreten und müsse nicht unbedingt mit einer wertorientierten Haltung verbunden sein.
Es kann daher nicht verwundern, daß führende Theoretiker des Konservatismus zu beweisen versuchten, diese weltanschauliche Richtung verfüge ebenfalls über eine ausgeprägte theoretische Konstruktion, die den Vorwurf der Beliebigkeit und des unreflektierten Verhaltens gegenstandslos mache. Im Eifer ihrer Bemühungen, eine überzeugende Theorie gegen den Verdacht des unkontrollierten Bedürfnisses nach Bewahrung aufzubauen, verloren sie aber die Spontaneität und Natürlichkeit dieser menschlichen Regung aus den Augen, was im Endeffekt zu einer Verkennung und Bedeutungseinschränkung dieser Reaktion führen mußte.
Gegen diesen „überdeckenden“ Ansatz richtet sich die vorliegende Erörterung. Ihr Ausgangspunkt liegt in der banal anmutenden Annahme, daß der Mensch in seiner Lebensaktivität nach Bewahrung der vorhandenen Wirklichkeit strebe, weil eine solche Reaktion eine natürliche und ihm gemäße sei. Erst die Entscheidung für eine „conservatio“ macht, meines Erachtens, die Konstruktion der dazugehörigen Theorie notwendig und möglich.
Liegt der konservativen Theorie eine Inspiration zur Bewahrung der Wirklichkeit zugrunde, so läßt das Gedankengut des Konservatismus recht deutlich von dem liberaler und sozialistischer Provenienz sich absetzen. In der Überzeugung vom Wert der zu bewahrenden Wirklichkeit äußert sich für die Konservatisten die grundlegende Erkenntnis, das Wirkliche verdiene es, vor der Flut des Unwirklichen geschätzt und verteidigt zu werden — insbesondere vor der heute oft anzutreffenden Vielzahl von sozialen Utopien, gesellschaftspolitischen Fiktionen, nationalen Wahnvorstellungen, aber auch von Projekten, Ideen und Behauptungen, die zwar selbst nicht „die“ Wirklichkeit verkörpern, sehr wohl aber die Fähigkeit besitzen, das Denken über diese zu deformieren und zur Zerstörung von Wirklichkeit zu verleiten.

– Caspar David Friedrich
Nun muß man den Einwand in Rechnung stellen, auch das liberale und das sozialistische Gedankengut existieren nicht im luftleeren Raum und seien — als Alternative zum konservativen — nicht Fiktion. Der Betonung der Wirklichkeit im konservativen Gedankengut setzen die Liberalen die Idee der „Freiheit“ (als Unterscheidungsmerkmal gegen konservative und sozialistisch-autoritäre Ordnungsbestrebungen) und die Sozialisten die Idee der „Gerechtigkeit“ entgegen; letzteres als Distinktion einer gesellschaftlichen Ausgleichsidee, die vom liberalen und konservativen Profitstreben sich unterscheidet. Der Vorwurf, die Liberalen und Sozialisten errichteten durch ihren Umgang mit Wirklichkeit eine zweite, fiktive Wirklichkeit (Hypothesen, Projekte, Utopien), wäre von letzteren sicher nicht akzeptiert worden; allerdings konnte man mit einer Bestätigung der These rechnen, die gegebene Wirklichkeit reiche ihnen (im Gegensatz zu den Konservatisten) nicht aus, sie sei veränderungswürdig und -bedürftig. Demnach sei deren bloße Existenz kein Wert an sich, dieser werde erst durch die Erweiterung der Freiheits- respektive Gerechtigkeitsräume geschaffen.
Aus alldem erhellt, daß der vom Konservatismus für sich reklamierte Begriff der „Wirklichkeit“ allein nicht ausreichen wird, eine Definition dieser Weltanschauung zu liefern. Auch liberale und sozialistische Theoretiker verwenden ihn zur Selbstbestimmung ihrer Positionen; hinzu kommt die differenzierte Geschichte dieses Begriffes und seiner Auslegung in der Philosophie. Im Grunde ließe keine philosophische Schule sich benennen, die „Wirklichkeit“ zurückgewiesen hätte — und selbst jene, denen man eine „Entwirklichung des Lebens“ vorwarf, verteidigten sich zumeist mit dem Hinweis darauf, sie agierten im Namen einer viel wesentlicheren und grundsätzlicheren Wirklichkeit als dieser, an die wir uns gewöhnt haben.
Eine Lösung könnte dagegen in der Besinnung auf den latenten Gehalt des „Conservatio“-Begriffes liegen, wenn man einmal unterstellt, daß hinter der natürlichen menschlichen Sehnsucht nach „Dauer“, nach „Bestand“ ein zwar nicht expressis verbis benanntes, doch auf jeden Fall spürbares Zeitgefühl und -verständnis steht. Natürlich kann es dabei nicht um das herkömmliche und in der Welt kodifizierte (insofern also eher technische) Zeitmaß gehen; im Gegenteil: Es geht um ein Zeitverständnis, das dem modernen Versachlichungszwang und Entpersönlichungsangebot sich verweigert und das Subjekt sowie seine essentielle Bindung an die Welt implizit berücksichtigt. Dies wird nur dann möglich sein, wenn man die Methode, Monate und Jahre als grundlegende Einheiten zu betrachten, verabschiedet und an deren Stelle die Einheiten setzt, die allein von einer „Dauer des Menschengeschlechts“ zu sprechen erlauben. Diese Einheiten wurden bereits in Heideggers ontologischem Werk vorgeprägt: Einerseits das „Sein“ (die denkbar größte Zeiteinheit, in der die künstliche Einteilung der Zeit in Sekunden, Minuten und Stunden gegenstandslos wird) und andererseits die „Zivilisation“ (gemeint ist die vielen Völkern gemeinsame Zeit langwährender Geschichtsprozesse, in deren Folge eine gemeinsame „Kultur“ sich herausbildet, wie sie beispielsweise für das von mediterranem Gedankengut und Christentum geprägte Europa charakteristisch ist). Mit anderen Worten: Im ersten Fall geht es um Dinge, denen Ewigkeitswert zugeschrieben wird und deren Verständnis einen gewissen „Stillstand“ von Zeit voraussetzt; daher könnte man mit einiger Berechtigung von einem passiven Zeitverständnis sprechen, das wiederum eine, meist nicht unproblematische, Einheit von Subjekt und Objekt voraussetzt. 1
Im Fall des Zeitverständnisses, das der „Zivilisation“ zugrunde liegt, ist der Austritt des Subjekts aus dem „Ewigen“ bereits erfolgt; Subjekt und Objekt nehmen einander wahr, dieser Prozeß spielt im großen Rahmen epochaler Veränderungen innerhalb einer Kultur. — Beide Varianten des Konservatismus sollen im folgenden mitsamt ihrer Problematik vorgestellt werden.
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Die erste Variante des Konservatismus spricht von einer Welt, deren Erfahrung meist in den grundlegenden Hervorbringungen des menschlichen Geistes, namentlich in Philosophie, Literatur und Religion, sich niederschlägt, die allesamt als Vermittlungsinstanzen im Umgang mit dem Transzendenten aufgefaßt werden. Der Schwund der transzendentalen Erfahrungsdimension in der Gegenwart wird als drastische Verkürzung der Humanität überhaupt diagnostiziert und dem funktional-historischen Denken, wie es insbesondere seit der Aufklärung sich institutionalisiert hat, als Schuld zugewiesen. Die Hauptanklage richtet sich gegen die vom funktionalen Denken kommende Ansicht, es existiere keine absolute Wahrheit, da sie einerseits — gemeinsam mit ihrem Kontext — selbst historischen Wandlungen unterworfen sei und andererseits grundsätzlich davon bestimmt werde, was zur gegebenen Zeit jeweils für nützlich gehalten werde. Die Neigung zum funktionalen und Nützlichkeitsdenken sei, so die konservative Theorie, besonders verhängnisvoll, weil sie zu einer ausgeprägten Blindheit und Feindschaft gegenüber ganzen Wirklichkeitsbereichen führe. Indem der Konservatismus den Versuch unternehme, diese Bereiche für die menschliche Erfahrung der Gegenwart zurückzugewinnen, begebe er sich keineswegs auf anachronistische Positionen, denn seine Verteidigung gelte nicht dem verklungenen Gestrigen, sondern dem bewußt zugeschütteten Ewigen und Allgemeingültigen, dessen Wiederkehr und Restaurierung mit der allgemeinen Verbindlichkeit für alle menschliche Erfahrung erklärbar sei.
Die erste Variante des Konservatismus setzt also eine Umstrukturierung der Welt im Namen ewiger Normative sich zum Ziel. Mit dem Begriff „Umstrukturierung“ ist auch ein Umbau des politischen Bereiches gemeint, ein Prozeß, der gemäß der betreffenden Theorie weit über den üblichen Pragmatismus der einzelnen Regierungen und deren Nützlichkeitsdenken hinauszugehen hätte.
Unbezweifelter Vorläufer dieser „absoluten“ Haltung ist Plato. Bei ihm finden sich mehrere Ansätze des Denkens, wie es für die angesprochene konservative Strömung charakteristisch ist. So der Hinweis auf das ewige ethische Normativ, das die politische Praxis begleiten müsse; so die explizite Absage an eine Theorie des „gesunden Menschenverstandes“, nach der der Einzelne zugleich Schöpfer eigener und nur ihm gemäßer Normen des Denkens und Tuns sei; ferner auch die Mahnung, politisches Denken müsse im Einklang sich befinden mit der Reflexion über die (in seinem Verständnis grundsätzlich zur Transzendenz tendierende) Wirklichkeit.
Eines der wesentlichsten Merkmale dieser Strömung bestünde demnach in der Suche nach der ewigen Dimension der Wirklichkeit, wobei die Abneigung gegen eingeschränkten Rationalismus, Historismus und Fortschrittsglauben (vor allem positivistischer Provenienz) die gemeinsame Grundlage liefert. Zu den führenden Denkern dieser Stromung gehören Allan Bloom, Leo Strauss und Eric Voegelin, doch ist mit diesen Namen die Aufzählung keineswegs abgeschlossen. Vergegenwärtigt man sich nämlich nochmals, was die gemeinsame Grundlage der Suche darstellt, so muß man auch auf Philosophen wie Martin Heidegger, Karl Jaspers und Edmund Husserl aufmerksam werden, deren antihistorischer und eindeutig antipositivistischer Denkansatz ins Auge springt. Freilich steht für Vertreter der Phänomenologie die politische Philosophie nicht im Vordergrund, und wird sie doch einmal zum Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses, so bleibt sie auf jeden Fall ontologisch fundiert. Daher kann es nicht verwundern, daß vor allem konservative Denker diese Gemeinsamkeit hervorheben — unter anderem Leo Strauss in seinen Schriften über Husserl und Heidegger, in denen das Gefühl der geistigen Zusammengehörigkeit auffällt, das mit der Bemühung aller drei um die Freisetzung einer Philosophie des Seins begründet wird.
Allerdings stößt die Suche nach der ewigen Dimension der Wirklichkeit auf nicht wenige substantielle Schwierigkeiten. Erstens gehört sie selbst seit langem nicht mehr zum Kanon der Universitätsphilosophie — vielmehr nimmt sie sich im durchschnittlichen Umfeld der philosophischen Arbeit eher esoterisch aus. Zweitens ist die Suche nach Ewigem im Bereich der Politik eine contradictio in adjecto, indem Politik die Sphäre der größten Unbeständigkeit und der stärksten Wandlungsprozesse darstellt. Daraus folgt die Erklärung dafür, warum die führenden Denker dieser Strömung eher auf ethische Wertordnungen verweisen, die eine Sanktion und Einschränkung der üblichen politischen Praxis darstellen sollen. In der Akzentverlagerung vom Pragmatischen aufs Ethische schlägt die Überzeugung vom Bestand einer allgemeingültigen moralischen Ordnung der Dinge sich nieder, die durch keine noch so komplizierten und wendungsreichen Prozesse aufgehoben werden dürfe. Mit der Deklaration einer feststehenden moralischen Ordnung wird meist der Anspruch verknüpft, auch die Politik dieser Ordnung zu unterwerfen, was im Endergebnis auf die Deklaration einer ewigen politischen Ordnung hinausläuft. Hier allerdings gerät die konservative Theorie in Schwierigkeiten. Unterstellt man nämlich die tatsächliche Existenz einer endgültigen und zeitlosen politischen Ordnung, so schließt deren Verteidigung (die stets eine potentielle Praxis im Sinne hat) eine äußerst repressive und autoritäre Lösung in sich ein, die mit dem politischen Bewußtsein der Gegenwart kaum sich vertragen mag. Unterstellt man andererseits, daß nicht eine politische, sondern eine existentielle Erfahrung allgemeingültig sei (in diesem Sinne also eine moralische Ordnung), so verliert die jeweils gültige Staatsform an Bedeutung, womit wiederum — indirekt — der Relativität des Politischen das Wort geredet wird: Schwierigkeiten, die in nahezu vollkommener Weise insbesondere an Allan Blooms „The Closing Of The American Mind“ sich exemplifizieren lassen.
Dieses Dilemma schlägt auch im Umgang der Vertreter dieser Richtung mit den klassischen Texten der griechischen Philosophie sich nieder: Aus den Kommentaren geht keineswegs eindeutig hervor, ob Plato die Endgültigkeit einer politischen Ordnung oder die einer moralischen Norm für die Essenz seiner Lehre hielt. Die präzise Antwort müßte wahrscheinlich beides in Rechnung stellen, woraus die Ambivalenz im Umgang mit seiner Theorie sich herleitet. Ein politisches Denken in „ewigen“ Dimensionen läuft nicht selten Gefahr, in die Verkündigung einer autoritären Staatsform umzuschlagen, und begibt sich damit in gefährliche Nähe zu utopischen politischen Staatsformen mit ideologischem Fundament. Andererseits ist die Entscheidung für eine endgültige moralische Ordnung von einer motivierten Verbindung mit der jeweiligen politischen Ordnung weit entfernt, sie degradiert die letztere zum beliebigen Hintergrund, wodurch — meist ungewollt — eine Abwertung des Lebensgefühls zustande kommt.
Die Ambivalenz im Umgang mit Plato hat aber auch andere weitreichende Konsequenzen für die betreffende Strömung. Aus der gebotenen Zurückhaltung gegenüber potentiellen Empfehlungen allgemeingültiger Staatsformen ergibt sich eine spürbare Zurückhaltung gegenüber der politischen Praxis schlechthin. Dieses Manko wird mit einer gesteigerten theoretischen Tätigkeit kompensiert, die in den meisten Fällen aber auf Detailfragen, Einzelaspekte und partielle Probleme der klassischen Texte oder aber auf sehr allgemein gehaltene Überlegungen und Hinweise zur Umstrukturierung des politischen Bereiches sich beschränkt. Praktische Schlußfolgerungen können hier, wegen des gespaltenen Verhältnisses zur Praxis selbst, kaum angeboten werden, es sei denn in Form von Hinweisen auf das ontologische Fundament unserer Erfahrung. Doch selbst diese ontologische Fundierung, ob als natürliches Recht (bei Leo Strauss) oder als Erfahrung der Transzendenz (bei Eric Voegelin), kann nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß das konservative Denken dieser Strömung die praktischen Konsequenzen seiner selbst scheut.
Ein nächstes Paradoxon dieses Denkens besteht in seinem Verhältnis zur Gegenwart. Die Bindung an ein ewiges ethisches Normensystem und die aus dieser Bindung resultierende Prinzipientreue bringen eine besondere Art der Radikalität hervor, die mit Vehemenz gegen die „deformierte Gestalt“ der gegenwärtigen Welt sich richtet. Der aus dem natürlichen (und nicht etwa kodifizierten) Recht bzw. aus der Erfahrung der Transzendenz abgeleitete Impetus verwandelt sich in einen viel schärferen, kritischen Rigorismus, als wir ihn etwa von den Reformparteien her kennen. Ausgangspunkt aller Kritik ist, wie oben erwähnt, der „funktionale“ und allein auf Nützlichkeitseffekte bedachte Zeitgeist, der in seiner Tendenz zur Relativierung alles Seienden bedeutende Bereiche der Wirklichkeit aus unserer Erfahrung ausschließe. Die Stoßrichtung der Kritik hat dabei sowohl den aufgezwungenen Kollektivismus der sozialistischen und kommunistischen Welt als auch den praktizierten Liberalismus des Abendlandes mit seinen „künstlichen“ Demokratie- und Individualitätsbestrebungen zum Gegner. Der „verfälschten“ Gegenwart wird ein Bild der Macht entgegengehalten, deren vorrangige Aufgabe in der Verbreitung ethischer Normative bestehe, in der Forderung moralischer Werte, keineswegs aber in einem eng aufgefaßten Pragmatismus, der im Täglich-Aktuellen sich erschöpfe. Dem (ebenfalls bei Plato formulierten) Bündnis von Weisheit und Macht wird dabei eine Ausstrahlungsgewalt zugeschrieben, die allein in der Lage sei, kraft ihrer beispielgebenden Funktion die Gesellschaft auf ihren wahren und „unverfälschten “ Status aufmerksam zu machen, von dem man — in der Perspektive — Impulse zur geistigen Neuordnung erwarte.
Dieser radikale Kritikansatz wird indes nicht durchgehalten: So sehr die führenden Denker dieser Strömung überzeugt sein mögen, das Ontologische sei die Grundlage alles Seins, und so sehr man auch den „verfälschten und unwahren“ Status dieser Welt geißelt, so wenig ist man andererseits bereit, seine Veränderung in einer Praxis vorzunehmen. Diese Ambivalenz resultiert meines Erachtens aus der Überzeugung, eine Verwirklichung der endgültigen Wahrheit im politischen Bereich, so sehr dieser auch verfälscht sein möge, hinge unweigerlich mit einer Vergewaltigung der Erfahrungskontinuität und mit der Zerstörung unserer Wirklichkeit zusammen, die — obwohl sie im Vergleich mit dem Sein „falsch“ sei — für den Menschen eine durch nichts ersetzbare Realität darstelle. Daher wird auch verständlich, warum die heutigen Vertreter dieser Richtung nicht mehr vom Gefühl absoluter Überlegenheit sprechen, dafür aber um so mehr von geistigen „Defekten“, die die Gegenwart im Denken bewirke, ferner von einem Mangel an einer verstärkten Kommunikation, die das Vorhandensein eines allgemeingültigen Normensystems zur Voraussetzung habe. Der Maximalismus dieser Strömung erweist seine Existenzberechtigung vor allem als Korrektiv zu einem rein pragmatischen politischen Denken.
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Die zweite Variante des Konservatismus besteht ebenfalls auf einer langen Zeitspanne als der grundlegenden Einheit unseres Zeitverständnisses; allerdings kann sie nicht umhin zuzugeben, die Festlegung auf das Sein erfolge — zumal unter heutigen Bedingungen — nicht unproblematisch, da sie eine immer illusorischer werdende Einheit von Subjekt und Objekt voraussetze. Daher erklärt sich auch die Bevorzugung der Begriffe „Zivilisation“ bzw. „Kultur“; beide implizieren den Austritt des Subjekts aus einem ungestörten Verhältnis zum eigenen Dasein und die damit zusammenhängende Problematisierung des Ich-Welt-Verhältnisses. Die Verteidigung eines Ganzen, wie im Fall der erstgenannten Strömung, wird hier auf die Verteidigung eines Teils des Seins reduziert, der meistens im Bereich des Kulturellen angesiedelt wird. Auch hier sind deutliche Abgrenzungen notwendig, erheben doch sowohl die Liberalen als auch die Sozialisten den Anspruch, den wertvollsten Teil gesellschaftlich-historischer Materie in die Zukunft hinüberretten zu wollen. Dieser Umstand muß also folgerichtig zu einer näheren Bestimmung dieses Fragments der kulturell-geschichtlichen Überlieferung führen, das für die betreffende konservative Strömung am wertvollsten ist.
Die „differentia specifica“ dieser Überlieferung glauben sie in der Eigenschaft des betreffenden Kulturerbes zu finden, die nicht zurückführbar auf technische Prozesse und Eingriffe in die kulturelle Materie sei. Die Ablehnung der Idee, eine Kultur sei vor allem etwas „Aufgebautes“ (nicht etwas „Gewachsenes“), kommt auch im Sprachgebrauch der führenden Theoretiker dieser Richtung zum Ausdruck: Man vermeidet die Verwendung von Begriffen wie „Einführung“, „Umgestaltung“, „Umverteilung“, „Beendigung“ und „Aufhebung“, da sie sämtlich eine technisch-vereinfachende Kulturauffassung böten, die das Organische und die jeweilige Eigenart einer Kultur unterschlage.
Aus der voraufgegangenen Argumentation resultiert auch die Neigung, das Wertvollste an der jeweiligen Überlieferung außerhalb der „künstlich“ erzeugten Bereiche zu suchen. So legt man beispielsweise Wert auf „Autoritäten“ (nicht etwa auf die „Staatsmacht“), auf „Sitten und Bräuche“ (nicht auf „Vorschriften und andere Rechtsnormen“), auf „Religion“ (nicht auf „Ideologie“) und auf „geistige Gebundenheit“ (und nicht auf die jeweils strategisch und taktisch zu bestimmenden „Bündnisse und Verträge“). Wie bereits an anderer Stelle ausgeführt wurde, stellt diese Strömung keine homogene Einheit dar, die in allen wesentlichen Axiomen ihrer Weltanschauung sich vereint wisse. Vielmehr geht es hier um eine Erscheinung, die eine weitgehende Differenziertheit der darunter subsumierten Theorien aufweist, aber über den Grundsatz sich einig ist, die Grundlage der Zivilisation sei vor allem in der Kontinuität von Erfahrung zu suchen; daher müßten jegliche Reformversuche mit aller gebotenen Vorsicht damit umgehen, was früher geschaffen worden sei. Umgestaltungsprozesse werden als ein allmählicher Zuwachs und Gewinn der jeweils unwiederholbaren Identität individueller und kollektiver Art verstanden; eine Zerstörung dieser äußerst delikaten Materie sei mit einem Rückfall in die Barbarei gleichzusetzen.
Eine nächste Gemeinsamkeit allgemein-theoretischer Natur liegt in der Unterscheidung zwischen Abstraktem und Konkretem, wobei nur dem letztgenannten Begriff die Qualität des „Wirklichen“ zukomme. Als konkret gilt beispielsweise das Abendland, da es eine weitgehend gemeinsame kulturelle Grundlage und Geschichte besitze; die Menschheit dagegen sei abstrakt, da in ihrem Fall eine historisch-kulturelle Gemeinsamkeit sich nicht ausmachen lasse und also auch keine gemeinsame und verbindliche Identität. Die gleiche Unterscheidung treffe für das Begriffspaar „Nation-Volk“ zu, aber auch für „Nation-Klasse“ bzw. „Nationalität-Individualität“.
Doch bereits mit dem Begriff des „Konkretem“ setzen auch die ersten Differenzen ein. In Abhängigkeit davon, welche Erscheinung man für die grundlegende Konkretheit hält (als mögliche Beispiele seien nur die Kultur eines Kontinents, einer Nation oder die eines Teils dieser Nation genannt), gestaltet sich auch die Setzung aller anderen Prioritäten. Bei Juan Donoso Cortes war das „Konkrete“ das Christentum katholischer Prägung samt einem ausgeprägten Begriff der „Nation“; bei seinem Landsmann Ortega y Gasset (aber auch bei Edgar Jung) war es eher die Vorstellung von einer hierarchischen und überschaubaren Gesellschaft, die sie gegen die Atomisierung und zunehmende Anonymität traditioneller Strukturen in Schutz nahmen. Bei Fjodor Dostojewski und Wladimir Solowjow ging es um eine tiefe Bindung an den Geist des orthodoxen Christentums russischer Prägung. Das „Konkrete“ bei Michael Oakeshott schließlich äußert sich in der Verteidigung des evolutionären Prinzips in der gesellschaftlichen Entwicklung, und zwar gegen eine Theorie, die den „technisch-rationalen Eingriff“ in das soziale Gewebe fur weitgehend problemlos erklärt.
Die hier vorgestellte Strömung des Konservatismus ist selbst ein Produkt der letzten zwei Jahrhunderte. In der Geschichte der Neuzeit ragen zwei Ereignisse heraus, deren geistige und materielle Folgen eine Herausforderung für das konservative Denken darstellen: die Französische Revolution von 1789 und die Oktoberrevolution von 1917 in Rußland. Der gemeinsame Nenner der antirevolutionären Argumentation ließe sich auf die Formel bringen, die Zerschlagung der vorrevolutionären Realitäten habe den betreffenden Gesellschaften mehr Schaden als Nutzen gebracht; die revolutionär errichteten Staaten seien künstliche Gebilde, die im krassen Widerspruch zum organisch Gewachsenen stünden. Freilich ist hier ein endgültiges Urteil unmöglich, da ein potentieller Zustand der Gegenwart für den Fall, diese beiden Revolutionen hätten nicht stattgefun-den, nicht verifizierbar ist. Die deutliche Abneigung des Konservatismus gegen revolutionäre Bewegungen birgt allerdings die Gefahr in sich, deren Rolle völlig aus dem Blickfeld zu verlieren. (Analog verhält es sich bei den Liberalen.) Viel wahrscheinlicher dagegen wirkt die These, erst das Vorhandensein aller drei Richtungen innerhalb einer Gesellschaft mache deren Qualität aus und schütze jede von ihnen vor den Folgen der Einseitigkeit. Diese Einsicht, so begründet sie auch erscheinen mag, ist dennoch für viele nur schwer annehmbar. Dies trifft für Theoretiker und Historiker, die mit dieser Strömung sich identifizieren, in besonderem Maße zu, sind sie doch geneigt, die Existenzberechtigung ihrer Weltanschauung mit deren Anspruch auf Alleinvertretung der gesellschaftlichen Interessen zu verbinden. Daher ist auch eine Weiterführung der Argumentation vorstellbar, deren Ziel ein Nachweis der geringen Bedeutung liberaler und sozialistischer Positionen ist.
Diese Argumentation würde erneut beim Begriff des „Konkreten“ ansetzen. Deren Kern lautet: Weder liberale noch sozialistische Positionen besitzen eine eigene abgeschlossene und dauerfähige Wirklichkeit, die Geborgenheit und Glaubwürdigkeit mit sich bringt, da bekanntlich weder eine liberale Wirklichkeit des Gesellschaftsvertrages existiert (mit ihren Attributen des natürlichen Rechts und der durch den Markt geregelten interpersonalen Beziehungen) noch eine sozialistische Wirklichkeit, in der alles durch die Idee des Planes geregelt wird und eine absolute soziale Gleichheit herrscht. Dagegen existiert wohl eine konservative Wirklichkeit, und zwar in Form von ausgeprägten Sitten und Bräuchen, Traditionen, religiösen und ethischen Wertvorstellungen und Normen, aber auch in der Form von geistigen traditionellen Autoritäten usw. Diese Wirklichkeit sei in ihrer Absolutheit gewiß nur schwer erträglich, doch nur sie allein sei in der Lage, die Gesellschaft zu strukturieren und den geistig-kulturellen Boden für alle politischen, sozialen und ökonomischen Umgestaltungen fruchtbar zu machen, die ja nicht in einem gesellschaftlich amorphen oder leeren Raum vollzogen werden. Mit einem Wort: Jeder liberalen (oder sozialistischen) Reform sei eine konservative Ordnung der Dinge vorgelagert, die die Gesellschaft in die Lage versetze, die (negativen) Folgen „mechanischer“ Eingriffe in das historisch-soziale Gewebe zu neutralisieren; dabei müsse das Gewebe so stark sein, das Ergebnis des Eingriffs zum integralen Bestandteil der Wirklichkeit werden zu lassen. — Soviel zu dieser möglichen Argumentation.
Die zeitgenössischen Vertreter dieser Strömung sind natürlich in der Lage, der angedeuteten Argumentation durch den Hinweis auf die Erfahrung aus der jüngsten Vergangenheit ein festes Fundament zu liefern. Eine besondere Rolle dabei spielt der ungeheure Verschleiß der reformatorischen (und revolutionären) Ideen sowie deren Praxis, wie sie in der breiten Skala der Sozialversuche zwischen Lenin und Hitler vorgeführt wurden. Paradoxerweise gibt uns gerade diese Praxis den Beweis in die Hand, viele Probleme, die in der Theorie als durchaus lösbar gelten, erweisen sich in praxi als unüberwindbar. Die negativen Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens sind zäher und widerstandsfähiger als in der Theorie angenommen: Eine Einsicht in dieses Ergebnis muß folgerichtig zur Einschränkung potentieller Reformfelder führen. Doch steht dahinter eine andere, wesentlichere Erkenntnis: Der Preis für die Umsetzung der ehrgeizigsten Gleichheits- und Gerechtigkeitsutopien ist die Vernichtung der wertvollsten Leistungen unserer Zivilisation.
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Die vorgenommene Einteilung kann lediglich provisorischen Charakter haben, der nur bedingt eine klare und eindeutige Unterscheidung zuläßt: Denkbar sind Situationen, in denen sowohl eine Synthese des „ontologischen“ als auch des „kulturellen“ Gedankens innerhalb einer Position realisiert wird, als auch solche, in denen das eine durchaus in einer bewußten Opposition zum anderen existiert. Der Grund für diese Ambivalenz ist in der Natur des Begriffes „Wirklichkeit“ selbst verankert, der eine Vielfalt von Bedeutungsebenen besetzt hält und daher weder mit einer konkreten politischen noch ethischen Ordnung zu identifizieren ist. Da dieser Begriff auf die gängigen Denkmuster in Ideologie und Propaganda nicht sich reduzieren läßt (etwa auf die Entgegensetzung „Kapitalismus-Sozialismus“, „Demokratie-Autoritarismus“, „Vergangenheit-Gegenwart“ u. a.), muß er folgerichtig von grenzenüberschreitender Natur sein und zu Irritationen führen.
Die angedeutete Polysemie des Begriffes muß jedoch nicht zwingend mit Bedeutungsverlusten oder Mißverständnissen zusammenhängen. Eine Einschränkung der Bedeutungsvielfalt würde selbstverständlich die Konstruktion eines optimalen Modells der Wirklichkeit begünstigen — doch im gleichen Maß auch die Neigung, die vielschichtigen Formen der Welt zu vereinfachen und deren schematische Modelle für „die“ Wirklichkeit zu halten. Es ist demnach sehr wohl möglich, daß die Verteidigung der „Wirklichkeit“ (also einer Vielfalt und Vielschichtigkeit von Erscheinungen) dem Zwang, in „Modelle“, „Projekte“, „Konstruktionen“ und Kategorien gepreßt zu werden, sich verweigert.
An diesem Punkt kommt die Hauptschwierigkeit des konservativen Gedankens, sich durchzusetzen, deutlich zutage: Die Verteidigung der „Wirklichkeit“ zieht die Notwendigkeit nach sich, auf die Überzeugungskraft und Plastizität der Argumentation, die den „Utopien“ und „Projekten“ innewohnt, zu verzichten; nur letztere haben ja die Fähigkeit, die theoretische Diskussion zu befördern — doch sie koppeln um so stärker von der Wirklichkeit sich ab, je überzeugender und einleuchtender deren „Modelle“ in ihrer Hermetik ausfallen. Die Kraft, als Wirklichkeit zu gelten, steigt also paradoxerweise mit zunehmender Entfernung von ihr. Wenn gegen den Konservatismus also der Einwand erhoben wird, er sei nicht in der Lage, eine aussagefähige „Vorstellung von der Wirklichkeit“ zu entwickeln, so steht dahinter meist der nicht expressis verbis ausgesprochene Vorwurf, Wirklichkeit nicht hinreichend schematisieren zu können. Der Konservatismus, welcher Prägung auch immer, steht im Spannungsfeld zwischen verlockender Wirklichkeitsvereinfachung und — nicht eben populärer — Befürwortung des Vielschichtigen. Die Entscheidung für letzteres, so einsichtig sie auch erscheinen mag, markiert zugleich die Grenzen seiner Popularität.
1 Das eigentlich Unannehmbare an dieser postulierten Einheit in der Gegenwart ist der Widerspruch zur Stellung des Menschen in ebendieser Gegenwart: Im Zeichen der postindustriellen Gesellschaft vollziehen sich Entwicklungen zur Verapparatung und zur Vermassung des Einzelnen, die das Subjekt längst nicht mehr als die wichtigste Göße des Daseins zulassen. (Das Verschwinden indivi-duellen Sprechens, die zunehmende Anonymität und Uniformität der Arbeit und Freizeit, die Auflösung traditioneller Wertehierarchien, aber auch die Okkupierung der Massenkultur durch machtgestützte Muster von Pseudo-Erlebnissen, aus denen der kritische Geist bereits von vornherein ausgeschlossen bleibt, mögen die besagte Tendenz bezeichnen.) Indessen formulieren die Vertreter des passiven Zeitverständnisses (Eric Voegelin, Leo Strauss) Forderungen, die nur als eine gedachte, keineswegs aber als eine tatsächliche (oder auch nur erstrebenswerte) Einheit sich nachvollziehen lassen. Die unlösbare Vermischung von Subjekt und Objekt läuft vom Grundansatz her auf ein kosmisches, ja, göttliches Weltgefühl hinaus, das heute unerreichbar ist. Darüber hinaus macht in der Postulierung eines kosmischen Weltgefühls ein totalitärer Zug sich bemerkbar: Aus dem Bestreben, das im Verschwinden begriffene Subjekt (in) der Gegenwart in eine „unverfälschte“ Zukunft zu retten, wird unter der Hand eine Forderung, die stillschweigend das klassische Lebensmodell des antiken Athen auf das „Noch-nicht“ überträgt und letzterem also Eigenschaften aufbürdet, die organisch nicht die seinen sind

Andrzej Madela (geb. 1958) studierte Geschichte und Germanistik in Breslau und Berlin und promovierte 1987 über den Traditionswandel in der DDR-Literatur der 70er Jahre. Bis Ende der 80er arbeitete er als Lehrer, nach der Wiedervereinigung hingegen als Lektor und Journalist. Seit seinem Ausscheiden aus der Redaktion der „Jungen Freiheit“ 1995 ist er in der auf Osteuropa spezialisierten freien Wirtschaft tätig.
Von Andrzej Madela und Reinhard Jirgl ist das folgende Buch 1993 im Bublies Verlag erschienen: Zeichenwende. Kultur im Schatten posttotalitärer Mentalität
„da der gesamte Inhalt des Konservatismus auf eine natürliche menschliche Reaktion der Bewahrung des Vorhandenen hinauslaufe“ Das kann doch nicht ernst gemeint sein! Wenn ein hungriger Mensch einen Apfel
sieht, bewahrt er ihn oder ißt er ihn auf? Ein Tischler schaut auf einen Stapel Holz, bewahrt er ihn, oder verarbeitet
er das geeignete zu etwas? Nur der Philosophierende betrachtet die Welt kontemplativ, der Praktische gestaltet
sie, verändert sie, und wenn auch nur, indem er das Eßbare hungrig aufißt.Wäre diese Bestimmung des Konservatismus also wahr, diese Haltung wäre völlig widernatürlich und der Mensch wäre schon längst
ausgestorben, dürfte er ja nichts essen, weil ja so das Gegessene verändert und nicht bewahrt wird
Uwe Lay
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