Nächstenliebe zwischen christlichem Glauben und Zeitgeist

von Pius Geissel

Nächstenliebe zwischen christlichem Glauben und Zeitgeist

Was meint Nächstenliebe tatsächlich und wie wird der Begriff heute interpretiert und auch missbraucht?

Das zentrale Problem Europas, quasi die europäische Frage, ist heute die Frage nach der Identität. Sowohl nach der nationalen bzw. den nationalen Identitäten als auch einer europäischen Identität im Banne der Globalisierung.

In den letzten Jahrzehnten haben ganze Generationen scheinbar vergessen, wer sie eigentlich als Volk, als Völker, wirklich sind, wo sie herkommen und was in diesem Zusammenhang eigentlich Identität bedeutet. Nachkommenden Generationen wurde dann nicht mehr erzählt, worum es sich bei den Begriffen Volk, Nation und Europa handelt.

„Keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft, auch kein Staat kann ohne Gedächtnis und ohne Erinnerung leben. Ohne Erinnerung zu leben bedeutet ja, ohne Identität und damit ohne Orientierung zu leben.“, formulierte einmal unser ehemaliger Bundespräsident Roman Herzog. Doch auch er hat den den Verlust der deutschen und ebenso der europäischen Identität nicht aufhalten können.

Essenziell für diesen Identitätsverfall ist das Abkommen vom Glauben. Das Christentum hat sich aus den Städten zurückgezogen, aus den Theatern, den Kirchen, den Wohnzimmern – es war klar, dass es sich auch aus den Herzen der Menschen zurückziehen würde. Und so kam es, dass das Christentum zu einer moralischen Sekundärinstanz wurde. Es teilt sich seinen Platz mit Bürgerrechten und Verfassungstexten. Passt es einer Seite gut in die eigene Argumentation, benutzt man es als Rechtfertigung. Natürlich ohne ein Problem damit zu haben, es bei der nächsten Gelegenheit wieder zu verschreien. Darum ist es maßgeblich für den Europäer, aber auch für den Teilnehmer politischer Diskussionen, das Christentum zu verstehen.

Missverstandene Nächstenliebe

Eine der wesentlichen Inhalte des Christentums ist die Nächstenliebe. Dennoch wird kaum ein Glaubensinhalt in der breiten Öffentlichkeit so falsch verstanden wie sie. Oft begegnet einem in Debatten Empörung über christliche Staaten wie Polen und Ungarn und ihre Einstellung zur Aufnahme von Flüchtlingen. Oft bekommt man als Christ zu hören, dass man für die Akzeptanz aller Ansichten, Religionen, Weltanschauungen und Lebensweisen sein müsse – Jesus habe doch Nächstenliebe gepredigt. Die Leute, die das denken, haben das Konzept der Nächstenliebe nicht verstanden. In ihren Köpfen verkommt das Christentum zu einem humanitären Verein. Umso schlimmer, dass sich seine öffentlichen Vertreter selbst immer mehr in diese Richtung bewegen.

Das Christentum ist unbedingt transzendent zu verstehen. Streicht man Gott heraus, bricht das gesamte Konzept zusammen. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen, dass die christliche Lehre ohne Gott keinen inhärenten Wert besitzt. Ebenso verhält es sich mit der Nächstenliebe. Sie ist ohne Gott nicht denkbar.

Doppelgebot und Altgriechisch

Die Nächstenliebe wird an mehreren Stellen der Heiligen Schrift formuliert. Fundamental ist jedoch, wie Jesus sich über sie äußert. Im Markusevangelium verfasst er sie als zweiten Teil des Doppelgebots der Liebe. Den ersten Teil bildet das Gebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit deinem ganzen Denken und mit deiner ganzen Kraft“ (Mk 12, 30). Diese beiden Gebote nennt Christus nicht zufällig gemeinsam, als man ihn nach dem wichtigsten Gebot fragt. Sie können nicht getrennt werden. Im Bezug auf die Nächstenliebe heißt das: Wir können unseren Nächsten nur durch Gott und um Gottes Willen lieben. Nächstenliebe ist kein Selbstzweck. Wir sollen unseren Nächsten lieben, weil wir Gott lieben sollen und weil „jeder Mensch Sein Ebenbild ist“ (Der große Katechismus, 905).

Das Griechische kennt drei Wörter für Liebe. Das sind Eros – die sinnliche Liebe, Philia – die freundschaftliche Liebe und Agape – die göttliche Liebe. Spricht die Bibel von Nächstenliebe, spricht sie von Agape. Dadurch kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Nächstenliebe bedeutet, den Nächsten wie Gott zu lieben. Dadurch bekommt Nächstenliebe einen unbedingt transzendentalen Charakter. Sie bedeutet, den Nächsten wegen Gott, durch Gott und auf die Weise zu lieben, wie Gott die Menschen liebt. Ich soll den Anderen „nicht mehr bloß mit meinen Augen und Gefühlen ansehen, sondern aus der Perspektive Jesu Christi heraus.“ (Benedikt PP. XVI., Deus caritas est)

Einige würden eventuell einwenden, dass es anmaßend wäre, die Menschen so lieben zu wollen, wie Gott es tut. Das wäre es auch, wenn es aus eigener Kraft geschehen würde. Tatsächlich wird jeder Christ aber durch die Taufe Teil des Leib Christi und kann somit Teil haben an der göttlichen Liebe.

Der heilige Franz von Sales beschreibt dies sehr treffend: „So gilt die gleiche Liebe Gott und unserem Nächsten; durch sie werden wir zur Vereinigung mit der Gottheit emporgehoben und steigen zum Menschen herab, um in Gemeinschaft mit ihm zu leben. So jedenfalls lieben wir den Nächsten als Bild und Gleichnis Gottes, geschaffen, um mit der Güte Gottes verbunden zu sein, an seiner Gnade teilzunehmen und sich seiner Herrlichkeit zu erfreuen. Den Nächsten lieben heißt Gott lieben im Menschen oder den Menschen in Gott; es heißt Gott um seiner selbst willen lieben und das Geschöpf um der Liebe Gottes willen.“ (Traktat über die Gottesliebe)

Augustinus von Hippo (354 – 430 n. Chr.)

Nächstenliebe als alltagstaugliches Konzept

Was aber bedeuten diese Erkenntnisse über die Nächstenliebe nun für ihre reale Ausübung? Dilige, et quod vis fac (lat.: Liebe und tu, was du willst). Dazu ruft der heilige Augustinus auf. Ergänzt wird diese Botschaft wunderbar durch ein Wort Aquinas‘: Amare est velle bonum alicui (lat.: Lieben heißt: jemandem Gutes tun wollen). Die Nächstenliebe gebietet uns also, dem Nächsten ernsthaft liebevoll Gutes tun zu wollen. Daher ist es fatal falsch, Nächstenliebe mit Toleranz oder Akzeptanz gleichzusetzen. Denn liebe ich meinen Nächsten wirklich, dann kann ich sein schlechtes Verhalten nicht mit ansehen. Wird Sünde sichtbar, wird es zur Pflicht jedes Christen, seine Stimme dagegen zu erheben. So ist es ein geistliches Werk der Barmherzigkeit, die Sünder zurechtzuweisen. Jemandem Gutes tun wollen, meint für einen Christen auf lange Sicht immer, an der Erlösung des Nächsten mitzuarbeiten.

Ist das denen klar, die Polen und Ungarn fehlende Nächstenliebe im Umgang mit Flüchtlingen vorwerfen? Ist das denen klar, die unter dem Deckmantel der Nächstenliebe für die Akzeptanz moralisch verwerflicher Handlungen einstehen?

Die Charakterisierung der Nächstenliebe, die die Heilige Schrift trifft, nämlich den Nächsten so zu lieben, wie sich selbst, zeigt wie falsch so etwas wäre. Auch wenn es en vogue ist, sich so zu lieben wie man sei und self appreciation im Trend liegt, ist christliche Selbstliebe anders. Ihr liegt nicht zu Grunde, mit sich selbst und vor allem den eigenen Fehlern zufrieden zu sein, sondern emsig an sich zu arbeiten. Christen sollen sich bemühen, Gott immer besser zu dienen und ihr Glück nur in Ihm zu suchen (vgl. Der große Katechismus, 908). Dieses Verhalten auch auf andere zu übertragen, ist wahre Nächstenliebe.

Nächstenliebe als Politikum

Man beobachtet tagtäglich, wie Organisationen, die sich als christlich bezeichnen, scheinbar vergessen haben, was Nächstenliebe bedeutet. So teilte das Referat Kinder und Jugend des Erzbistums Hamburg unlängst ein Bild, auf dem The Genderbread Person abgebildet war und pseudowissenschaftlich über Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck und sexuelle Orientierung berichtet wurde, auf Instagram. Auch an anderen Stellen werben offizielle Vertreter der katholischen und evangelischen Bistümer für die Akzeptanz von Homosexualität nebst anderen Verwirrungen. Es ist klar, dass dies mit der christlichen Botschaft im Allgemeinen und mit der Nächstenliebe nichts zu tun hat. Angebracht wäre ein liebevoller, doch bestimmter Umgang, dessen Ziel die Bewältigung dieser Unordnung ist.

Auch, wer meint, die Nächstenliebe gebiete, massenhaft Menschen in das eigene Land zu lassen, zusätzlich aus Kulturräumen, die dem eigenen konträr gegenüberstehen, irrt. Nächstenliebe bedeutet nie Selbstvernichtung. Betroffenen in Krisengebieten Hilfe leisten, das ist Nächstenliebe. Aber Menschen aufnehmen und versorgen, deren einziges Ziel es ist, sich auf Kosten anderer zu bereichern, hat nichts mit Nächstenliebe zu tun. Der afrikanische Kurienkardinal Robert Sarah sagte dazu: „Besser ist es, Menschen dabei zu helfen, in ihrer eigenen Kultur aufzublühen, als sie dabei zu unterstützten, in ein völlig dekadentes Europa zu kommen.“

Kurienkardinal Robert Sarah

Zur politischen Dimension der Nächstenliebe und insbesondere der damit verbundenen Feindesliebe weist Carl Schmitt in Der Begriff des Politischen auf die Wortwahl der Bibel hin. Das Deutsche kennt nur ein Wort für Feind. Im Lateinischen gibt es allerdings zwei Vokabeln: inimicus für den privaten Feind und hostes für den politischen Feind. Jesus spricht in der Bergpredigt vom inimico, dem privaten Feind. Was für den gesunden Menschenverstand klar ist, wird also bestätigt: Seinen Feind zu lieben, bedeutet nicht, als Staat oder Kirche vor ihm zu kapitulieren. Das feindliche Individuum soll geliebt werden, nicht jedoch die feindliche Macht und das, wofür der Feind steht. Schmitt fügt hinzu: „Auch ist in dem tausendjährigen Kampf zwischen Christentum und Islam niemals ein Christ auf den Gedanken gekommen, man müsse aus Liebe zu den Sarazenen oder den Türken Europa, statt zu verteidigen, dem Islam ausliefern.“ Inzwischen sind Christen zwar auf diese Idee gekommen, das macht seine Aussage aber nicht unwahr. Feindesliebe kann sich immer nur auf den privaten Bereich beziehen. Ebenso verhält es sich mit dem Hinhalten der anderen Wange – auch einem Inhalt der Bergpredigt.

Das heißt nun nicht, dass Nächstenliebe kein Argument in einer politischen Diskussion sein darf. Sie muss jedoch richtig begriffen werden. Es handelt sich bei ihr um göttliches Wirken. Sie entspringt aus Gott, wird durch Gott und führt zu Gott. Ohne Glauben fehlt ihr das Fundament. Sie ist kein Selbstzweck. Sie darf außerdem niemals als Deckmantel falscher Toleranz missbraucht werden. Ihr Wesen ist strebend, nicht statisch. Sie gibt sich nicht mit Mittelmäßigem zufrieden oder akzeptiert schlechte Umstände. Sie ist nicht wehrlos.

von Pius Geissel, angehender Student, korporiert, katholisch, Hanseat, als @gottvaterland auf Twitter aktiv.

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