Martin Buber – der Philosoph des dialogischen Nationalismus

von Henning Eichberg

Martin Buber – der Philosoph des dialogischen Nationalismus

„Als ich ein Kind war, las ich eine alte jüdische Sage, die ich nicht verstehen konnte. Sie erzählte nichts weiter als dies: , Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias.‘ Damals kam ich zu einem alten Manne und fragte ihn: ,Worauf wartet erV Und der alte Mann antwortete mir etwas, was ich damals nicht verstand und erst später verstehen gelernt habe; er sagte: ,Auf dich.‘“

Die nationale Frage in der Umbruchszeit

Als Martin Buber (1878 – 1965) die Bettlergeschichte im Jahre 1910 erzählte, fiel dies in eine Zeit neuen nationalen Aufbruchs, insbesondere in Osteuropa. Als Parabel von der jüdischen Identität war Bubers Erzählung ein Teil dieser Umwälzungen. Und doch legte sie sich zugleich quer dazu. Wie das?

Erinnern wir uns: Jahrhundertwende und Vorfeld des Ersten Weltkriegs. Es rührte sich auf dem Balkan, wo sich das osmanische Reich im Rückzug befand. Im Ilinden-Aufstand in Makedonien 1903 vereinigte sich zum ersten Mal das nationalrevolutionäre Projekt – makedonische Selbstbestimmung gegen türkische Fremd­ herrschaft – mit sozialrevolutionären und anarchistischen Visionen. Auch andere südslawische Völker und die Albaner waren dabei, sich von den türkischen bzw. habsburgischen Reichsstrukturen abzukoppeln. Im Habsburgerreich war die Sozialdemokratie – mit ihrer multinationalen Ideologie, aber deutschen Dominanz – seit den 1890er Jahren im Zerfall begriffen, und „nationale Sozialisten“ tauchten allerorten auf, unter Tschechen, Polen, Juden … 1905 hatten sich erste Signale des revolutionären Umbruchs auch in Rußland gezeigt, und unter den Einwirkungen des imperialistischen Kriegs (1914 – 18) sollte sich dies zu einem allgemeinen Auf­ruhr der Völker gegen das Zarenreich ausweiten. In der Folge dessen machten sich Finnen und Georgier, Armenier, Ukrainer, Polen, Esten, Letten und Litauer so­ wie verschiedene asiatische Völker selbständig.
(Ja, wir sprechen hier nicht von der Wende 1989/90. Oder doch?)

Am Westrand Europas erhoben zur gleichen Zeit erstmals Bretonen Forderungen gegen die französisch-zentralstaatliche Unterdrückung. In Irland befanden sich nationalistische Republikaner, gälische Kulturaktivisten und syndikalistische Gewerkschafter in gemeinsamer Auseinandersetzung mit der britischen Kolonialherrschaft, und zu Ostern 1916 versuchte man den bewaffneten Aufstand. Der Gewerkschaftsführer James Connolly, der eine gleichzeitig nationalrevolutionäre und syndikalistische Sicht der irischen Frage entwickelt hatte, wurde als Führer des Aufstands von britischen Truppen hingerichtet – und zum Nationalhelden.
Die nationale Frage stand in Europa auf der Tagesordnung. Die Völker forderten, zum Subjekt der Geschichte zu werden.

James Connolly – 1916 hingerichtet
Eine nationalrevolutionäre und syndikalistische Perspektive:
Die nationale Frage auf der Tagesordnung in Europa!

Damals – wie heute – stellte der revolutionäre Umbruch die Geglaubtheiten des bürgerlichen (und also auch des sozialdemokratischen und marxistischen) Weltbilds in Frage. Die Theorien über das Nationale als Übergangsphase im gesetzmäßigen Streben nach dem größeren Markt fielen in sich zusammen. Denn die Völker erschienen ja nun als die kleineren Einheiten an der Oberfläche. Und keinesfalls nur als bürgerliche Zwischenstufen. Die neuen Realitäten waren weder nur als luftige „Ideen“ noch nur von den ökonomischen „Interessen“ her zu verstehen – und schon gar nicht als „Verschwörungen“ (obwohl die paranoiden Deutungen damals wie heute blühten). Sondern sie waren politisch-gesellschaftlicher Ausdruck menschlicher Grundbedingungen. Eine spätere Zeit fand dafür das Stichwort: volkliche Identität.

Vom Zionismus zur Mystik

Martin Buber war der Philosoph der Identität, noch bevor das Wort in diesem Sinne – nationale Identität, kulturelle Identität – gefunden worden war. Er entwickelte die umfassendste Volklichkeitstheorie des 20. Jahrhunderts mit ihrem Mittelpunkt im „dialogischen Prinzip“. Von der Identität handelte auch seine Bettler­geschichte.

Judentum – das war Bubers Ausgangspunkt – ist nicht einfach objektiv da wie eine Sache – obwohl das reale jüdische Volk mit seinem materiellen Leben und seinen inneren Widersprüchen die Voraussetzung der jüdischen Identität ist. Judentum ist aber andererseits auch nicht nur ein subjektives Bekenntnis, die bewußte Identifikation mit einer Idee, einer Bewegung – obwohl Buber mit großem Einsatz für die zionistische Idee arbeitete. Sondern die „innere jüdische Frage“ ist mehr, und Bubers ganzes Lebenswerk kreiste um dieses „Mehr“. Das hatte etwas mit dem Messias zu tun. Doch gerade nicht mit dessen großartigem Reich, denn der Messias ist ein Bettler. Aussätzig sitzt er vor den Toren der großen Stadt. Die jüdische Frage hat mit diesem Ort zu tun, draußen vor. Und vor allem mit dem Warten „auf dich“. Das ist der Kern.

Das unschuldige „Du“ enthält die eigentliche volklich-nationale Pointe. Und so harmlos es wirken mag – was heißt schon „du“? –, es schließt die sozialistische und die religiöse Dimension mit ein. Von dieser Basis her erschließt sich erst die Bedeutung dessen, was es heißt, ein Volk zu sein. Es geht um „dich“.

Welche biographischen Erfahrungen lagen dieser Entdeckung zugrunde?
Martin Buber wurde 1878 in Wien geboren. Da seine Eltern kurz darauf geschieden wurden, verschwand seine Mutter aus seinem Leben, kaum daß er drei Jahre alt war. Der Mutterverlust trug gewiß dazu bei, daß ihm das „Du“ zu einem Problem werden konnte – zu einem Problem, das er ins Schöpferische wandte.

Buber wuchs dann bei seinen Großeltern in Lemberg auf. Seine Umwelt war geprägt vom wohlhabenden Großbürgertum, von jüdischer Gemeinde und volklicher Vielfalt. Um ihn herum sprach man deutsch, jiddisch, hebräisch, ukrainisch und polnisch.

Ab 1896 studierte Buber Philosophie und Kunstgeschichte in Wien, später auch in Leipzig und Zürich. Er beschäftigte sich mit der Neuromantik, mit Nietzsche und mit der deutschen Mystik – Nicolaus Cusanus, Paracelsus, Jakob Böhme, Meister Eckhart. Zugleich wurde er aktiv im jüdisch-nationalen Studentenmilieu und nahm an den ersten Diskussionen des aufkommenden Zionismus teil: Gibt es so etwas wie ein jüdisches „Volk“?

Die Jahre 1904 – 12 brachten jedoch einen grundlegenden Einbruch in Martin Bubers Leben. Er zog sich vom politischen Zionismus zurück und entdeckte – wohl aufgrund einer Lebenskrise und eigener visionärer Erlebnisse – die chassidische Mystik wieder. Während er seine Doktorarbeit über die deutsche Mystik abschloß, begann er, chassidische Legenden nachzuerzählen und herauszugeben. Das Chassidentum war eine spirituelle Bewegung, die mit Rabbi Israel, genannt Baal-Schem-Tow, im 18. Jahrhundert begann. Daß dieser Teil aus der reichen Kultur des Ostjudentums als literarische Erinnerung bewahrt worden ist – vor den Völkermorden des Stalinismus und des Nazismus –, ist Bubers Sammlerarbeit zu verdanken.

Rabbi Israel, gennat Baal-Schem-Tow
Begründer des Chassidentums im 18. Jahrhundert.

Die Wiedererzählung war jedoch mehr denn nur eine Reproduktion. Sie führte zu Bubers philosophischem Hauptwerk: „Ich und Du“, 1923.

Volklichkeit, Genossenschaftssozialismus und Volkshochschule

Als Martin Buber nunmehr zum Zionismus zurückkehrte, geschah das auf einer neuen Grundlage. Nun war es ihm möglich, klar zwischen zwei Formen des Nationalismus zu unterschieden. Den einen sah er als Signal, als einen notwendigen Hilferuf aus der Einsamkeit des Menschen und aus der gesellschaftlichen Entfremdung heraus, wie sie sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gezeigt hatte. Der andere repräsentierte diese Entfremdung selbst, es war die Hybris gegenüber den anderen Völkern.

Seinen eigenen Kulturzionismus bezog Buber auf den ersteren: Volklicher Nationalismus ist die Transzendenz der neuen Zeit. Das enthält eine permanente Auseinandersetzung mit dem anderen Nationalismus, der im Falle des Zionismus bedeutete, die Araber aus Palästina zu vertreiben und den „rein“ jüdischen Staat zu errichten. Der volkliche Nationalismus, für den Buber vergeblich warb, sollte dagegen das binationale Palästina ansteuern, jüdisch und arabisch zugleich, eine dialogische Kultur zwischen europäischer und asiatischer Spiritualität.

Das war insbesondere für das bürgerlich angepaßte Wohlstandsjudentum Westeuropas eine Provokation. Wenn wir das „Morgen in Jerusalem“ wirklich ernst meinen – so Buber –, dann bedeutet das die Re-Asiatisierung (oder eher: eine neue Asiatisierung) des Judentums. Für den jüdischen Bourgeois, der mit Abscheu auf den chassidischen „Kaftanjuden“ ebenso wie auf die Araber herunterschaute, war das ein harter Brocken.

Damit deutete sich schon die soziale, die sozialistische und gesellschaftskritische Dimension von Martin Bubers Beitrag an. Und sie bezog sich nicht nur auf die Juden. Entfremdung in der Industriegesellschaft ist nicht etwas, das durch staatliche Eingriffe oder parteipolitische Strategien abgeschafft werden kann. Sondern sie fordert permanent heraus zum alternativen Experiment. Sozialismus ist eine andauernde Anstrengung, kein System. Gustav Landauer, Bubers Freund aus der Münchener Boheme, entwickelte die Idee vom „Dorfsozialismus“. In der Genossenschaft – ein anarchistisches Projekt – läßt sich gemeinschaftlich der kapitalistischen Entfremdung entgegenarbeiten.

Die Genossenschaftsidee kam auf diese Weise – nicht zuletzt durch Martin Bubers Mitwirken – nach Palästina und wurde dort zu realer Praxis: als Kibbuz. Im Kibbuz vereinten sich die Ansätze des Sozialismus aus dem osteuropäischen Judentum und die Genossenschafts- und Siedlungsidee der deutschen Jugendbewegung (zu der Buber auch gehörte). Oder, um es in all seiner Paradoxie deutlich zu machen: Während die neuromantischen Siedlungsgenossenschaften der deutschen Jugendbewegung in Deutschland selbst scheiterten, hatten sie an einer ganz anderen Stelle Erfolg und Kontinuität – in Palästina. Und dies mit Martin Bubers philosophischer Vermittlung. Denn genossenschaftliche Arbeit heißt: „du“ sagen in der Praxis der Produktion und des Zusammenlebens. Sozialismus ist kein System und schon gar kein staatliches (er ist dem Staat eher entgegengesetzt). Sondern er ist das dialogische Prinzip in der gesellschaftlichen Praxis.

Die Ideen von Volklichkeit und Genossenschaft berührten nun das, was ein Hauptbeitrag Bubers zur Praxis des Zionismus wurde: die Bildungsidee.
Das volklich-nationale Handeln – so Buber – bliebe ohne Kontinuität, wenn es nicht gelänge, Brücken zwischen den Generationen zu bauen, institutionelle Brücken. Wie könnte das aussehen? Hier bezog sich Buber direkt auf den dänischen Dichter und Volksbildner Grundtvig und stellte die dänische Folkehüjskole (Volkshochschule) den Jungzionisten als Vorbild vor Augen. In der Folkehßjskole entfaltet sich – zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Jungen und Alten – das Lernen als Zusammenleben, bei Tag und Nacht, im Reden und Schweigen. Die dänische Volkshochschule sollte jedoch – so Buber – eine Erweiterung erfahren durch das, was die deutsche Jugendbewegung als Entdeckung und Gewinn gebracht hatte: körperliche Arbeit, Spiel und Tanz, Naturerlebnis und Bewegung – das gemeinsame Schweigen, abends, am Waldrand.

Buber selbst gründete 1919 das „Freie Jüdische Lehrhaus“ in Frankfurt am Main und widmete sich von nun an völlig der jüdischen Erwachsenenbildung. Sein Hauptprojekt wurde die Übersetzung der Bibel aus dem Hebräischen ins Deutsche.

Martin Bubers Tragödie bestand darin, daß, als diese große jüdisch-deutsche Übersetzung abgeschlossen war, das deutsch-jüdische Volk ausgerottet war.

Als die NS-Antisemiten 1933 zur Macht kamen, legte Buber selbst seine religionswissenschaftliche Professur an der Frankfurter Universität nieder. 1935 wurde ihm öffentliches Auftreten verboten. 1938 wanderte er nach Palästina aus, wo er Professor für Sozialphilosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem wurde.

Von nun an wurde Buber zur weltweit bekanntesten Kulturpersönlichkeit des neuen Israel – aber auch zu einer umstrittenen Gestalt aufgrund der proarabischen Orientierung seines Kulturzionismus. Orthodoxen Theologen erschien er geradezu als Ketzer. Und 1965, bei seinem Begräbnis, legten arabische Studenten Blumen auf seinen Sarg, der (und obwohl er) mit einer israelischen Fahne bedeckt war.

Bubers große Vision von einem dialogischen Verständnis der volklichen Identität hatte keine Chance in Israel. Sie war zutiefst ungleichzeitig.

Auch in Deutschland wurde Buber systematisch mißverstanden. Da hielt man von offizieller Seite her zwar seinen Namen hoch, weil er sich trotz der Schreckenstaten des deutschen NS-Staats nicht gegen das deutsche Volk aufbringen ließ. Die deutsch-jüdische Symbiose, so hatte er zwar schon nach der Kristallnacht fest­ gestellt, ist zerbrochen, und sie ist nicht wiederherstellbar. Aber was bleibt, sind die Völker – das jüdische und das deutsche, die zueinander „du“ sagen können und müssen.

Die Herausforderung wurde aber von den Nachkriegsregimes in den Deutschländern nicht aufgenommen, sondern Bubers menschliche Haltung wurde bei der Etablierung des westdeutschen Staates als Alibi mißbraucht. Zugleich verdünnte man seine humanistische Philosophie bis zur Unkenntlichkeit zu einem abstrakten Existentialismus. Ich selbst erinnere mich, in meinen Schulbüchern der fünfziger Jahre diesem Buber als einem zahnlosen, verwaschenen Allerweltsphilosophen begegnet zu sein. „Der Mensch an sich“ und ein langer Bart – ein Inbegriff von bürgerlicher Harmlosig- und Unschädlichkeit. Der große Mystiker des Judentums, der Theoretiker des Nationalismus und der Anarchie wurde uns damit ferngehalten. Erst hatte man sein Volk nach Auschwitz gesandt. Nun löschte man auch noch das Wissen um den revolutionären Denker aus. Deutlicher konnte sich die Schande des westdeutschen Staates kaum ausdrücken.

Viel mußte geschehen, damit diese Stagnation – ja, „Stagnation“ sollte man sie nicht nur in Rußland nennen – überwunden wurde. 1968 mußte kommen – und doch, der Jammer setzte sich fort. Der Jugendaufruhr entdeckte trotz seines subjektiven Antinazismus den antiautoritären Revolutionär Buber eben nicht wieder. Erst die Revolution von 1989 in Osteuropa hat unüberhörbar die nationale Frage neu auf die Tagesordnung gesetzt. Nun wird man um Martin Bubers Dialog- und Volklichkeitsphilosophie nicht mehr herumkommen – ein Licht, das aus dem Osten kam.

„Du Baum“

In seinem kleinen Buch „Ich und Du“, seinem philosophischen Hauptwerk, formulierte Martin Buber 1923, was man „die kopernikanische Tat des modernen Denkens“ genannt hat: die Entdeckung des Du.

In poetischen Wendungen geht Buber dabei aus von der Frage, was es bedeute, „du“ oder „es“ zu einem anderen Wesen zu sagen. Sage ich „es“ („er“) über einen Baum, so erscheint mir der Baum als Gegenstand der Erfahrung oder der Verwendung. Ich kann den Baum als ein Bild betrachten, ich kann ihn in das System der Arten einordnen, ich kann ihn von den Naturgesetzmäßigkeiten – Energieumwandlung, Evolution, Statik – her analysieren, ich kann ihn vermessen, ich kann ihn zersägen. Auch wenn ich ihn im Gedicht beschreibe nach Farbe und Duft, bleibt er doch ein „Es“, mir gegenüber das Andere, von mir getrennt.

Aber: ich kann auch „du“ sagen zum Baum. Mit einem Schlage verändert er sich für mich, und damit wälzt sich zugleich das ganze Verhältnis um. Es wird zur Relation. „Du Baum“. Du Baum enthältst zwar all das andere auch, das dich als ein „Es“ charakterisiert: Farbe und Chemie, Harzduft und Rauschen, biologischen Kreislauf und Gebrauchswert, Maß und Bild. Aber zum einen ist es deine Ganzheit, die mir im Du entgegentritt. Und zum anderen: „Beziehung ist Gegenseitigkeit. „ Es ist also nicht dein Stoff und auch nicht deine, des Baumes „Seele“ oder „Idee“, die mir im Du begegnet. Sondern du bist es als Baums selbst – und als das Andere in der Beziehung.

Der Unterschied zwischen Es und Du läßt also letztlich das Ich nicht unberührt. Das Ich, das „es“ („er“) sagt zum Baum, ist ein anderes als dasjenige, das „du“ sagt. Das Ich für sich genommen gibt es nicht. Das Ich wird vom Du bestimmt.

Unter dem Aspekt der Entwicklung ist Bubers Pointe, daß nicht das Ich den Ursprung und Ausgangspunkt bildet, weder in der Entwicklung des einzelnen Menschen noch in der Geschichte der Menschheit. Damit wendet sich Buber frontal gegen die Annahmen des westlichen Ego-Zentrismus. Nein, nicht als Ich beginnen wir unseren Weg, sondern als Kind in der Du-Welt, im Leib der Mutter und auch noch nach der Geburt. Erst später entdeckt das Kind die Objektivierung des Es und das Subjektive des Ich.

Historisch gesehen bedeutet das, daß eine – tragische – Notwendigkeit die Transformation vom Du zum Ich und zum Es antreibt. Der geschichtliche Prozeß führt zur Verdinglichung von Beziehungen. „Jedem Du in der Welt ist seinem Wesen nach verhängt, Ding zu werden. „ Es führt kein Weg zurück in den Schoß der Gro­ ßen Mutter. Das „Zurück zum Du“ wäre Schwärmerei.

Aber das ist noch kein Grund, die ,,Zwingherrschaft des wuchernden Es“ widerstandslos hinzunehmen. Buber hielt hier die kulturkritische und sozialistische Perspektive fest und nannte dies „das dialogische Prinzip“. Es ist und bleibt eben doch das Du, das uns als die dritte Art der Weltbegegnung herausfordert, jenseits von Ich und Es. Also: zwar keine Illusion über die Herstellung einer heilen Welt des Du. Aber andererseits: nie vergessen, worin unsere Menschlichkeit besteht. Ihr Kern liegt im Verhältnis zum Du. Der Dialog ist möglich, trotz der Expansion des Es – also im Trotz – und zugleich als die tiefste Aufgabe des Menschen. In der Liebe.

Im letzten Teil seines Buches näherte sich Buber der theologischen Pointe des Du. Was die Menschen „Gott“ nennen, ist nichts anderes als ein großes Du, das ewige Du. Wie sollten wir sonst zueinander „du“ sagen können, wenn es nicht die Bedingung der Möglichkeit gäbe, „du“ zu sagen? Gebet und Opfer sind konkrete Formen, sich dem großen Du in Worten und Handlungen zuzuwenden. Gott ist also nicht etwas, das wir als „Es“ (oder „Er“) beschreiben, deuten, erklären, theologisch dogmatisieren, katechisieren oder auch nur benennen können. Zu Gott kann der Mensch nur „Du“ sagen. – Aber auch hier schlägt der Verdinglichungsprozeß durch. „Glaube“ und Theologen machen Gott zu einem Wesen, über das man Sprechen könne, zu einem Gegenstand, zu einem monologischen Er. Der Gott als Glaubensinhalt und als Kultobjekt wird zum Es. Aber Meditation und mystische Erfahrung öffnen den Weg erneut zum Dialog.

All dies ist mehr denn nur abstrakte Philosophie, mehr als ein trialektisches Gedankenspiel. Die Philosophie des Du enthält Politik, Gesellschafts- und Kulturkritik und nicht zuletzt eine praktische Pädagogik (oder: Antipädagogik).

Dialogische Bildung im Sinne Bubers bedeutet: Hören geht vor Lesen, Lernen geht vor Wissen. Oder was Grundtvig „das lebendige Wort“ genannt hat, das sich nicht im – „toten“ – Buch und Buchstaben verfestigt, sondern zwischen lebenden Menschen dialogisch ausgetauscht wird. So daß nicht zuletzt der Lehrer vom Schüler lernt. Das Wort ist ein Hauptmedium der pädagogischen Begegnung, doch nicht als Grammatik, sondern als Rhythmus und Ton, als Mantra, als – so Buber – „Sprachleiblichkeit“. Der Körper im Ganzen ist die Basis des Dialogs. Wie Baal-Schem-Tow es ausdrückte: „Sehen lernen, daß in aller Leiblichkeit ein heiliges Leben ist und daß man alles zu dieser ihrer Wurzel zurückführen und heiligen kann.

Die Trialektik des Nationalismus

Von der Philosophie des Du her wird nun deutlich, daß Martin Bubers konkrete Stellungnahmen zu nationalen Fragen, zum Zionismus, zum binationalen Palästina, zum deutschen Volk (unter und nach dem Nazismus) usw. weit mehr waren als nur Ausdruck allgemein humanistischer oder individuell toleranter Haltungen. Sie hatten einen inneren Zusammenhang. Sie waren verbunden mit und in einer revolutionären Philosophie des Lebens, die das Dialogische in den Mittelpunkt stellte.

Die Philosophie kann daher zu einer differenzierten theoretischen Auffas­ sung vom Nationalen führen, von Nationalismus und nationaler Identität. Sie enthält im Kern eine alternative Identitätstheorie.

Normalerweise faßt man nationale und kulturelle Identitäten als etwas auf, worüber man spricht. Wer oder was sind „die Deutschen“, „die Juden“ …? Wie definiert man sie, wie grenzt man sie ab? Die extremste Form solcher Objektivierung brachte der Rassismus. Er mißt „die anderen“ (und die eigenen!) in Zentimetern – „Gehirnindex“ – und in Punkten – „Intelligenzquotient“. Aber er ist bei weitem nicht die einzige Ausprägung des „wuchernden Es“.

Die Identifikation mit Staat und Verfassung – „Verfassungspatriotismus“ – ist ein anderer Ausdruck solchen Nationalitätsmodells. Im Sport verläuft die Identifikation über die meßbare Leistung, kristallisiert in den internationalen Rangtabellen des Olympismus – Albertville: „Deutschland erfolgreichste Nation“ (F.A.Z.). Die Identifikation mit Wachstum und Produktivität – einschließlich der neuen „EG- Identität“ entspricht dem, was man in der einstigen Sowjetunion ironisch „Tonnenideologie“ genannt hat.

Diesem Objektivismus gegenüber steht das Individuum als Subjekt mit seinem Identitätssuchen: Wer bin ich? Die Ich-Identität enthält subjektive Erfahrung und Betroffenheit, die in der Thematisierung des Es-Identität zu verschwinden droht.

Das Verhältnis zwischen Es- und Ich-Identität wird anschaulich beschrieben in einer chassidischen Legende, die Martin Buber erzählt hat:

Rabbi Chanoch erzählte: „Es gab einmal einen Toren, den man den Golem nannte, so töricht war er. Am Morgen beim Aufstehn fiel es ihm immer so schwer, seine Kleider zusammenzusuchen, daß er am Abend, dran denkend, oft Scheu trug, schlafen zu gehn. Eines Abends faßte er sich schließlich ein Herz, nahm Zettel und Stift zur Hand und verzeichnete beim Auskleiden, wo er jedes Stück hinlegte. Am Morgen zog er wohlgemut den Zettel hervor und las: ,Die Mütze“ – hier war sie, er setzte sie auf, ,Die Hosen“, da lagen sie, er fuhr hinein, und so fort, bis er alles anhatte. ,Ja, aber wo bin ich denn?“ fragte er sich nun bang, ,wo bin ich geblieben?’ Umsonst suchte und suchte er, er konnte sich nicht finden.“ – „So geht es uns“, sagte der Rabbi.

Aber auch das Ich-Sagen – so sehr es den Horizont des „Golem“ und seiner Zettelwirtschaft erweitert – ergibt nur einen beschränkten Diskurs. Wo die Objektivierung – mit Bleistift und Papier – festschreibt, da macht die Subjektivität es schwer, wenn nicht gar unmöglich, intersubjektiv zu kommunizieren. Wer „ich“ bin – was kann ich davon „dem anderen“ vermitteln? Und was geht es ihn eigentlich an? Dasselbe gilt für die Problematik der zwischenvolklichen Verständigung.

Darum ist die Du-Identität die wesentliche Dimension des Nationalitätsdiskurses. Aber sie ist auch die vergessene Dimension. Bubers Geschichte vom aussätzigen Bettler erzählt von einigen solcher Du-Aspekte: Dialog zwischen „mir“ und dem alten Manne, Beziehung zwischen dem Messias und dem Volk, Anrede zwischen Gott und „dir“.

„Der Bund ist mir nicht aufgekündigt“

Der dritte Weg, der im Du-Nationalismus liegt, führt über die Liebe, nicht über den Haß. Ein lebendiges Bild davon gab Martin Buber 1933:

Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich eine Tradition meiner Ahnen bindet; und ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber. Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt. Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber. Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofsgewirr zu der herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf. Da unten hat man nicht ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen. Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. Man hat die Leiblichkeit des Menschen, die dazu geworden sind. Man hat sie. Ich habe sie. Ich habe sie nicht als Leiblichkeit im Raum dieses Planeten, aber als Leiblichkeit meiner eigenen Erinnerung bis in die Tiefe der Geschichte, bis in den Sinai hin. – Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist die Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraumes nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels. – Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist aller Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber gekündigt ist mir nicht.

Meine eigene Identität setzt also das Vorhandensein einer anderen Identität voraus, das ist eine existentielle Bedingung. Das Eigene kann nur sichtbar gemacht werden durch eine Beziehung, durch eine Relation. Das führt eine fundamentale Relativität mit sich, der das Du-Verhältnis unterliegt. Was ich in bezug auf „dich“ erlebe – nicht zuletzt: durch dich an mir selbst erlebe –, ist ein ganz anderes als das, was ich in bezug auf ein anderes Du erlebe – und somit „bin“. Diese tiefgehende Relativität gilt als Kulturrelativität auch zwischen den Völkern. Insofern gibt es „die“ Identität der Deutschen so wenig wie diejenige „der Franzosen“, „der Juden“, „der Bayern“, „der Homosexuellen“ …, sondern stets nur die Identität in bezug auf …

Und: Liebe zu den Eigenen und zur Welt der Anderen schließen einander nicht aus. Im Gegenteil, sie bedingen einander.

Damit nahm Buber Gedanken von Herder und Grundtvig wieder auf. Durch den Dialog der Liebe zwischen Volk und Volk spricht der Mensch zum ewigen Du. Insofern ist Nationalismus Gottesdienst. Und nur insofern.

Dennoch Demokratie wagen?

Es war kein historischer Zufall, daß Erfahrungen, wie sie Martin Buber ausdrückte, zum Begriff der volklichen Identität führten. Die „Identität“ als Beziehung eines kulturellen, also kollektiven Zusammenhangs trat mit Erik H. Erikson in den Diskurs der Sozialpsychologie, entwickelt vor einem jüdischen – deutschen, dänischen – Erfahrungshorizont (Schwartz 1989). Entsprechende Kulturerfahrungen bildeten den Grund für das, was man im Westen als „ethnic revival“ bezeichnet (vom Jiddischen her: Fishman 1984). Und in Mittel- und Osteuropa sind die treffendsten Beobachtungen zur nationalen Frage aus ähnlich gelagerter Sensibilität heraus entstanden, bei György Konrad und Günther Nenning zum Beispiel.

Was bei Herder als deutsche Romantik begann, befindet sich im 20. Jahrhundert also „in jüdischen Händen“. Das hat seine gute Logik, aber es ist auch zugleich die Geschichte eines deutschen Versagens, eines Versagens der „anderen Deutschen“. Die Geschichte hat eine paradoxe Antwort auf die „Kristallnacht“ gegeben. – Aber das geht nicht nur diese beiden Völker an.

Und damit sind wir wieder beim Umbruch von 1989 angelangt, bei dem, was nicht eine „neue Weltordnung“ wurde, sondern eine neue „Weltunordnung“ (Willy Brandt). Eine neue Vielfalt wurde sichtbar (die durchaus auch eine alte war – oder wurde?): Georgier, Osseten, Ukrainer, Weißrussen, Moldawier, Armenier, Aserbaidschaner, Wolgadeutsche, Letten, Litauer, Esten, Karelier, Krimtataren, Tschetschenen, Kroaten, Slowenen, Bosnier, Makedonier, Bretonen, Schotten, Waliser, Basken, Katalanen, Friesen, Sorben, Usbeken, Kasachen, Tadschiken, Kirgisen, Turkmenen, Mongolen, Tibeter, Kurden, Inuit in Sibirien, US-Alaska, Kanada und Grönland, Sami in den nordischen Staaten … Und wer will nun behaupten, an diesem Punkte sei Schluß? Welche Völker werden noch aus dem „Dunkel der Geschichte“ auftauchen, das nichts anderes ist als die Verdunkelung eines westlichen Bewußtseins? Aus dem Dunkel der Moderne ins Licht der Transmoderne mit ihrer neuen Mannigfaltigkeit und „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas)? Vielfalt ist ein Gewinn für die Demokratie, für Demokratie als Lebensform. Volk ist die Basis von Selbstbestimmung.

Aber das ist nur die eine Seite. Auf der anderen vervielfältigen sich auch die Konfliktflächen und Spannungsfelder. Aserbaidschaner gegen Armenier, Polen gegen Juden und Deutsche, Bulgaren gegen Türken, Rumänen gegen Ungarn, Ungarn gegen Juden, Serben gegen Albaner, Deutsche gegen Polen, Russen gegen Juden, Georgier gegen Osseten …

Die großen Reiche der Moderne – Sowjetunion, USA, EG – pfleg(t)en ihre Zentralmachtbildung und die Aufhebung demokratischer Rechte von solchen Konflikten her zu rechtfertigen. Und sie schufen damit neue Konflikte und Massaker. Aber tatsächlich: Demokratie ist nicht ohne Kosten.

Gerade darum stellt sich die Aufgabe, das Phänomen des Nationalismus bis in seine sozio-psychologischen Voraussetzungen und Tiefendimensionen hinein zu durchdenken. Nationalistische Aggression oder imperial-multinationale Repression – das ist nicht die einzige Alternative. Wir leben nicht mehr in der Zeit von 1939-89. Die volkliche Selbstbestimmung steht auf der Tagesordnung. Aber nationale Demokratie kann ohne das Du-Sagen nicht wirken. Was heißt das praktisch?

Martin Bubers dialogische Auffassung von Nation blieb unverstanden und war ungleichzeitig zu seiner Zeit. Heute ist unüberhörbar, daß der Bettler „auf dich“ wartet.

Literatur:

Martin BUBER: Ich und Du. 1923. Nachdruck in: Das dialogische Prinzip. Hei­delberg 1973.
—: Der Jude und sein Judentum. Köln 1963.
—: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich, 10. Aufl. 1987.
Henning EICHBERG: „Eingegrabene Spuren“. Oder: Die deutsche Identität ge­gen den westlichen Strich gebürstet. In: Niemandsland Nr. 8/9 (1989), 78-85.
Poul ENGBERG / Henning EICHBERG: Folkenes Europa. Odder 1989. Joshua FISHMAN et al.: The Rise and Fall of the Ethnie Revival. Berlin 1984. György KONRÄD: Mein Traum von Europa. In: Kursbuch Nr. 81 (1985), 175-13.
Gustav LANDAUER: Staat und Geist. Anarchistische Texte. Berlin 1978. Güther NENNING: Grenzenlos deutsch. München 1988.
Jonathan Mathew SCHWARTZ: In Defense of Homesickness. Kopenhagen 1989. Gerhard WEHR: Martin Buber. Reinbek 1968.

Henning Eichberg

Henning Eichberg (1942 – 2017), Kultursoziologe und Historiker, der seit 1982 in Dänemark lehrte, war bereits seit den ersten Ausgaben der Zeitschrift wir selbst (Gründung im Jahre 1979) der inspirierende Kopf. Sein intellektuelles Fluktuieren zwischen rechten und linken Denkströmungen, seine linksnationale, ethnoplurale Kritik am rechten Etatismus und seine radikale ökologische Orientierung wurden für uns programmatisch wegweisend, jedoch nie zu Dogmen.

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