Wer von den Völkern nicht reden will, soll von den Menschen schweigen.

von Henning Eichberg

Wer von den Völkern nicht reden will, soll von den Menschen schweigen.

Fragmente zur neuen Unübersichtlichkeit

Staaten verschwinden

(1.) Innerhalb von zwei Jahren – seit 1989 – sehen wir drei oder vier Staaten Europas auseinander- oder zusammenbrechen: DDR, Sowjetunion, Jugoslawien, Tschechoslowakei.

Warum gerade diese? Sicher ist: bei ihnen allen handelt es sich um multinationale oder „nationslose“ Staaten. Sie hatten sich an der synthetischen Nationskonstruktion versucht: „Sozialistisches Vaterland“, „Sowjetmensch“. Nun erleb(t)en sie die Entkolonisierung.

Andere Staaten blieben als politische Einheiten von ihren politischen und sozialen Umwälzungen unberührt: Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Albanien.

Warum gerade diese? Ihre relative Stabilität ist um so überraschender, als diese Länder z. T. wirtschaftlich eher noch ruinierter und verelendeter sind als die erstgenannten. Aber diese armen Länder üben sogar über ihre Staatsgrenzen hinweg Anziehungskraft aus: Albanien auf Kosovo, Rumänien auf Moldawien. – In allen fünf Fällen staatlicher „Stabilität“ handelt es sich um Nationalstaaten.

Die aus den Auflösungsprozessen heraus neu entstehenden Einheiten bilden sich nun alle – dem Anspruch nach – als nationale heraus. Estland, Lettland, Litauen, Rußland, Ukraine, Weißrußland, Georgien, Armenien, Aserbaidschan, Moldawien, Kroatien, Slowenien, Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Makedonien, Serbien, Tschechei, Slowakei – aber auch Ossetien, Karelien, Tatarei, Tschetschenien… Das Mißverständnis liegt nahe, es handele sich um eine Rückkehr zu „nationalstaatlicher Normalität“, wie sie insbesondere von bürgerlichen Politikern Westdeutschlands verstanden wird. Und doch: was ist „normal“ an diesen Umwälzungen, die dieselben Politiker noch um 1988/89 für unmöglich erklärt hatten? Was ist berechenbar an den nationalen Souveränitätserklärungen von morgen? Das volkliche Prinzip ist weiterhin weniger „normal“ denn revolutionär.

Und was bedeutet das für die Zukunft von Wales, Schottland, Bretagne, Korsika, Elsaß, Baskenland, Katalonien, Aosta, Südtirol, Samiland, Friesland, Sorbien …?

Demonstration für die Freilassung baskischer politischer Gefangener
Quelle: http://euskalherria.indymedia.org/eu/2008/05/49560.shtml

Nationalpazifismus

(2.) Friedensbewegung und Friedenspolitik sind von den neuen Gegebenheiten herausgefordert. Der „Frieden“, der von oben her oktroyiert worden war, hat zum Krieg geführt, in Serbien/Kroatien, in Armenien/Aserbaidschan, in Georgien/Ossetien. Offenbar waren die Hoffnungen auf imperiale Friedenssicherung gegen die Völker naiv.

Friedenspolitik ist daher umzudenken: als Frieden zwischen den Völkern.

Mit anderen Worten: keine Kultur des Friedens ohne das Subjekt der Völker.

Keine Friedensbewegung um die nationale Frage herum. Wer von den Völkern nicht reden will, soll nicht glauben, daß er vom Frieden spreche.

Das Rom-Syndrom

(3.) Nach der westlichen Staatsdoktorin dürfte der Zusammenbruch der multinationalen Staaten nicht geschehen sein. Denn ihr zufolge gehört die nationale Frage – als die antikoloniale Frage der Identitätsbehauptung und der demokratischen Selbstbestimmung von Völkern – „der Vergangenheit an“.

Die Massaker und Repressionen, die im Namen „Jugoslawiens“ gegen die Kosovo-Albaner und gegen die Kroaten ausgeübt wurden, waren nicht zufällig durch einige (multinationale) westliche Staaten – Großbritanien, Frankreich – gedeckt. Sondern sie konnten auch auf das Verständnis der westlichen Ideologie insgesamt rechnen: Die Gewalt des Fortschritts gegen „das Archaische“ sei zwar unschön, aber gerechtfertigt. Daß nach 1989 – vorläufig – nicht auch im Namen der „Sowjetunion“ aufbegehrende Völker massakriert worden sind, ist nicht der westlichen Doktrin positiv zuzuschreiben, sondern dem politischen Augenmaß der neuen Kräfte in den betreffenden Völkern, insbesondere im russischen Volk.

Die westliche Staatsdoktrin – auf den Staat komme es an, nicht auf das Volk – ist der ideologische Überbau über einer realen Basis historischer Erfahrung: der Psychostruktur des – insofern fortbestehenden – römischen Reiches. Das Rom-Syndrom heißt: Großstaat und Größerwerden, Wachstum, starkes politisches Zentrum, eine Mauer rings um das Reich, die Barbaren draußen „die Zivilisation“ drinnen – und die Dissidenten in den Untergrund. Die Macht den Mächtigen, die „Anarchisten“ hinter Gittern oder außerhalb des Limes.

Darum errichten westliche Staaten genau in dem Augenblick, da der Osten Europas sich davon befreit, eine neue multinationale Reichsstruktur.

Insofern ist der Westen – die Westunion, die kapitalistische „Europäische Gemeinschaft“ – aus dem Tritt des historischen revolutionären Prozesses.

Das Ende der Westunion denken

(4.) Die kapitalistische Gewalt des neuen „Rom“ läßt es allerdings kaum als aussichtsreich erscheinen, sich gegenwärtig der Dynamik des – ungleichzeitigen, regionalen – Zentralisierungsprozesses entgegenstellen zu wollen. Die Anti-EG-Bewe- gungen, z. B. in der dänischen, norwegischen, schwedischen und finnischen Linken, haben einen klaren Blick, aber wenig Aussicht auf Erfolg.

Wohl aber ist es realistisch, sich mit dem Eintritt bereits auf ein kommendes Szenario einzurichten: auf den Zusammenbruch des Experiments EG. Das Schicksal der Westunion ist durch das Ende der Sowjetunion präformiert.

Das wird neue Probleme schaffen, da die Strukturen demokratischer Selbstbestimmung im gegenwärtigen Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozeß abgeschafft werden. Der Unfrieden und das Elend des Auflösungsprozesses, der sich an die Westunion anschließen wird, ist von deren Machern zu verantworten. Am Ende des Tunnels tauchen die Völker wieder auf.

Was kommt nach dem Frieden?

(5.) Mit der Frage nach dem Danach relativiert sich auch der einzige Gewinn, den die EG als ein „neues Rom“ den Völkern bringt: die Sicherung des Friedens. Die neue Pax Romana ist in ihrer friedensstiftenden Wirkung nicht zu unterschätzen – ebenso wie die Pax Sovietica der Vergangenheit. Auch Stalin brachte den Nicht-Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan, zwischen Ossetien und Georgien. Der Nicht-Krieg ist ein Gewinn gegenüber dem Krieg.

Aber es gibt auch den Frieden zwischen Mauern, den Nicht-Krieg in der Einsperrung. Dessen Begrenzung liegt in der Szenarien-Frage: Was folgt nach der Einsperrung? Es ist also Frieden nicht gleich Frieden. Die Friedenssicherungen von oben – Pax Romana, Sowjetfriede – haben bislang den Unfrieden der Zukunft vorbereitet.

Damit ist die europäische Frage als Friedensfrage offen.

Sorbischer Osterritt, Fotograph: Rico Löb

Westdeutschlands strukturelle Unfähigkeit zur Wiedervereinigung

(6.) Was sich in Deutschland nach der Revolution von 1989 getan hat, wird man in der Zukunft einmal zur Schande unserer Geschichte rechnen.

Das friedliche und erfolgreiche Aufbegehren eines Teiles unseres Volkes wurde umgedreht in die Be­setzung eben dieses Teiles. Der selbstbefreite Teil des Landes wurde dem anderen unterworfen, der sich nicht verändern zu müssen behauptet. Statt einer Wiedervereinigung erfolgt der „Anschluß“: Großwestdeutschland.

Ökonomisch brachte dies eine neuartige Ausbeutung von Deutschen durch Deutsche. Die im Rahmen des Ostblocks durchaus konkurrenzfähigen Werke der DDR wurden dem „freien Markt“ und das heißt: nicht selten zweit- und dritt­rangigen Spekulanten und Wirtschaftskriminellen ausgeliefert. Der Energiesektor, Kernstück jeder industriellen Wirtschaft, bildete das Grundmuster des Anschlusses ab: Die stalinistischen Monopolstrukturen wurden durch ebenso monopolisti­ sche Energiekonzerne des Westens abgelöst. Stalinistisches Monopol und atomares Risiko (Tschernobyl) wurden auf neuer Kapitalgrundlage stabilisiert.

Aber es ging um mehr denn abgehobene Strukturen: um das Alltagsleben und die Identität der Deutschen. Erst Großwestdeutschland bewirkte die Zweiteilung, die die DDR nie hatte verwirklichen können: in Ossis und Wessis. Wird das die Grundlage sein für ein fortwirkendes Trauma in der deutschen Geschichte? – Jedenfalls zeigt es die Verflechtung von Klassenkampf und Identitätsprozessen. Die im Westen ansässigen Landeigentümer erhielten freie Hand für eine Ausbeutung bisher unbekannter Art: Landeigentümer West gegen das Volk im Osten.

Klassenkampf (und aus dem Hausverkauf im Osten finanzierte Weltreise) der Vermögenden statt volkliche Solidarität.

Das war die Niederlage der deutschen Linken. Sie hätte als einzige politische Kraft die deutsche Frage zu alternativen Szenarien hin weiterdenken können – vor der Zeit. Statt dessen leugnete sie die Existenz der deutschen Frage und schloß sich – als es zu spät war – der großwestdeutschen Lösung an.

Das war mehr als nur ein „Fehler“. Es ist ein altes Leiden. Auch die deutsche Linke unterlag dem römisch-westlichen Komplex: nicht von den Völkern her zu denken.

Sollte das veränderbar sein?

Neue Verantwortlichkeit

(7.) Auch die möglichen Alternativen in der Friedenspolitik wurden damit zunächst verfehlt. Deutschland bleibt ein besetztes Land, integriert in das Militärbündnis Nato. Es bleibt eingebunden in die Pläne zu neuen Aggressionen gegen Länder der Dritten Welt. Bürgerliche Politiker bereiten die „neue Verantwortlichkeit“ vor, „deutsche Truppen außerhalb des Nato-Gebiets“. Der Völkermord an den Kurden – eine Folge des amerikanischen (und deutschen) Golfkriegs und des Bündnisses mit dem türkischen Folterstaat – zeigt die Zukunftsperspektiven solcher „Verantwortlichkeit“.

Das alternative Szenario der Abkoppelung stellt sich damit nur noch dringlicher. Statt „Verantwortung“ der Macht und des Militärs – die Solidarität von Volk zu Volk. Herder im 21. Jahrhundert.

Die deutsche Frage ist weiterhin offen.

Samische Familie um 1900
Samische Familie um 1900
Quelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons

Volklichkeit und Vielfalt

(8.) Das Nachdenken über die Aktualität des Volklichen führt nicht dahin, daß die Völker Konstanten der Geschichte seien. Es erbringt lediglich, daß die Staaten in noch geringerem Maße Konstanten sind. Die Verfassungspatriotismen kommen und gehen… die Völker gehen ihren Weg.

Ferner: die Einsicht in die historische Wirtklichkeitsmacht der Völker ist nicht moralisierender Art, sondern empirischer. Die Nation ist nicht als solche „gut“. Sondern sie ist ein Produkt gesellschaftlicher Logik, historischer Notwendigkeit. Sie ist Erfahrung. Allerdings – die Empirie hat moralische Konsequenzen. Ein Nicht-Anerkennen solcher historischer Logik ist eine Voraussetzung dafür, daß die nationale Dynamik nicht zum Guten ausschlagen kann. Das Leugnen der Nation ist die Grundlage der Massaker. Die „jugoslawische Lösung“ des Völkermordes ist nicht nur ein Modell für Völker des Balkans.

Das mag zu einer weitergehenden Frage führen: Vielleicht ist das multikulturelle Zusammenleben – Ethnopluralismus – in der Gesellschaft unter den Bedingungen dieser Jahrtausendwende nur noch möglich im Rahmen nationaler Einheiten? Gerade multinationale Gebilde sind nicht oder nicht mehr in der Lage, ihre Minderheiten zu schützen.

Dänemark ist ein Beispiel dafür, wie auf der Grundlage nationaler Identität die Multikulturalität eines Landes entwickelt werden kann (Steven M. Borish: The Land of the Living. Nevada City 1991). Dänen retteten – als einziges Land Europas – während des Zweiten Weltkrieges die Juden ihrer Nation. Dänemark gab der deutschen Minderheit in Nordschleswig weitgehende Rechte. Island wurde ein unabhängiger Staat.

Färinger und Grönländer errangen ihre Autonomie. Und die Folkehojskoler, die Stätten alternativer volklicher Bildung, haben sich den Einwanderern früher und entschiedener geöffnet als andere Milieus.

Der Schutz der Multikulturalität innerhalb der nationalen Einheiten ist daher eine vorrangige Aufgabe – nicht nur politischer, sondern gerade auch psychologisch-moralischer Art. Eine Aufgabe mit psychologischen Dimensionen ist sie auch deswegen, weil der Gewalttäter durch die Gewalt auch und besonders sich selbst schädigt – sich selbst und seine eigenen Nachkommen bis ins – wievielte? – Glied (Peter Sichrowsky: Schuldig geboren. Köln 1987).

Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag in Sanok – Volkstanz ‚Krakowiak‘

„Du“ sagen

(9.) Die Frage bleibt nicht nur, sie stellt sich neu und drängender denn je: Was ist das Volk? Wo Bevölkerung das Objekt des historischen Prozesses und der Macht ist, eine statistische Größe, da ist das Volk Subjektivität, Besonderheit, die Vernunft des historischen Prozesses.

So stellen sich die philosophischen Grundfragen der Demokratie neu.

„Selbstbestimmung“ – wer ist das (kollektive) Selbst? „Wir“ sind das Subjekt der Geschichte – wer sind wir? „Alle Macht geht vom Volke aus“ – wer ist das Volk?

Die Denkanstöße von Johann Gottfried Herder, N.F.S. Grundtvig und Martin Buber waren kaum jemals so aktuell.

Die Frage nach dem Volklichen ist nicht weniger denn eine Philosophie des Alltagslebens, der Identität, der Subjektivität und der Transzendenz des Menschen. Wer sind „wir“? Was geschieht, wenn wir „du“ zueinander sagen – zu unseresglei­chen und zu unseresfremden?

Insofern liegt die volkliche Frage nicht primär „draußen“, in der Politik jenseits der Menschen. Balkanization for practically everyone – nannte Michael Zwerin 1976 den neuen Nationalismus. Balkanisierung für jedermann.

Bevor dies zur Staats- (oder Antistaats-)Politik wird, ist es zuvörderst etwas anderes: Psychologie. Die Psychologie der Transmoderne?

Und die Transmoderne ist zugleich Erinnerung:

Seh ich die Völker an,
werd ich vor Wunder bleich.
Daß sie so ungleich sind,
vielmehr noch, daß sie gleich.

(Frei nach Daniel von Czepko von Reigersfeld, Schweidnitz/Schlesien um 1648)

Dieser leicht gekürzte und aktualisierte Artikel ist zuerst vollständig erschienen in dem Sammelband:

Henning Eichberg: Die Geschichte macht Sprünge, 1996

Das Buch ist hier erhältlich.

Henning Eichberg

Henning Eichberg (1942 – 2017), Kultursoziologe und Historiker, der seit 1982 in Dänemark lehrte, war bereits seit den ersten Ausgaben der Zeitschrift wir selbst (Gründung im Jahre 1979) der inspirierende Kopf. Sein intellektuelles Fluktuieren zwischen rechten und linken Denkströmungen, seine linksnationale, ethnoplurale Kritik am rechten Etatismus und seine radikale ökologische Orientierung wurden für uns programmatisch wegweisend, jedoch nie zu Dogmen.

Autor der Bücher:

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