Geschichtsvergessenheit im wissenschaftlichen Gewand

von Hermine Brandenburger

Geschichtsvergessenheit im wissenschaftlichen Gewand

Als ich mich entschied, mich im Studium auf mittelalterliche Literatur und Geschichte zu spezialisieren, spielte dabei auch der Gedanke eine nicht unerhebliche Rolle, mich nicht einmal mehr ansatzweise mit dem Nationalsozialismus, der in der Schule bis zum Erbrechen durchgekaut wurde, auseinandersetzen zu müssen. Ich gestehe, dass es mir weniger deswegen Unbehagen bereitete, diese Epoche der deutschen Geschichte zu behandeln, weil sie so viele Schrecken birgt, als vielmehr, weil ich stets fürchtete, ein falsches Wort zu diesem Thema könne mir so hinterlistig im Munde umgedreht werden, eine reflektierte Betrachtungsweise, ein nüchterner Blick auf die Fakten könne mir bereits fälschlicherweise als Sympathie mit der NS-Ideologie ausgelegt werden.

Ich studierte bereits im Masterstudiengang, betrat aber eines Tages interessehalber und wissbegierig eine Einführungsvorlesung zur mittelalterlichen Geschichte. Bereits der Zusatz „Einführung in eine ferne Epoche“ irritierte mich, was aber womöglich – so dachte ich zumindest – nur an mir lag und daran, dass mir durch meine mediävistischen Studien das Mittelalter gar nicht mehr so fremd und fern erschien, wie es einem Studienanfänger erscheinen musste.

Doch meine Irritation blieb. Denn die Dozentin wählte zum Einstieg in die Vorlesung über das Mittelalter ohne Umschweife ein Zitat aus Hitlers „Mein Kampf“:

„Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“

Adolf Hitler, „Mein Kampf“

Wozu sollte dieses Zitat wohl dienen? Natürlich zur Problematisierung der wissenschaftsgeschichtlichen Betrachtungsweise des Mittelalters, des Missbrauchs des Mittelalters durch die Nationalsozialisten, um die eigene Ideologie zu legitimieren. Es bleibt die Frage: Ist dies ein adäquater Einstieg in eine Einführungsvorlesung zum Mittelalter? Wie diese maßgebliche Epoche viele Jahrhunderte später rezipiert wurde und wie wir das Mittelalter daher um Gottes willen nicht betrachten dürfen? Sollte uns als wissbegierigen, reflexionswilligen Studenten nicht freigestellt sein, auf welche Art wir uns einer prägenden Epoche unserer Geschichte nähern?

Denn genau dies schien Sinn und Zweck des Einstieges über den Nationalsozialismus zu sein und so kam die Dozentin auf den Vorlesungszusatz „Einführung in eine ferne Epoche“ zurück. Sie erklärte, dass es zwei mögliche Betrachtungsweisen des Mittelalters gebe: Erstens, man könne in den Fokus nehmen, welche Kontinuitäten es vom Mittelalter zur Neuzeit gebe, welche neuzeitlichen Entwicklungen beispielsweise aus mittelalterlichen Mentalitäten und Traditionen resultierten. Oder zweitens, man könne – und solle! – das Mittelalter als eine ferne Epoche betrachten, die mit unserer Zeit so wenig zu tun habe wie etwa die Geschichte der Maori oder der Inuit, um einen nüchternen, neutralen Blick auf die Epoche des Mittelalters zu erhalten. Nach dieser Erläuterung ergänzte sie (und ich bitte um Verzeihung, falls dieses aus dem Gedächtnis wiedergegebene Zitat nur sinngemäß stimmen sollte): „Die erste Betrachtungsweise wählten die Nazis, und sie wird auch von heutigen rechtspopulistischen Parteien gewählt. Mir persönlich ist da die zweite Betrachtungsweise wesentlich sympathischer.“ Begleitet wurde diese mit einem Augenzwinkern vorgetragene Polemik durch eine in die Präsentation eingebundene lustige Comicdarstellung eines Ritters und den Schriftzug: „Schlägt das Mittelalter zurück?“

Während ich nur noch konsterniert im Hörsaal saß und angesichts dieser ungeheuerlichen Manipulation und Denkvorgabe wohl einen recht versteinerten Gesichtsausdruck annahm, schrieben die 18, 19 Jahre alten Erstsemesterstudenten um mich herum fleißig mit und übernahmen die Thesen der Dozentin als Faktenwissen in ihre Unterlagen.

Meister des Codex 167

Mir fehlte der Mut, die Hand zu heben und die Dozentin zu fragen, ob denn ihr Vorgehen, das Mittelalter nun zur Denunziation sogenannter rechtspopulistischer Parteien – jeder weiß, welche konkret gemeint sind – zu verwenden, es sogar dazu zu instrumentalisieren, diese Parteien mit der NSDAP gleichzusetzen, nicht genau den gleichen Missbrauch zu politischen Zwecken darstelle. Dass ich mich lediglich dem allgemeinen Beifall zum Ende der Vorlesung nicht anschloss, ist mir nur ein schwacher Trost.

Leider kann sich meine Anklage nicht nur gegen diese eine junge Dozentin richten, vielmehr handelt es sich bei ihren Aussagen um ein Symptom einer neuen Geschichtsvergessenheit, die auch den wissenschaftlichen Bereich dominiert. Eine neutrale, nüchterne Betrachtung vergangener Zeiten ist kaum mehr denkbar. Stets muss man sich distanzieren, erklären, dass man sich bestenfalls mit den deutschsprachigen Raum beschäftige, von Deutschland könne ja noch gar nicht gesprochen werden. Wer sich für die Kontinuitäten interessiert, beispielsweise welche Erzähltraditionen, Mythen oder kulturellen Institutionen sich in gewandelter Form in die Neuzeit übertragen haben, wie beispielsweise das mittelalterliche maere und das neuzeitliche Märchen zusammenhängen oder wie der Hof und der höfische Tugendkatalog unsere Werte und Normen geprägt haben, wird schräg beäugt und muss sich für sein wissenschaftliches Interesse rechtfertigen.

Diese Paranoia, die regelrechte Angst davor, das Deutschland unserer Zeit als Folge und Ergebnis jahrhunderte-, ja jahrtausendelanger Traditionen zu sehen oder gar unserem vorchristlichen, germanischen Erbe eine Bedeutung über das Marginale hinaus beizumessen, ist über den wissenschaftlichen Bereich hinaus im Alltag spürbar. Wenn man etwa anmerkt, die älteste deutsche Uni sei nicht etwa Heidelberg, sondern Prag, bildet sich bereits Schaum vor den Mündern der Meinungstotalitären. Zu der Erklärung, dass die heutigen deutschen Grenzen ja erst seit wenigen Jahrzehnten in dieser Form bestehen und es eine legitime Betrachtungsweise ist, historische Institutionen auch in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu betrachten, gelangt man dann kaum noch. Die Würfel sind gefallen, die Meinung ist gefällt.

Dies ist eine Erkenntnis, zu der ich im Studium leider gelangen musste: Sich auf eine „ferne“ Epoche zu spezialisieren, genügt nicht, um den Fängen des Meinungstotalitarismus zu entfliehen. Er ist in den Köpfen fest verankert und manifestiert sich in vielerlei Bereichen. Begegnen kann man ihm nur mit dezidiert sachlichen Argumenten und dem Mut, sich gegen billige, vorschnelle Verurteilungen zu wehren.

Hermine Brandenburger

Ein Kommentar zu “Geschichtsvergessenheit im wissenschaftlichen Gewand

  1. Liebe Frau Brandenburger!

    Sie haben einen ebenso lehrreichen wie ernüchternden Aufsatz geschrieben, der zeigt, wie die Verbiegung fast schon zum kaum noch wahrgenommenen Hintergrundphänomen geworden ist. Befremdliche Vorstellung, sich vor dem Besuch einer Vorlesung, die einem doch einen Erkenntnisgewinn verschaffen soll, innerlich gegen die wahrscheinliche Indoktrinierung im Gewande von Wissenschaft wappnen zu müssen! Ah, und wie wohltuend, von „Studenten“ zu lesen und nicht von „Studierenden“, gibt es doch sicher Studenten, die eben nicht studieren, und Leute, die etwas studieren, ohne Studenten zu sein. Bleibt die Frage, warum sowenige Landsleute den herrschenden Meinungstotalitarismus wahrnehmen? Oder nehmen sie ihn wahr und fügen sich stillschweigend, wissend, daß sich sonst doch nur Ärger eingehandelt würde? Es wäre spannend herauszufinden, ob die Fähigkeit, den Meinungstotalitarismus als solchen zu erkennen, eine Frage des Gespürs oder des Intellektes ist? Oder wäre Intellekt ohne Gespür auch eine Art Dummheit?

    Mit schönem Gruß

    Jupp Koschinsky,

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