Wandel durch Annäherung

von Hanno Borchert

Wandel durch Annäherung

„Wandel durch Annäherung“ war der berühmte Grundsatz der neuen Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland unter Willy Brandt und seinem Berater Egon Bahr in den sechziger und siebziger Jahren. In den achtziger Jahren wurde er von Helmut Schmidt und Helmut Kohl weitergeführt. Anstatt die DDR und den Ostblock durch Konfrontation und Isolation zu schwächen, wie es zuvor die Hallstein-Doktrin vorsah, sollte durch kontrollierte Annäherung, Verträge, Handel und menschliche Kontakte schrittweise Veränderung ermöglicht werden, also „Wandel durch Annäherung“ statt nur „Wandel durch Abschreckung“.

Das Ziel war, langfristig die Teilung Deutschlands und Europas zu überwinden, nicht durch Gewalt oder Ultimaten, sondern durch Entspannung und kleine Schritte der Zusammenarbeit. Bahr formulierte es prägnant: „Wir wollen die Mauer nicht verstärken, sondern abbauen, aber nicht mit dem Brecheisen, sondern mit Bohrmaschinen.“

Letztlich war es eine Erfolgsgeschichte. Millionen Deutsche konnten reisen, Familien sich wiedersehen, und die Spannungen nahmen langsam, aber spürbar ab. Die Ostpolitik legte den psychologischen und politischen Grundstein für die Wiedervereinigung 1989/90. Die damalige Kritik, sie „zementiere“ die Teilung, erkenne die DDR indirekt an und belohne ein „Unrechtsregime“, erwies sich rückblickend als unbegründet.

Heute gilt „Wandel durch Annäherung“ als eine der erfolgreichsten außenpolitischen Strategien der deutschen Nachkriegszeit und dient immer wieder als Vorbild, etwa in der Frage, wie man mit autoritären Staaten wie China, Rußland, Iran oder Afghanistan unter den Taliban umgehen sollte. Auch heute gibt es Stimmen, die ähnlich wie einst eine harte Linie fordern. Doch gerade diese Hardliner, bei denen man mitunter den Eindruck gewinnt, daß sie weder Interesse an einer Kriegsbeendigung haben noch Vorbehalte gegenüber ökonomischer Schwächung oder sicherheitspolitischen Risiken im eigenen Land, übersehen einen entscheidenden Punkt: Dauerhafte Stabilität entsteht selten durch Eskalation, sondern durch kontrollierte Kommunikation, funktionierende Verhandlungskanäle und ein Mindestmaß an Kooperation, selbst mit schwierigen Partnern.

Gerade deshalb wäre es sinnvoll, sich auch heute wieder stärker an die Grundgedanken des „Wandel durch Annäherung“ zu erinnern. Nicht, weil man autoritären Regimen vertraut oder deren Ideologie akzeptiert, sondern weil Annäherung als strategisches Instrument wirkt, wo reine Abschreckung an ihre Grenzen stößt. Wer redet, reduziert das Risiko unbeabsichtigter Eskalation. Wer Handel und zwischenmenschliche Kontakte ermöglicht, schafft gesellschaftliche Öffnungen, die langfristig stabilisierend wirken. Wer Dialogräume offen hält, erhält diplomatische Optionen, oft die einzigen Wege zu Frieden und Deeskalation in verhärteten Konflikten.

Hinzu kommt, daß die gegenwärtige deutsche Politik in ihrer teilweise konfrontativen Haltung nicht nur internationale Spannungen verstärkt, sondern auch den Partner USA irritiert und dadurch großer politischer Schaden entsteht, was die Handlungsfähigkeit Deutschlands auf internationaler Ebene einschränkt und voraussichtlich zukünftig noch weiter einschränken wird.

Natürlich bedeutet Annäherung keine Naivität. Sie heißt nicht, eigene Interessen aufzugeben oder Übergriffe zu tolerieren. Vielmehr geht es um eine doppelgleisige Strategie: Abschreckung und Wehrhaftigkeit dort, wo sie notwendig sind, verbunden mit Gesprächsbereitschaft, Transparenz und einem Angebot zur Kooperation dort, wo sie möglich ist. Genau diese Mischung machte die Ostpolitik einst erfolgreich. Klarheit über eigene Werte und Grenzen verbunden mit der Einsicht, daß dauerhafte Sicherheit nur gemeinsam geschaffen werden kann.

Angesichts eines neuen Kalten Krieges, globaler Blockbildungen und wachsender militärischer Risiken wäre es klug, diese historische Erfahrung nicht zu vergessen. Eine Politik, die ausschließlich auf Konfrontation setzt, mag kurzfristig moralisch eindeutiger erscheinen, führt langfristig aber leicht zu internationalem Stillstand, wirtschaftlichen Schäden und wachsender Unsicherheit. Eine Politik, die hingegen auf kontrollierte Annäherung setzt, eröffnet Chancen, für Kommunikation, Einflußnahme, schrittweisen Wandel und letztlich für Frieden.

Gerade deshalb ist „Wandel durch Annäherung“ kein Konzept von gestern, sondern eines der wenigen Instrumente, die auch heute geeignet sind, festgefahrene Konfrontationen zu überwinden und die Grundlagen für eine sicherere Zukunft zu legen. Leider findet diese Erkenntnis in der aktuellen Regierung kaum Beachtung.

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Hanno Borchert

Hanno Borchert

Hanno Borchert, geb. 1959, Cuxhavener Jung von der Elbmündung. Schon in jungen Jahren wurde durch die Weltenbummelei (Südtirol, Balkan, Skandinavien, Indien, Iran, Indonesien u.a.) die Beigeisterung für die Sache der Völker geweckt.

Ausgebildeter Handwerkergeselle mit abgeschlossenem Studium der Wirtschaftswissenschaften. Bücherwurm seit Kindheitstagen an, musiziert und malt gerne und beschäftigt sich mit der Kunst des Graphik-Designs.

„Alter Herr“ der schlagenden Studentenverbindung „Landsmannschaft Mecklenburgia-Rostock im CC zu Hamburg“. Parteilos. Ist häufig auf Konzerten quer durch fast alle Genres unterwegs. Hört besonders gerne Bluegrass, Country, Blues und Irish Folk. Großer Fan des leider viel zu früh verstorbenen mitteldeutschen Liedermachers Gerhard Gundermann.

Redakteur der alten wie neuen „wir selbst“, zwischendurch Redakteur der „Volkslust“.

Hier finden Sie die Druckausgaben der Zeitschrift wir selbst, Nr. 55/1-2024 und 54/1-2023:

Die beiden Druckausgaben des Jahres 2022 unserer Zeitschrift sind auch noch erhältlich:

2 Kommentare zu „Wandel durch Annäherung

  1. Die Aussage, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, suggeriert ja, daß die

    BRD ein Rechtsstaat gewesen sei. Warum ist er das, wenn jetzt pro Jahr

    100.000 Kinder im Mutterleibe getötet werden, in 10 Jahren 1 Million und das mit

    der staatlichen Erlaubnis? Und: warum darf das russische Volk nicht selbst darüber

    entscheiden, wie es selbst regiert werden möchte oder müssen das ihr westliche

    Politiker vorschreiben?

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  2. Ein starker Text! Danke für die klare Erinnerung an eine der erfolgreichsten deutschen Strategien. Hoffentlich besinnt man sich in Deutschland wieder auf Diplomatie.

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