Ibrahim Traoré – Revolutionär oder neuer Vasall?

von Hanno Borchert

Ibrahim Traoré – Revolutionär oder neuer Vasall?

Burkina Faso zwischen Dekolonisierung und geopolitischer Neuverortung

Ohne Würde gibt es keine Freiheit, ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden.

Patrice Lumumba, Erster Premierminister des unabhängigen Kongo (1925-1961, ermordet)

Wir kämpfen nicht nur für Burkina Faso, sondern für ganz Afrika. Unsere Freiheit beginnt dort, wo wir die Ketten der Abhängigkeit sprengen.

Ibrahim Traoré

Als im September 2022 ein junger, weitgehend unbekannter Offizier in Burkina Faso durch einen Militärputsch an die Macht kam, ahnten nur wenige, daß damit eine politische Neuorientierung für das ganze westliche Afrika angestoßen würde. Sein Name: Ibrahim Traoré. Heute, nur wenige Jahre später, gilt er als Symbolfigur eines neuen, radikal antiwestlichen Afrikas. Mit gerade einmal 37 Jahren ist er nicht nur der jüngste Staatschef der Welt – sondern auch einer der umstrittensten. Entschlossen im Ton, ideologisch geschärft in der Sprache und riskant in seiner Politik, verkörpert Traoré einen historischen Bruch mit der kolonialen Vergangenheit seines Landes.

Während Frankreichs Einfluß in der Sahelzone sichtbar schwindet, präsentiert sich Traoré als Architekt eines neuen Afrikas – unabhängig, souverän, stolz. Doch während viele diese Entwicklung als revolutionäre Befreiung feiern, bleibt eine Frage offen: Steht Burkina Faso tatsächlich vor dem Aufbruch in eine selbstbestimmte Zukunft? Oder wird lediglich ein geopolitisches Rollenspiel neu besetzt – mit alten Abhängigkeiten in neuem Gewand?

Die Geschichte von Ibrahim Traoré beginnt in der Region Hauts-Bassins – oder Kundumye, wie sie in Mòoré, einer der Hauptsprachen Burkina Fasos, genannt wird. Ursprünglich studierte er Geologie, doch bald entschied er sich für den Militärdienst. Auslandseinsätze in Mali im Rahmen der UN-Mission MINUSMA konfrontierten ihn mit der internationalen Sicherheitsarchitektur – und weckten offenbar seinen politischen Ehrgeiz.

2022, nach einem rasanten Aufstieg in der Armee, übernahm er die Führung des zweiten Putsches innerhalb eines Jahres. Die Gründe: eine katastrophale Sicherheitslage, Korruption und das verbreitete Gefühl, daß Burkina Faso unter westlichem Einfluß seine eigene Zukunft verloren hatte. Von Beginn an inszenierte sich Traoré als „Soldat des Volkes“, der bereit ist, für Gerechtigkeit und Unabhängigkeit zu kämpfen. Seine politische Rhetorik und Symbolik knüpfen dabei unverkennbar an einen alten Helden an: Thomas Sankara.

Thomas Sankara – der „afrikanische Che Guevara“ – regierte das damalige Obervolta von 1983 bis 1987. Mit nur 37 Jahren fiel er einem Putsch zum Opfer, bei dem französische Interessen mutmaßlich eine Rolle spielten. Sankara war ein Visionär, der sich gegen Importluxus, für Autarkie und für die Entschuldung Afrikas einsetzte. Seine Ideale hallen bis heute nach – und Traoré trägt sie bewußt weiter: Das rote Barett, die betonte nationale Rhetorik, die Anklagen gegen imperialistische Mächte, der Pan-Afrikanismus – alles Teil eines symbolischen Erbes.

Doch Traorés Politik geht über symbolisches Pathos hinaus. Sie ist auch eine Reaktion auf eine Geschichte, die von kolonialer Gewalt, Ausbeutung und Kontrolle geprägt ist. Frankreichs Truppen eroberten das Land im späten 19. Jahrhundert, zwangen es in den Weltkriegen zur Arbeit, lösten die Kolonie 1932 willkürlich auf und verteilten ihr Territorium zwischen den Nachbarn. Auch nach der Unabhängigkeit 1960 blieb französischer Einfluß tief verankert – in Verwaltung, Sprache, Bildung. Heute versucht Traoré, genau diese historische Abhängigkeit systematisch aufzubrechen.

In einer Rede brachte er es auf den Punkt: „In ihren Köpfen gehört Afrika ihnen – unser Land, unser Reichtum ist ihr Eigentum.“ Dieser zentrale Vorwurf zieht sich wie ein roter Faden durch seine Erzählung – und trifft bei vielen Menschen einen Nerv.

Eines der sichtbarsten Zeichen dieses Bruchs ist die Abschaffung des Französischen als Amtssprache. Stattdessen rücken lokale Sprachen wie Mòoré, Dioula, Fulfulde und Bissa in den Vordergrund staatlicher Kommunikation und Bildung. Auch die Justiz erhält ein neues Gesicht: Wo einst französische Roben getragen wurden, erscheinen Richter nun in traditionellen Baumwollgewändern – sichtbare Zeichen einer kulturellen Selbstvergewisserung.

Traoré spricht offen über den mentalen Kolonialismus: „Durch ihre Kommunikation haben sie bewirkt, daß Sie ihre eigene Hautfarbe hassen.“ Selbst in der Trauerkultur, sagt er, sei das zu spüren: Früher war Blau die Farbe des Abschieds, doch „sie“ – gemeint sind die westlichen Einflüsse – hätten Schwarz als Symbol des Todes, der Mittelmäßigkeit und des Bösen etabliert. „Und wir haben es übernommen.“

Doch trotz aller Symbolkraft bleibt die Realität herausfordernd: Über zwei Millionen Binnenvertriebene, tägliche Angriffe durch islamistische Gruppen, fragile Infrastruktur und weitverbreitete Armut prägen weiterhin den Alltag.

Während Frankreich und die USA sich zunehmend zurückziehen, sucht Burkina Faso neue Partner – und findet sie in Rußland und China.

Rußland unterstützt sicherheitspolitisch: Ausbilder, Militärexperten und sogar paramilitärische Gruppen, wohl aus dem Umfeld der früheren Wagner-Gruppe, sind präsent. Bei einem Besuch in Moskau zeigte sich Traoré demonstrativ an der Seite Putins und sprach von Kooperationen in Atomenergie und Weltraumtechnik – Projekte, deren Umsetzung bislang vage ist, aber die neue strategische Ausrichtung verdeutlichen.

China hingegen setzt auf wirtschaftliche Präsenz. Investitionen in Solarenergie, Infrastruktur, Bildung und Gesundheit steigen. Ein Konfuzius-Institut in der Hauptstadt Ouagadougou symbolisiert den wachsenden kulturellen Einfluss. Traoré selbst korrigiert das Bild: „Wir haben geglaubt, chinesische Produkte seien billig und minderwertig. Aber heute sehen wir: Ihre Technologie ist fortschrittlich. Und sie wird uns unter westlichen Marken weiterverkauft.“

So nehmen China und Rußland nun jene Rollen ein, die einst dem Westen vorbehalten waren – mit neuen Versprechen, aber auch mit neuen Abhängigkeiten.

Trotz zunehmender internationaler Isolation verfolgt Traoré einen bemerkenswert eigenständigen Kurs. Seine Regierung setzt auf wirtschaftliche Selbstversorgung, verweigert Kredite von IWF und Weltbank, verstaatlicht Goldminen, gründet eine nationale Gold-Raffinerie, fördert Tomaten- und Baumwollverarbeitung. Unter seiner Führung wuchs das Bruttoinlandsprodukt von rund 18,8 auf 22,1 Milliarden US-Dollar – ein signifikanter Anstieg, auch wenn die Armut bleibt: Über 6 Millionen Menschen sind laut UN auf humanitäre Hilfe angewiesen.

O-Ton von Ibrahim Traore

„Afrika braucht keine Weltbank, keinen IWF, kein Europa und kein Amerika“, erklärt Traoré. Er sieht die Welt als ein „Dreieck“, an dessen Spitze das „Imperium des Guten“ steht – westliche Staaten, die glauben, sie hätten das Recht, die Welt nach ihren Vorstellungen zu formen.

Ein weiterer Schritt in Richtung Unabhängigkeit: Im August 2023 gründete Traoré gemeinsam mit Mali und Niger die Allianz der Sahelstaaten – ein Bündnis, das als Gegengewicht zur westlich orientierten ECOWAS verstanden wird. Neben militärischer Kooperation wird sogar eine gemeinsame Währung diskutiert. Ziel: mehr regionale Sicherheit – und ein starkes Signal afrikanischer Eigenständigkeit, gestützt auf nicht-westliche Partner.

Und Deutschland? Hält sich bislang eher zurück. Zwar bestehen diplomatische Beziehungen seit den 1960er Jahren, und Organisationen wie die GIZ (Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit) in Bereichen wie Bildung und Ernährung aktiv. Doch sicherheitspolitisch ist die Kooperation ausgesetzt, wirtschaftlich spielt Burkina Faso kaum eine Rolle. Dabei gäbe es Potential: Burkina Faso besitzt Rohstoffe wie Gold, Mangan und Baumwolle – Deutschland hingegen Know-how in Verarbeitung, Technologie und nachhaltiger Landwirtschaft.

Ein Austausch auf Augenhöhe wäre denkbar bzw. ausbaufähig: nachhaltige deutsche Investitionen in den Goldabbau, Seltenen Erden und grünen Wasserstoff, fairer Marktzugang für burkinische Baumwolle, Bildungskooperationen, wissenschaftlicher und kultureller Dialog. Voraussetzung wäre ein respektvoller, partnerschaftlicher Umgang – jenseits paternalistischer Muster.

Traoré selbst bleibt eine teils rätselhafte Figur. Asketisch, ideologisch, kontrollbewußt – und doch manchmal zugänglich, charismatisch, fast warm. Die Vergleiche mit Muammar al-Gaddafi sind nicht weit hergeholt: revolutionär, antikolonial, visionär – aber auch mit autoritären Zügen.

Laut Medienberichten – etwa von Africanews, The Africa Report und dem staatlichen Sender RTB – hat seine Regierung die für Juli 2025 geplanten Wahlen verschoben. Die Pressefreiheit wurde eingeschränkt, kritische Stimmen zunehmend unterdrückt. Zur Begründung: die anhaltende Bedrohung durch jihadistische Gruppen, die weite Teile des Landes kontrollieren.

So wurde der Sender France 24 suspendiert, lokale Journalisten unterliegen neuen Regeln. Aus westlicher Perspektive – etwa der von Reporter ohne Grenzen – ist das ein klarer Bruch mit der Pressefreiheit. Sie sehen diese als universelles Gut. Doch im Kontext Burkinas, geprägt von Unsicherheit und einem starken antikolonialen Narrativ, sehen viele solche Maßnahmen durchaus als legitimen Schutz vor Destabilisierung.

Hier zeigt sich ein bekanntes Dilemma postkolonialer Bewegungen: Der Wunsch nach Einheit und Sicherheit steht oft im Spannungsverhältnis zu individuellen Freiheiten.

Ibrahim Traoré ist zweifellos eine historische Figur. Ob er Hoffnungsträger oder Vorbote neuer Abhängigkeiten ist, bleibt offen. Sein Aufstieg markiert eine Zeitenwende – in einem Land, das jahrzehntelang unter kolonialer Fremdbestimmung stand und nun nach einem selbstbestimmten Weg sucht.

Seine Popularität beruht nicht nur auf starken Worten, sondern auch auf konkreten politischen Entscheidungen: wirtschaftliche Autarkie, kulturelle Re-Afrikanisierung, sicherheitspolitische Neuausrichtung. Doch in einem Staat, der große Teile seines Territoriums nicht kontrollieren kann, bleibt jede Vision auch ein Risiko.

Ob Traoré den Balanceakt zwischen echter Souveränität und neuen geopolitischen Abhängigkeiten meistern kann, wird sich nicht allein an seiner ideologischen Standhaftigkeit zeigen – sondern daran, ob er das Leben der Menschen tatsächlich verbessern und ihre Herzen dauerhaft gewinnen kann.

Ich persönlich wünsche dem Präsidenten viel Erfolg bei seiner großen Aufgabe und dem Land eine prosperierende Zukunft.

Weiterführende Literatur:

– Burkina Faso: A History of Power, Protest and Revolution – Ernest Harsch (2017)

Burkina Faso – Pierre Englebert (2018)

– Captain Ibrahim Traoré: Hope Restored or the Rebirth of a Lost Nation – Abdoul Moumouni Ouédraogo

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Hanno Borchert

Hanno Borchert

Hanno Borchert, geb. 1959, Cuxhavener Jung von der Elbmündung. Schon in jungen Jahren wurde durch die Weltenbummelei (Südtirol, Balkan, Skandinavien, Indien, Iran, Indonesien u.a.) die Beigeisterung für die Sache der Völker geweckt.

Ausgebildeter Handwerkergeselle mit abgeschlossenem Studium der Wirtschaftswissenschaften. Bücherwurm seit Kindheitstagen an, musiziert und malt gerne und beschäftigt sich mit der Kunst des Graphik-Designs.

„Alter Herr“ der schlagenden Studentenverbindung „Landsmannschaft Mecklenburgia-Rostock im CC zu Hamburg“. Parteilos. Ist häufig auf Konzerten quer durch fast alle Genres unterwegs. Hört besonders gerne Bluegrass, Country, Blues und Irish Folk. Großer Fan des leider viel zu früh verstorbenen mitteldeutschen Liedermachers Gerhard Gundermann.

Redakteur der alten wie neuen „wir selbst“, zwischendurch Redakteur der „Volkslust“.

Hier finden Sie die Druckausgaben der Zeitschrift wir selbst, Nr. 55/1-2024 und 54/1-2023:

Die beiden Druckausgaben des Jahres 2022 unserer Zeitschrift sind auch noch erhältlich:

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