von Dr. Winfried Knörzer
Zweierlei Rußland
Die Sowjetunion unter Breschnew war weniger ein kommunistischer Ideologiestaat als eine bürokratische Diktatur. Man wurde nicht mehr verhaftet, weil man einige Sätze der Marxschen Schriften anders auslegte als die herrschende Lehre, sondern weil man die Staatsführung kritisierte. Rußland unter Putin ist unter einer demokratischen Fassade weitaus stalinistischer als es den Anschein hat. Die späte Sowjetunion und das heutige Rußland sind sich in ihrer relativ ideologiefreien Machtorientierung und in ihrer diktatorischen Verfaßtheit einander ziemlich ähnlich.
Dagegen unterscheidet sich das Verhalten der bundesrepublikanischen Politik gegenüber diesen beiden Formen sowjetisch/russischer Staatlichkeit grundlegend. Einst strebte man bis zur Selbstverleugnung eine friedliche Koexistenz an, während man heute mit allen Mitteln die Konfrontation vorantreibt. Besonders deutlich tritt dieser Unterschied in der Reaktion auf Manifestationen kriegerischen Expansionismus zutage. Nach dem, von einem zahnlosen Protest begleiteten Einmarsch in Afghanistan setzte man, als sei nichts passiert, die Entspannungspolitik fort. Der Überfall auf die Ukraine aber führte zu Sanktionen und Waffenlieferungen. Warum diese unterschiedliche Haltung gegenüber einem faktisch kaum gewandelten politischen System?
Es muß allerdings angemerkt werden, daß sich der Krieg in Afghanistan nur schwerlich mit dem heutigen in der Ukraine vergleichen läßt. Das damalige marxistische Regime in Kabul war von islamistischen Partisanen hart bedrängt worden und hatte die UdSSR um Unterstützung gebeten. Deshalb muß die obige Frage präzisiert werden: Warum wird ein den Interessen und Werten des Westens zuwiderlaufender kriegerischer Akt einmal nahezu widerspruchslos hingenommen und das andere Mal scharf sanktioniert? Warum unternimmt man jetzt eine Machtdemonstration gegenüber einen Land, die man eine Epoche zuvor nie gewagt hätte. Warum kriminalisiert man Rußland, während man die Sowjetunion hofiert hatte?
Für diese unterschiedliche Haltung gibt es einige sekundäre Gründe. Die Ukraine wird als Teil des Westens angesehen, für Afghanistan galt dies nicht. Eine allerdings nicht sehr tiefgreifende sozialistische Solidarität bescherte der Sowjetunion einen gewissen Sympathiebonus. Auch mußte man vermeiden, um die vor allem den Menschen diesseits und jenseits der Elbe zugutekommenden Verbesserungen in der Beziehung zur DDR nicht zu gefährden, deren Hegemon zu vergrätzen.
All diese Gründe sind nebensächlich. Die entscheidende Antwort auf die obigen Fragen lautet: weil man es kann. Für Staaten wie für Menschen gilt: Das Vergnügen, den einst Starken, vor dem man sich so lange fürchten mußte, im Staube liegen zu sehen und ihn demütigen zu können, will man sich nicht entgehen lassen. Rußland ist dem von humanitaristisch-pazifistischen Idealen durchdrungenen durchschnittlichen Westler wegen seines Nationalismus, seiner autoritären Strukturen, seiner Zurückgebliebenheit auf vielen Gebieten, kurz: seines Verfehlens des allgemein erwarteten zivilisatorischen Standards unsympathisch. Unerfreulich andersartig sind aber auch andere Nationen. In der Beziehung zu diesen muß man allerdings aus vielerlei Gründen sich Beschränkungen auferlegen, darf nicht, wie man es gerne täte, vehement auf die Einhaltung westlicher Werte pochen. Jetzt aber hat sich Rußland durch den eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht eine Blöße gegeben, die es erlaubt, sich groß aufzuspielen. Rußland hat sich durch sein Versäumnis, die Ukraine ins Unrecht zu setzen, seine Unfähigkeit, sich einer Entwicklung, die es immer weiter in die Defensive drängt, zu entziehen und durch seine kümmerliche militärische Performance als schwach gezeigt. Diese Schwäche bot den Anlaß, endlich einmal demonstrieren zu können, daß man selbst zu den Starken gehört.
Werfen wir noch einmal einen Blick auf die 70er Jahre. Aus dem Lager der damals noch gesellschaftlich problemlos anerkannten gemäßigten Rechten, zu der auch Teile der CDU gehörten, kam durchaus Kritik an der UdSSR. Dies erlaubte es wiederum nicht der gemäßigten Linken, die sich, Sozialismus hin oder her, keinerlei Illusionen über den diktatorischen Charakter der Sowjetunion machte, der Kritik des politischen Gegners beizupflichten, weil man prinzipiell das ablehnen muß, was dieser gut findet. Heute dagegen hat sich die politische Klasse zu einer Einheit zusammengeschlossen, weshalb man sich nicht mehr konträr zur politischen Konkurrenz positionieren muß, sondern ins Unisono einstimmen kann. Beflügelt vom allgemeinen Konsens, glaubt man, eine kesse Lippe riskieren zu können. Wegen des innenpolitischen Konsenses und der Schwäche des außenpolitischen Objekts braucht man sich keine Rücksichten mehr aufzuerlegen und seine ganz persönliche Meinung zum Besten geben. Wenn Biden Putin als Mörder bezeichnet und Baerbock sich im Krieg mit Rußland wähnt, dann tut sich da ein von allen Hemmungen – wie die Gebote der Staatsräson – befreiter Individualmoralismus kund.
Die BRD hat Rußland als Feind bestimmt. Feindschaft muß nicht im Krieg münden, es genügt, daß ein Zustand vorhanden ist, in dem der Feind als der wesenhaft Andere erkannt ist. Man kann mit dem Feind einen Modus der Koexistenz finden. Dies war in der Beziehung zur UdSSR der Fall. In der aktuellen Beziehung zu Rußland ist eine höhere Eskalationsstufe erreicht. Zur Andersartigkeit ist jetzt die Schwäche des Feindes hinzugekommen. Man kann sich gegenüber Rußland mehr herausnehmen als gegenüber der UdSSR, weshalb man sich die Eskalation ungefährdet leisten kann. Ein kleiner und schwacher Staat kann seine Selbständigkeit wahren, wenn er diese nicht hervorkehrt und unauffällig bleibt. Ein großer und starker Staat hat die Macht, der Kritik anderer Staaten zu trotzen. Gefährdet ist nur ein relativ schwacher Staat, der seine Macht überschätzt. In dieser Selbstüberschätzung tut er Dinge, die ihn zur Zielscheibe machen. Die Chance, den Abweichler zusammen mit der Hetzmeute legitimerweise drangsalieren zu können, läßt sich niemand entgehen.

Dr. Winfried Knörzer, geboren 1958 in Leipzig, studierte in Tübingen Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaften, Japanologie und promovierte über ein Thema aus der Geschichte der Psychoanalyse. Berufliche Tätigkeiten: Verlagslektor, EDV-Fachmann. Seit Anfang der 90er Jahre ist er mit Unterbrechungen publizistisch aktiv.

Die beiden Druckausgaben des Jahres 2022 unserer Zeitschrift sind auch noch erhältlich:




Ein kleiner Irrtum:
Als die sozialistische Regierung Afghanistans Rußland um eine Militärhilfe gegen die damaligen Talibans bat, vergrößerte der freie Westen die Unterstützung der Talibankämpfer, bis diese die sozialistische Regierung stürzten. Die islamistische Regierung fiel dann aber im Westen in Ungnade und die USA nahmen dann den Angriff auf das World-Trade-Center zum Anlaß, in Afghanistan einzumarschieren, um eine pro-westliche Regierung einzusetzen. Diese scheiterte aber an dem islamistischen Widerstand, der Westen zog seine Truppen ab und die pro-westliche Regierung wurde gestürzt.
Afghanistan sollte so sehr wohl dem Westen untergeordnet werden, aber das Projekt scheiterte an der Renitenz des afghanischen Volkes, das weder sozialistisch noch westlich regiert werden wollte und will. Uns Deutschen muß diese Vorliebe des afghanischen Volkes für eine islamistische Regierung befremden, aber dies Volk hat eben andere Vorstellungen von einer guten Staatsordnung als wir.
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