von Hrvoje Lorković
Die deutsche Neurose
Wenn ein Ausländer das Problem der deutschen Neurose anspricht, muß das zunächst als Überheblichkeit aufgefaßt werden. Um die berechtigten Besorgnisse zu lindern, muß ich deshalb gleich zu Beginn mit einigen autobiographischen Erklärungen aufwarten, was mich wiederum der Gefahr aussetzt, aufdringlich zu wirken.
Kann man so einfach Begriffe aus der Individualpsychologie auf ein ganzes Volk übertragen?
Das hier angeschnittene Problem beschäftigt mich schon mehr als zehn Jahre. Der Wunsch, etwas darüber zu veröffentlichen, verstärkte sich, als ich vor Jahren erfuhr, daß 1980 ein Buch unter dem Titel »Die deutsche Neurose« erschienen war. In diesem Buch wurde eine Reihe für das Thema relevanter Fragen überhaupt nicht berührt. Vor allem hat keiner der Autoren versucht, klar zu sagen, was er unter einer nationalen Neurose versteht. Dieser theoretischen Fragestellung bin ich mir aber schon seit 1965 bewußt. Damals trat ich zum erstenmal vor ein kroatisches Diasporapublikum mit der These, das politische Verhalten der Kroaten sei dem neurotischen überraschend ähnlich. Der erste Gedanke dieser Art kam mir schon 1947 beim Lesen eines populären Bändchens des amerikanischen Psychiaters Louis Bisch. Den Faden weiterspinnen konnte ich in meiner Heimat nicht — aus verständlichen Gründen: Es wäre politisch nicht ratsam gewesen, ein Volk, das soeben den »rettenden Hafen des Sozialismus« erreicht hatte, als von diesem Glück derart betroffen darzustellen, als wäre es vor lauter Befreiung geisteskrank geworden. Die kroatischen Emigranten zeigten ihrerseits wenig Bereitschaft, die Idee aufzunehmen. Sie neigten eher zu der Vorstellung, das kroatische Volk trage sein tragisches Schicksal mit bewundernswertem Heroismus. Ihre Verteidigung gegen jegliche Suggestion der Neuroseähnlichkeit lautete stets: »Ja, aber kann man so einfach Begriffe aus der Individualpsychologie auf ein ganzes Volk übertragen?«

Der arkane, mysteriöse, unheimliche Charakter des Unbewußten
Damit sind wir schon zum Kern des Problems gelangt. Es scheint mir übereilt, die Frage direkt anzugehen. Besser wird es sein, mit der Deutung des Begriffs Neurose zu beginnen. Wir werden noch sehen, daß dieser Terminus eine prätentiöse Hypothese enthält. Dennoch finde ich es angebracht, den Namen »Neurose« beim Wort zu nehmen, indem man voraussetzt, es handle sich um etwas, das mit Nerven zu tun hat. Mit anderen Worten, ich werde versuchen, mich dem Begriff des Neurotischen von der Biologie her zu nähern.
Ich gehe zunächst von der neurophysiologischen Erfahrung aus, daß viele Reize, die auf uns zukommen, nicht in unser Bewußtsein eindringen, sondern gehemmt und ausgelöscht werden. Die Hemmprozesse sind nicht unserer Kontrolle unterworfen. Durch unbewußte Wahl bilden wir uns eine eigene Welt.
Ein zielgerichtetes Wesen muß in seinem Weltbild auch einen Platz für sich selbst haben. Soll es seine Rolle erfüllen, muß dieses Selbstbild der teils unbewußten Regelung unterliegen. Schaut man es aus einer solchen, eigentlich systemtheoretischen Perspektive an, verliert das Unbewußte einen Großteil seines einst so betont arkanen, mysteriösen, unheimlichen Charakters. Es spielt seine Rolle auf sehr unterschiedlichen Ebenen; der Erfolg adaptiver Aktivität hängt von einem gut programmierten und eingespielten Übergang von bewußten zu unbewußten Zuständen ab.
Neurose als die Allergie der Persönlichkeit
Nun kann das Nervensystem, ähnlich wie z.B. das Immunsystem, falsch programmiert sein. Das falsche Programmiertsein, sozusagen die Allergie der Persönlichkeit, nennt man Neurose. Sie ist meist charakterisiert durch eine unangemessene, über das Ziel hinausschießende Abwehr der Person. Der jetzt beinahe ein Jahrhundert alte Begriff spiegelt die Hoffnung seiner Paten wider, daß Ort und Art des Programmierens in materiellen Einzelheiten durchschaubar gemacht werden könne. Dies ist jedoch immer noch nicht der Fall. Der Terminus Neurose drückt also nicht ein Wissen aus, sondern ein bislang noch nicht durch geführtes Forschungsprogramm. Ein möglicherweise passenderer Name wäre »Personose«.
Das Programmieren, das man auch als unbewußtes Lernen auffassen kann, wird problematisch, wenn sich die Person vor mehrere, gegenseitig unversöhnliche Aufgaben gestellt fühlt. Das Verhalten wird nicht mehr harmonisch geregelt, es kommt zu exzessiv widersprüchlichen, kontraproduktiven Gewohnheiten. Vor allem können persönliche Probleme als organische Krankheiten auftreten. Diese sind jedoch nur scheinbar organisch, da die betreffenden Organe (Herz, Darm) keine pathologischen Veränderungen aufweisen. Dieser Bereich der klassischen Neurosen wird auch in der medizinischen Statistik erfaßt.
Der neurotische Charakter — zu, gegen oder weg von anderen
Eine andere, sehr breite Gruppe von Symptomen betrifft das abnorme soziale Verhalten, das als »neurotischer Charakter« bezeichnet wird. K. Horney hat eine einprägsame Systematik des neurotischen Charakters vorgeschlagen, indem er darunter ein Verhalten verstanden wissen will, das zu anderen tendiert, gegen die andern sich richtet oder weg von ihnen will. Im ersten Fall handelt es sich um Personen, die sich um die Hilfe anderer bemühen, sozusagen an ihnen parasitieren. In der zweiten Gruppe dominiert Aggressivität, die als überschießende Abwehrhaltung die eigene Unsicherheit maskiert. In der dritten ist Isolation von der Welt und Rückzug in die Sphäre der Phantasie — meist über die eigene Überlegenheit und moralische Vollkommenheit — charakteristisch. Horney betont, daß reine Typen selten zu finden sind und in der Regel Kombinationen auftreten. So durchläuft eine Person mit neurotischem Charakter Perioden ungestümer Aktivität, verwickelt sich in grandiose Pläne, um bald wieder aufzugeben und in Depression zu versinken.
Konfliktreiche Inhalte können unbewußt umgearbeitet und umgedeutet werden. So kann übergroße Sorge — z.B. für die Kinder — einen tiefliegenden Kinderhaß maskieren. In anderen Fällen maskiert sich der innere Konflikt als Selbsthaß. Angesichts der Aufgabe des Unbewußten, das Selbstvertrauen zu wahren, ist der Selbsthaß paradoxal. Wenn wir aber bedenken, daß das Selbstvertrauen an Kriterien gebunden ist, die aus der sozialen Umgebung herrühren, so wird verständlich, daß der Selbsthaß aus Liebe zu einem besseren Ich mehr Selbstvertrauen geben kann als eine bewußte Tolerierung des Unannehmbaren in sich.

Mörderische Phantasien und entflammter Selbsthaß
Eine neurotische Person kann sich selbst kritisch beurteilen, aber im Moment der Entscheidung kann sie sich von zwangsartigen, kompulsiven Gesten, Äußerungen oder nur Gedanken nicht zurückhalten. Sie kann z.B. das Selbstlob nicht einstellen, wenn es den anderen lästig ist. Es gibt kompulsiven Fleiß, kompulsive Reinlichkeit und kompulsives Pflichtbewußtsein. Kompulsive Gedanken können sich auf andere Personen richten; man wird z.B. von der Idee verfolgt, jemanden umbringen zu müssen. Für die Betroffenen ist es oft charakteristisch, daß sie im Moment, wo sie mit der Person ihrer mörderischen Phantasien konfrontiert werden, zu einem freundlichen, ja unterwürfigen Verhalten umschwenken, wodurch wieder der Selbsthaß entflammt werden kann.

Neurosen der geschlossenen Gruppe
Als neurotische Störungen wurden von Anfang an solche verstanden, die ihren Ursprung in Konflikten mit anderen Menschen haben, besonders mit solchen, denen eine besondere Bedeutung zukommt, z.B. mit Eltern und anderen Autoritäten. Schon in den bisherigen Beispielen tritt das deutlich hervor. Nichts wäre normaler als zu erwarten, daß die Theorie der Neurose etwas über politisch bedingte Störungen zu sagen hätte. In dieser Hinsicht gibt es indessen keine Einigkeit.
Eine große Anzahl von Studien, die sich mit benachteiligten sozialen Gruppen befassen — mit Minoritäten, die sich in Rasse, Sprache oder Glauben von der Majorität unterscheiden —, ist psychoanalytisch orientiert. Begriffe wie »Unterdrückungsneurose« werden hier gebraucht. Einige bekannte Autoritäten wenden sich aber entschieden gegen den Begriff der Neurose einer geschlossenen Gruppe, z.B. eines Volkes. Für sie ist jede solche Vorstellung unlogisch. In einer seiner frühen Schriften hebt E. Fromm zwei Gründe hervor. Erstens könne man von einer Volksneurose deshalb nicht reden, weil die Neurose auf ein Nervensystem begrenzt ist; die Volksseele sei nur eine Metapher. Zweitens könne es eine Volksneurose nicht geben, weil der Begriff der Neurose sich auf Ausnahmefälle beziehe. Der Neurotiker sei nicht wie die anderen, und sein Leiden komme daher, daß er nicht wie die anderen sein könne. Der Mensch der Masse könne kein Neurotiker sein, eben weil er sich in der Masse von den anderen nicht unterscheide. Die Masse schütze ihn vor der Neurose.
Der Volkswille als Sphäre verklärtester Rationalität oder die Ablehnung des Nationalen sub specie neurosis
Beide Begründungen sind meines Erachtens höchst trivial. Natürlich gibt es kein Volksgehirn, und natürlich ist jede Rede von einer Volksneurose metaphorisch. Metaphorisch ist aber auch der Terminus Neurose selbst, wie ich gezeigt habe. Auch der Begriff der Neurose als Krankheit ist metaphorisch, und letztendlich trifft das für die ganze wissenschaftliche Terminologie zu. Weiterhin ist das Volkshirn-Argument auch deshalb unannehmbar, weil es auch andere, längst akzeptierte politische Metaphern ausschließt, z.B. den Volkswillen.
Auf den Beweis, daß sich die Volksneurose im Grunde genommen nicht von einer Einzelneurose unterscheidet, kommt es hier nicht an. Wir haben es hier mit Analogien zu tun. Die Frage ist nicht, wie exakt die Analogie ist, sondern wie nützlich sie ist, wie heuristisch fruchtbar: Führt sie uns zu neuen Einsichten oder nicht? Die Ablehnung der Betrachtung des Nationalen su b specie neurosis mag rigoros sein, verführt aber zu dem belustigenden Gedanken, das Unbewußte und Irrationale sei auf das Individuum begrenzt, während alles, was das Volksleben betrifft, zu einer Sphäre verklärtester Rationalität gehöre. Indem der Blick auf des Nervensystem des Einzelnen fixiert wird, entsteht der irreführende Eindruck, als könne Volksneurose nur bedeuten, daß es in einem Volk im Durchschnitt mehr Neurotiker gibt als in einem anderen — oder sogar, daß alle Neurotiker sind. In der Tat wurde diese Idee als Argument gegen die Volksneurose benutzt, und man berief sich auf die statistischen Daten über die Frequenz der Neurotiker in Ländern mit verschiedenen politischen Systemen. Dabei zeigte sich, daß unter oppressiven Regimen diese Frequenz nicht signifikant anders war als unter liberalen. Da jedoch verschiedene neurotische Phänomene verschieden statistisch erfaßt werden, entbehrt das Argument jeder Grundlage. Schwerwiegender ist die Frage nach der Beziehung zwischen Psychologie und Soziologie.
Versuche, tiefenpsychologische Einsichten in die Soziologie einzuführen, gibt es seit langem. Die meisten sind jedoch auf Ablehnung seitens kritischer Soziologen gestoßen. Was diese an den psychoanalytischen Vorstellungen vermißten, war die Idee der gesellschaftlichen Struktur. Die den Psychoanalytikern vorgeworfene Trivialität ist eigentlich die eben erwähnte. Bildhaft kann man sich den Vorwurf anhand eines Modells klarmachen, in welchem die Gesellschaft mit einer Gasmischung in einem Gefäß verglichen wird. Die soziologische Objektion läuft darauf hinaus, daß Individuen in der Gesellschaft sich nicht wie Gasmoleküle verhalten, daß sie nicht selbständig herumschwirren und miteinander kollidieren, sondern daß es koordinierte Bewegungen von Gruppen gibt, so als wären gewisse Moleküle mit Fädchen miteinander verbunden.
Sicherlich gibt es psychoanalytische Studien, bei denen die gesellschaftliche Struktur außer acht gelassen wird und die trotzdem von hohem soziologischen Interesse sind, z.B. H. Lasswells Studien über klassische Neurosen berühmter Politiker oder G. Almonds Studien über die privaten neurotischen Grundlagen revolutionärer Wirksamkeit. Die Entwicklung eines Volkes kann jedoch nicht aufgrund solcher Studien rekonstruiert werden; dazu sind sie zu einseitig. Dieselbe Kritik trifft auch auf einige Beiträge in dem erwähnten Buch »Die deutsche Neurose« zu. Hofstätter beispielsweise basiert die Entscheidung darüber, ob die Deutschen neurotisch sind oder nicht, auf Ergebnissen von Meinungsumfragen, in denen einzelne, zufällig ausgewählte Bürger sich darüber äußern, ob sie mit sich zufrieden sind oder nicht.
Fromms Vorstellung über die schützende Wirkung der Masse beruht auf der Annahme, daß ein Volk von Neurose geschützt ist, wenn seine Mitglieder als einzelne den Schutz der Masse genießen. Ein Nationalist identifiziert sich aber nicht mit den Leuten, denen er begegnet, sondern mit einem Volksideal. Die Leiden dieses (allegorisch erlebten) Ideals macht er sich zu eigen, seinetwegen fühlt er sich beleidigt und verletzt. Schutzbedürftig ist nicht er, der sich restlos aufopfernde Kämpfer, sondern das Volk. In der Tat ist es sogar häufig so, daß die Masse für den Nationalisten als Anti-Vorbild dient; sie ist für ihn idealentleert, verführt und verkommen. Den Schutz solch einer Masse weist er ab. Und doch ist sie für ihn von Nutzen, und zwar durch das Selbstvertrauen, das er aus dem Bewußtsein seiner Überlegenheit schöpft. Ob damit dem Volk geholfen wird, ist eine andere Frage.
Kulturkampf, Eros und Gewissen
Mit dem Strukturdenken werden somit gesellschaftliche psychoanalytische Fragestellungen nicht aufgehoben; eher werden sie unendlich vervielfacht. Ein ganzes Feld möglicher Fragepermutationen, das bisher in der Beurteilung der deutschen Neurose fast keine Rolle gespielt hat, ist z.B. mit der Wirkung der Kultur verbunden. Schon Sigmund Freud hat sich ausführlich über die Kopplung Kultur-Neurose geäußert. Kultur zu haben bedeutet jedoch nicht nur die Fähigkeit, zugunsten der gesellschaftlichen Ordnung auf die Instinktbefriedigung zu verzichten, wie er sich das vorgestellt hat. Der damit verbundenen Ansicht der Kultur als höchster gemeinschaftlicher Tätigkeit, der vom Eros beschützten Versöhnung zwischen den Völkern, steht der Kulturkampf gegenüber, der Kampf eines Volkes um die Anerkennung des Wertes seiner Kultur, und zwar nicht nur auf internationaler, sondern auch auf innervolklicher Ebene. Entscheidend ist dabei die Einstellung zu einer relevanten fremden Kultur. Sie kann als eine kranke, minderwertige abgewiesen werden, kann aber auch — verschiedenartig adaptiert, maskiert und uminterpretiert — angenommen werden. Sie braucht dabei nicht in gleichem Maße von dem ganzen Volk getragen zu werden, sondern kann sich auf bestimmte Gruppen, Klassen, Kasten und Professionen beschränken und wird damit zu einer Frage der Struktur. Dabei werden Konflikte unvermeidlich.
Freud spricht von der »Gewissensangst«, die durch Nichtbefolgung der Idealforderungen der Kultur entstehen können. Nun ist das Gewissen gleichermaßen im Spiel, wenn das Fallenlassen alter Werte bei der Übernahme fremder Kulturwerte zur Versuchung wird.
Eine andere Angst kann dadurch entstehen, daß man den richtigen Moment zu verpassen befürchtet, noch rechtzeitig in eine attraktive Kultur einzusteigen. Die Vehemenz dieses Kulturkampfes zeigt, daß diese Ängste nicht leichtzunehmen sind.
Ein mögliches Kriterium dafür, ob es erlaubt ist, aufgrund solcher Konflikte von neurotischen Störungen zu sprechen, wäre der Frage zu entnehmen, ob die erreichten Gewinne die Verluste übersteigen, d.h. ob die übernommene Kultur oder eine gewisse Politik für ein Volk vorteilhaft war oder nicht. Demnach wäre es nicht ausreichend, einen Konflikt zwischen verschiedenen Tendenzen festzustellen, um von Neurotischem zu sprechen, mögen diese Konflikte auch noch so scharf sein. Die entscheidende Frage ist immer die nach den langfristigen Wirkungen. Da die Beurteilung des politischen Wirkens weit mehr Zeit verlangt als die Beurteilung des Verhaltens einer Person, ist es grundsätzlich nicht erlaubt, irgendeine zeitgenössische Bewegung, Aktion oder Strategie als neurotisch zu bezeichnen. Aus diesen, nicht aus den bisher genannten Gründen (»Schutz der Masse«, »ein Hirn — eine Neurose«) ist es erforderlich, mit Vorsicht und Zurückhaltung von politischen Neurosen zu reden und sich höchstens auf Aussagen über Phänomene zu begrenzen, die man als dem neurotischen Verhalten analog bezeichnen kann.
Zwei Seelen in einer Brust
Entsprechend den komplizierten Beziehungen in einer Gesellschaft, muß auch die Analogie mit dem neurotischen Verhalten einzelner komplex sein. Ich versuche, vier Ebenen, Stufen oder Aspekte zu unterscheiden.
Auf der ersten Stufe steht das Verhalten von Individuen, das als für ein Volk charakteristisch angesehen wird. Völlig im Einklang mit der bitter-geistreichen Bemerkung Goethes, Nationalcharakter sei nichts als eine Summe nationaler Beschränktheiten, gehören hierher Verhaltensweisen, die aus gewisser Entfernung betrachtet unzweckmäßig und irrational erscheinen mögen, wie z.B. die Art des Waschens von Vorhängen bei den deutschen Hausfrauen in nicht allzu ferner Vergangenheit.
Die eigentliche Analogie treffen wir erst auf der zweiten Stufe. Die zunächst ins Auge fallenden Phänomene sind euphorische oder depressive Ausschweifungen, die in einem Volk länger andauern und häufiger von einem zum anderen Extrem pendeln als bei einem vergleichbaren. Das dem neurotischen Ähnliche ist nicht einfach die Summe des Verhaltens einzelner, sondern die gegenseitige Verstärkung durch Informationsübertragung, Propagandamaschinen, Bindungen und Loyalitäten, also durch lauter strukturrelevante Faktoren.
Auf der dritten Stufe der Analogie wird das ganze Volk als eine Superperson betrachtet, wobei einzelne Gebiete, Parteien, Institutionen und Organisationen als antagonistische Tendenzen repräsentierend betrachtet werden. Wenn die inneren Konflikte die Gemeinschaft zerrütten, kann man sie als den wechselnden Neigungen eines Neurotikers analog betrachten, der durch sie innerlich zerrissen und handlungsunfähig wird. So wie unvereinbare »zwei Seelen in einer Brust«, wie zwei getrennte Personen zueinander stehen, so kann es zu inneren Teilungen in einem Volk kommen, wo die Parteien das Gemeinsame nicht mehr erkennen.
Die vierte Stufe bezieht sich auf das Neurotische als ein historisch entstandenes Gebilde. So wie das irrationale und kontraproduktive Verhalten meist aus traumatischen Ereignissen in der Kindheit eines Erwachsenen herrühren, so kann man ein eigentümliches Volksverhalten aus der Geschichte ableiten. So wie bei einzelnen, kann es auch bei Völkern kritische Phasen der Entwicklung geben. So wie Auseinandersetzungen mit Autoritäten das Reifen des einzelnen bestimmen, können kulturgebende Autoritäten ein Volk beeinflussen. Es ist zu erwarten, daß Kulturkonflikte am schärfsten bei rasch eintretenden Kontakten zwischen Völkern zum Ausdruck kommen, etwa bei Völkerwanderungen, Eroberungen oder Kolonisierungsvorgängen.
Bei Individuen dauert der neurotischen Zustand wenigstens so lange an, bis die Konflikte behoben sind. Innervolkliche Konflikte lassen dauerhafte Spuren: Der einmal erworbene neurotische Charakter verpflanzt sich von Generation zu Generation, weil sich inzwischen seine Manifestationen mit den Kulturformen vermischt haben und als Kulturgut konserviert werden.
Mit diesen Instrumenten in der Hand, können wir jetzt den deutschen Charakter abklopfen. Aussagen über den Charakter eines Volkes sind zwar in den modernen Sozialwissenschaften nicht beliebt. Die Angst, die Charakterisierten politisch zu bevor- oder benachteiligen, ist aber unbegründet, wenn Aussagen von perzeptiven Persönlichkeiten aus verschiedenen Kreisen und Ländern verglichen werden. Der Band »Was ist typisch deutsch?«, besonders Kaltenbrunners einleitender Essay, überwindet die genannten Schwierigkeiten und garantiert einen unparteiischen Einblick schon damit, daß er eine Zusammenfassung von Zusammenfassungen ist. Der Konsensus unter den Aussagen über die Deutschen ist hoch. Man ist sich darüber einig, daß im deutschen Charakter starke Kontraste und Schwankungen zwischen Extremen anzutreffen sind: Gutmütigkeit und Kampfgeist, Unbeholfenheit und technische Perfektion, furor teutonicus und Servilität, faustischer Drang ins jenseitig Unendliche und spießbürgerliches Behagen, Titanismus und Weltfremdheit, Drang zum Absoluten und ewiger Protestantismus, Anfälligkeit für alles Radikale und merkwürdige Politikferne, Biegsamkeit aus Bewunderung für andere und trotziger Eigensinn, innere Zerrissenheit und Sinn für Harmonie, das intensive Sich-selbst-Suchen und das Von-sich-Wegfliehen, Todessucht und zugleich der Glaube an die eigene unendliche Verbesserlichkeit.

Was wir vor uns haben, ist das Bild eines modernen — oder doch relativ modernen — Deutschen. Schauen wir nun einmal in die Berichte aus ferner Vergangenheit, auf die ersten authentischen Berichte über die Germanen. In den Texten von Caesar und besonders von Tacitus hören wir von einem fröhlichen Volk, freundlich und offen, mit einem hochentwickelten Ehrbegriff, in Ehe einander verbunden und treu. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, unsere beiden Autoren seien germanophil gewesen. Aus ihren Berichten hören wir auch manches über die germanische Kampfweise. Von einer Kadaverdisziplin ist hier keine Rede. Man kämpft spontan, unorganisiert, immer mit Ausblick auf mögliche persönliche Heldentaten. Autoritäre Unterwürfigkeit ist mit solch einem Charakter nicht zu vereinbaren.
Was bedeuten die Kontraste zwischen den modernen und den antiken Charakterisierungen? Wenn wir nicht allzu mißtrauisch sein wollen, sagen sie uns, daß es in der Zwischenzeit zu einer radikalen Änderung im deutschen Charakter gekommen sein muß. Wann und wodurch ist sie eingetreten?
Versuchen wir uns vorzustellen, wie Europa am Ende des vierten Jahrhunderts aus der Perspektive der Germanen aussah. Die römische Verteidigung, ohnehin zum Teil schon in germanischen Händen, ist zusammengebrochen. Nach dem Sieg der Goten über die Byzantiner bei Adrianopolis im Jahre 378 kann sich der westliche Teil des Imperiums nicht mehr halten, Franken und Alemannen dringen in großen Massen auf römisches Territorium ein. Sie sind Sieger, und man würde erwarten, daß sie jetzt die Organisation des Staates übernehmen würden. Sie übernehmen auch einige militärische Funktionen, werden zu »magistri mili-tum«, z.B. Stilicho; die zivilen Institutionen tasten sie aber nicht an. Sie verstehen den komplizierten Staatssapparat nicht, in dem Spuren der römischen Republik sich mit bürokratischen Funktionen des späten Kaiserreichs vermischen. Die Germanen sind nicht für das Leben in einem Imperium programmiert — und an ihm auch nicht interessiert. Sie möchten nur Land zugeteilt haben und nach eigenem Brauch weiterleben. Das aber ist in einem Imperium unmöglich. Byzanz intrigiert und stiftet Fehden zwischen den unerfahrenen Stammesfürsten, die oft den Verlockungen des süßen Lebens in der Zivilisation nachgeben.
Die Romanisierung der Germanen
Dazu wurden die Germanen von allen Seiten mit kulturellen Neuheiten überflutet. Vor allem war da die überwältigende Architektur. Es war einfach unvorstellbar, daß normale menschliche Hände so etwas vollbringen konnten, und noch verblüffender war es für sie, daß von irgendwelchen Titanen keine Spur war. Die kleingewachsenen römischen Bürger flößten keinen Respekt ein. Die Vulgarität ihrer Massenunterhaltung in Theatern und Amphitheatern war jedoch beeindruckend; etwas Vergleichbares konnten die Germanen nicht bieten. Die Vermutung muß somit nahegelegen haben, daß irgendwelche übernatürlichen Kräfte den Römern Dienste leisteten. Die sichtbare Größe der Produkte der zivilisierten Kultur verband sich so mit der Aufnahmebereitschaft für den dieser Kultur scheinbar zugrunde liegenden Glauben. Dabei war dieser Glaube der Zivilisation eigentlich entfemdet, ja entgegengerichtet. Von den inneren Widersprüchen des späten Imperiums konnten aber die Germanen nichts ahnen; für sie waren die Christen wie die Gladiatoren, Legionsoffiziere wie Quästoren nur Vertreter des einen römischen Volkes, bis gestern des einen Feindes.
So kam es, daß die Germanen in allen romanischen Gebieten romanisiert wurden und sich in den Gebieten jenseits der imperialen Grenzen aus den römischen Städten die Zivilisation der Besiegten verbreitete. Vor allem wurde sie durch die christliche Mission gefördert. Schon während des alten Kaiserreichs, schon vor Konstantin ist die Kirche zu einem geistig, aber auch finanziell mächtigen Faktor geworden. Im frühen Mittelalter werden die geistlichen Fürsten überall zu Lehnsträgern. Das gesamte Schulsystem ist in ihren Händen. Die Erziehung, die dort angeboten wird, ist in den deutschen Ländern keine deutsche, sondern eine lateinische. Die deutschen Sieger konnten offensichtlich aus ihrer militärischen Überlegenheit keinen Vorteil für sich ziehen. Das Reich wurde nicht zu einem Deutschen Reich, statt dessen wurden die seitens der Legionen nie betretenen Gebiete zu Teilen des Römischen Reiches ernannt. Eine neue Aristokratie entstand, die mit dem Volk wenig gemein haben wollte. Der deutsche Bauer, der ehemals tollkühne Kämpfer, wurde geknechtet.

Alles Deutsche war mit dem Barbarischen verbunden
Die neue soziale Strukturierung unter den soeben christlich gewordenen Deutschen war somit eine Folge des Kultureinflusses. Es war eine Frage des kulturellen Prestiges der deutschen Fürsten, die lateinische, christliche Kultur auf Kosten der germanischen zu verbreiten. Wenn diese Verbreitung nicht auf politische Grenzen stieß — wie im Fall des Konfliktes zwischen den Franken und den Sachsen zur Zeit Karls des Großen —, stieß die kulturreligiöse Mission auf keinen organisierten Widerstand. Das zeigt, daß in den Augen der deutschen Elite die lateinische Kultur als die einzig ernst zu nehmende dastand; es führte kein Weg an ihr vorbei. Die Folge war, daß alles Deutsche mit dem Barbarischen verbunden wurde.
Nun stellt sich die Frage, was es überhaupt bedeutet, ein Barbar zu sein. Der Ausdruck bezieht sich zunächst auf die Sprache. Die Griechen bezeichneten mit »brrr brrr« das für sie unverständlichen Sprechen ihrer Nachbarn. Verachtung der fremden Kultur beginnt mit der Geringschätzung der Sprache. Zeitgenössische germanische Versuche, in gleicher Art zu erwidern und die Sklaverei, den Grundstein des römischen Kulturerfolges, als Zeichen des Barbarentums zu deuten, waren den Germanen fremd. Sie taten, was »Barbaren« schon immer zu tun versuchten: die Kultur zu meiden oder sich diese womöglich schmerzlos anzueignen. Städte haben schon immer durch das Versprechen eines leichten Lebens die umgebende Bevölkerung an sich gezogen. Was aber einmalig war für die Kultur, die sich mit dem Vehikel des Christentums den Weg bahnte, war die Verbindung zwischen dem Komplex der Kultursuperiorität und der Verbreitung von Schuldgefühlen. Diese hatten einen völlig anderen Ursprung als die Festspiele und Theaterveranstaltungen. Für die auf eine andere Welt orientierten frühen Christen kam es einer Schuld gleich, schon überhaupt auf dieser Welt das Leben genießen zu wollen. Auf die Germanen angewandt, wurde das Leben auf germanische Art zur Schuld. Kultiviert sein bedeutete jetzt, solche Schuldgefühle zu hegen. Mit anderen Worten, Selbsthaß wurde zur Kulturtugend erhoben.
Das Schimpfwort »Barbar«, auf die Germanen gerichtet, fand aber mit der Zeit auch andere Anwendungen. Wann immer die politische Macht der jetzt längst christianisierten Deutschen im Aufschwung begriffen war, wann immer dies in romanischen Ländern als Bedrohung empfunden wurde, ist man mit dieser Wortwaffe ausgerückt. Heinrich I., Otto dem Großen (der übrigens die christliche Hierokratie systematisch ausbaute), Friedrich Barbarossa und mehreren anderen deutschen Herrschern hat man Barbarentum vorgeworfen. Die Tatsache, daß einige von ihnen Römische Kaiser waren, konnte ihnen dabei nicht helfen.
Die deutsche Unfähigkeit, sich zweideutig auszudrücken, ein Mangel an »subtilitas«
Das Epitheton »barbarisch« wurde auch in anderen Varianten angewandt. Man sprach so von einem Mangel an »subtilitas«, der für die Deutschen charakteristisch sei, von einer Unfähigkeit, sich geistreich, d.h. zweideutig auszudrücken. Man behauptete, die Deutschen seien unfähig, sogar diesen Tadel richtig zu verstehen, unter »subtilitas« verstünden sie »List« und meinten, man solle sich vor ihr in acht nehmen. Daß dies durchaus nicht immer der Fall war, zeigen literarische Werke wie der oft erwähnte (aber nicht in diesem Sinne gedeutete) »Ludus de Antichristo«. Es handelt sich um ein mittelalterliches Theaterspiel, das Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden sein soll. Um die Weltherrschaft zu erlangen, schickt in dem Stück Antichrist Heuchler zum Frankenkönig, die diesen mit Schmeicheleien zur Unterwerfung bewegen. Zum Kampf die Deutschen herauszufordern, sollte man nicht versuchen, denn »Es ragt der Deutschen Kraft hervor durch Waffentaten«. Die Heuchler wollen den König mit Geschenken besänftigen. Der Plan mißlingt aber, es kommt zum Krieg, und der Antichrist unterliegt. Im weiteren Verlauf der Handlung unterwirft sich der deutsche König aber doch dem Antichrist. Was bewegt ihn dazu? Die falschen Wundertaten, die der Antichrist präsentiert — die Heilung eines Lahmen, die Genesung eines Aussätzigen, die Erweckung eines Toten — beeindrucken den König so sehr, daß er gesteht: »Ach, durch unser Ungestüm kommen wir zu Schaden, daß wir streitend wider Gott Torheit auf uns laden.«
Stereotype Selbstbeschuldigungen, deutscher Selbsthaß und die Schuld des »Ungestüms«
Man braucht nicht viel Scharfsinn, um zu sehen: Der Antichrist, das sind eben die christlichen Missionare, die durch »subtilitas« das Land dem christlichen Kulturterror, dem »iugum Christi« unterwerfen. Die stereotypen Selbstbeschuldigungen der Deutschen sind im Spiel auch schon als fest eingewurzelt zu finden. Die Schuld des »Ungestüms«, die bis heute anhält, wird schon hier erwähnt.
Ähnliche Zweideutigkeiten wie im »Ludus de Antichristo« findet man auch in manchen Erzählungen der Sammlung »Gesta Romanorum«, z.B. in jener, in der die Genealogie des Papstes Gregor VII. auf eine Blutschändung zurückgeführt wird.
Auch der deutsche Antisemitismus ist zum Teil ein Ausdruck des unterdrückten Hasses gegen die unbegrenzte Autorität des Pantokrators Christus, den die elementarsten Kenntnisse der Bibel als Juden erkennen lassen. Andererseits ist der Jude als Händler der Importeur römischer Kulturgüter. Unter dem Volk wird er dadurch zum zwielichtigen Vertreter der Stadt, und nur an den Höfen wird er zum »Hofjuden«. Der deutsche Judenhaß hat offensichtlich auch subtilere Komponenten …
Die etablierte Macht des römischen Christentums und seiner Kultur ließ sich nicht abwerfen. Mit ihrem Aufstieg wuchs auch der deutsche Selbsthaß. Niemand hat ihn deutlicher ausgedrückt als der für die Werte des Kulturkampfes empfindliche Thomas Mann. In seinem »Doktor Faustus« sagt er von Kaiser Otto III.: »Als er im Jahre 1002 nach seiner Vertreibung aus dem geliebten Rom in Kummer gestorben war, wurden seine Reste nach Deutschland gebracht und im Dom von Kaiseraschern beigesetzt — sehr gegen seinen Geschmack, denn er war das Musterbeispiel deutscher Selbst-Antipathie und hatte sein Leben lang schamvoll unter seinem Deutschtum gelitten.« Was würde Thomas Mann erst zum Entschluß Ludwigs des Frommen gesagt haben, der die große Sammlung deutscher Folklore, die Karl der Große anfertigen ließ, als Teufelswerk verbrennen ließ?
Die Ambition, ein Römisches Reich wiederaufzubauen, übertraf die Kräfte der deutschen Kaiser; die Aufgabe war unerreichbar hoch angesetzt. Daraus sind die Folgen zu rekonstruieren: Die deutsche Ambition, den Römern ebenbürtig zu werden, mußte eine andauernde Unzufriedenheit mit sich selbst erzeugen. Das ideale Über-Ich lag außerhalb des Volkes, die Bedingung einer positiven Selbstschätzung wurde an die unerfüllbare Aufgabe gebunden, die als heilig angesehene fremde Identität sich anzueignen.
Überkompensationen, auf denen die deutschen Erfolge beruhen
Die Tiefenpsychologie weiß, daß neurotische Systeme entstehen, wenn sich die Person der großen Aufgaben nicht gewachsen fühlt, und daß unter solchen Bedingungen das Verhalten irrational werden kann. Die Irrationalität zeigt sich in der übertriebenen Hartnäckigkeit, mit der die Ziele verfolgt werden, in der brutalen und vernichtenden Selbstkritik, in der gespannten Konzentration auf sich selbst, in der Bereitschaft, das »Übel« in sich auszurotten. Schonungsloser Fleiß und Pflichtbewußtsein gehören dazu; sie bilden aber auch Überkompensationen, auf denen die deutschen Erfolge beruhen.
Die ursprüngliche, jetzt als »barbarisch« bezeichnete Persönlichkeit der Deutschen mußte sich jedoch unbewußt gegen die Ideale der zivilisierten Vollkommenheit sträuben und sich früher oder später mit Wucht gegen die ihr unnatürlichen Ziele wenden. Die innere Wende vollzog sich und errang einen symbolhaften Charakter in der Person Martin Luthers. Sie fand Resonanz bei einem Bürgertum, das sich selbst zu schätzen begann. Der bleibende Gewinn der Reformation war der Wiedererwerb der Würde für die deutsche Kultur, vor allem für die Sprache. Sie wurde befugt, den Verkehr mit der höchsten Autorität, mit Gott, zu vermitteln. Die Reform zündete aber auch die zerstörerische Wut des Bauerntums an. Am Ende kam es zum selbstzerstörerischen Dreißigjährigen Krieg. Einen solchen kann man nur führen, wenn die gemeinsame Identität verloren geht, wenn die eine Seite die andere als dehumanisiert ansieht. Eine Identität hatte es jedoch im Heiligen Reich kaum je gegeben, es gab deshalb auch keine politischen Kräfte, die die innere Spaltung überwinden könnten. Ganz anders war es in Frankreich, wo die Gefahr der Zersplitterung in einer Nacht gelöst wurde. Alle Projektionen, die bei einem Volk für den Fremden, für den feindlichen Nachbarn reserviert bleiben, wurden bei den Deutschen gegen einen Teil von sich selbst gerichtet.
Aus Konzentration auf sich selbst, im Rückzug zur Innerlichkeit, vergaßen die deutschen Protestanten, an eine politische Form zu denken, die ihrer anfänglichen Rehabilitation der deutschen Kultur entsprechen würde: Sie versöhnten sich mit dem Heiligen Römischen Reich, das nach dem großen Krieg noch anderthalb Jahrhunderte dauerte. Zu seinem Ende kam es nicht durch einen deutschen, sondern durch einen französischen Imperiumsbauer — den Katholiken Napoleon. Die Ideale eines echten Römertums waren durch die Reformation eher auf- als abgewertet. Die Last des Beweises, daß Gott auf ihrer Seite stand, lag ja bei den Protestanten. Sie waren es, die durch Ernst und Redlichkeit sich selbst und der katholischen Welt beweisen mußten, daß sie die katholischen Tugenden nicht über Bord geworfen haben. Die unterbewußt als sündhaft empfundene Abwendung von Rom verlangte ihren Preis: Man mußte ständig Beweise zur Hand haben, daß die Reform nicht einen Rückfall in die Barbarei bedeutete. Damit erlegten sich die Deutschen neue Belastungen auf. Die Spontaneität, die ihnen schon früher weitgehend versagt war, sank noch tiefer. Und die Spannung zwischen sündhafter Spontaneität, die immer rebellischere Formen annahm, und verstärkter Selbstdisziplin nahm krasse Formen an.

Im Dritten Reich alle Zivilisationsbedenken über den Haufen geworfen
Ein Volk, das sich keine Spontaneität erlauben kann, muß auch politisch gehemmt sein. Eine nach innen, ins eigene Gewissen schauende Elite kann die Ereignisse in der Welt nicht richtig einschätzen. Eine solche, die sich selbst nicht ausstehen kann und vor sich selbst flieht, kann die Zukunft nicht planen. Sie unterschätzt sich selbst; wenn aber die anderen zupacken und die schönen Dinge der Welt für sich sichern, empört sie sich. Auf diesem Weg kann die starre Über-Ich-Kontrolle durchbrochen werden, die eigene Unterschätzung in eine euphorische Selbstüberschätzung und geschmackloses Eigenlob umkippen. Mit dem Dritten Reich brach solch eine Zeit an. Sie war zugleich von einer starren Disziplin wie von einem gespielt spontanen, überspannten Ethnozentrismus charakterisiert, in dem alle Zivilisationsbedenken über den Haufen geworfen wurden und dem »Ungestüm« freien Lauf gelassen wurde. Nach dem Krieg wurde »gerade für uns Deutschen« das Wiedererlernen von allgemein menschlichen und zivilisatorischen Werten zur höchsten Aufgabe.
Der »deutsche Vater« als traumatisierende Autorität oder der ewige römische Komplex der Deutschen
Nach alldem, was hier gesagt wurde, würde man erwarten, daß in der psychologischen Literatur das Thema des römischen Komplexes der Deutschen eine allgemeine Akzeptanz genießt. Anders als in der theologischen, literaturkritischen und historischen Literatur ist jedoch hier die Frage des römischen Einflusses übersehen worden. Bei den älteren Autoren — Bonner, Brickner, Lewin, Schaffer — scheint der Akzent auf zwangsneurotischer Pflicht zu liegen. Diwald und die anderen Autoren des Sammelbands »Die deutsche Neurose« finden traumatische Einflüsse in den zwei Weltkriegen, besonders in der Kriminalisierung der Deutschen als Kriegsverursacher. Auch Adornos Blick bleibt auf die Gegenwart und die vorausgehenden Jahrzehnte gerichtet. Für ihn wie für Fromm spielt der »deutsche Vater« die Rolle der traumatisierenden Autorität. Woher der deutsche Vater kommt, das sagt aber keiner dieser Autoren. Der Versuch, im Vater den Abglanz des in lingua mortua sprechenden Gottes, des »ewig Anderen« (de Benoist) zu sehen, wurde nicht unternommen. Die Erkenntnis, daß in einer Zeit, wo Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg von der ganzen Welt abgeriegelt war, wo kein Handel das Land belebte, ein deutscher Vater seinen einzigen Schutz suchen und deshalb auch sein Vorbild nur im lokalen Fürsten finden konnte, wurde erst vom amerikanischen Historiker Craig gewonnen. Von einer marxistisch orientierten Frankfurter Schule würde man eher Analysen der materiellen Bedingungen der Autoritätsgebundenheit der Deutschen — z.B. des Verfalls der Weizenpreise — erwarten. A. Mitscherlich, ebenfalls ein Vertreter der Frankfurter Schule, erwähnt das Heilige Römische Reich in »Die Unfähigkeit zu trauern« nur einmal, und im gleichen Atemzug ironisiert er das »typisch deutsche« Streben nach überirdischen, illusionären Idealen. Daß mit diesem Streben das Problem nicht gelöst, sondern erst eröffnet wird, scheint er nicht bemerkt zu haben. Mitscherlich spricht oft von »kulturspezifischem« deutschen Verhalten; um welche Kultur es sich aber handelt, was an ihr spezifisch ist und wie das Spezifische entstanden ist, darüber äußert er sich nicht. Der aus dem uralten Ringen rührende Kulturkonflikt, all die gekünstelten ideologischen Stützen und Gegenstützen reduzieren sich bei ihm auf etwas Naturgegebenes, biologisch-Primitives, auf den elementar-aggressiven Instinkt. Freuds Idee, mit der Einsicht in die Ursachen des Leidens des Patienten diesem den Mut zukommen zu lassen, der ihm das Loswerden seiner fehlgerichteten Abwehrmanöver ermöglichen soll, diese Idee wird bei Mitscherlich politisch moduliert: Er sieht sich gezwungen zu verhindern, daß die während des Dritten Reiches politisch engagierten Deutschen eine Entlastung für ihr Gewissen finden. Eine eingehende Kausalanalyse muß hier unerwünscht bleiben, weil sie als Entschuldigung mißbraucht werden könnte.
Man kann mit dieser eigentümlichen Dialektik von Theorie und Praxis fortsetzen. Frau Margarete Mitscherlich-Nielssen hat sich vor einigen Jahren mit Aussagen zum Problem der deutschen Bevölkerungsabnahme hervorgetan, »wenn die Deutschen« — so sagte sie ungefähr — »sich nichts Besseres einfallen lassen als zu viel zu essen, zu rasen und Geld zu verdienen, dann sollen sie auch von der Erde verschwinden.« Ich frage mich, ob sie dieselbe Sprache mit ihren Privatpatienten benutzt. Eine revolutionäre Wende in die Praxis der Psychotherapie hat sie damit keineswegs eingeleitet: Die Überzeugung, der beste Weg, den Patienten zu heilen, sei, ihn zu beleidigen, zu beschuldigen und in die Erde zu stampfen, diese Lehre hat der autoritäre romverbundene Vater seinen deutschen Kindern schon vor mehr als einem Jahrtausend beigebracht.

Chauvinisten, Linke, Grüne — strukturelle und inhaltliche Ähnlichkeiten
Mit den Einstellungen, die wir bei den Mitscherlichs finden, stimmen am ehesten die der Grünen und der deutschen Nationalisten überein. Es ist typisch für eine Reihe von ihnen, daß sie die Probleme der modernen Zivilisation — rücksichtslose Ausbeutung der Natur, sinkende Fähigkeit, mit Kindern umzugehen, wachsende Kriminalität u.a. — ausschließlich auf ihre Heimat begrenzt sehen. Sie machen dafür die Machthabenden verantwortlich, sprechen ihnen jedes Verantwortungsbewußtsein ab und nennen sie feige. Einmal habe ich, ohne zu fragen, eine aufrichtige Aussage über die Gründe erhalten: »Damit ich morgens beim Rasieren mir selbst nicht sagen muß: Du bist ein Feigling!«
Oberflächlich gesehen, ist darin nicht mehr als ein Verdonnern der politischen Lage zu finden: Alles in Deutschland ist abnormal, deprimierend, entwürdigend, unausstehlich. Mehr von innen gesehen, bedeutet es: »Was ich um mich sehe, kann ich beim besten Willen nicht meine Heimat nennen. Mit Leuten, die das akzeptieren, kann ich nichts gemeinsam haben.« In diesem Sinne ist es, daß mein vor dem Spiegel stehender Freund und Frau Mitscherlich einander ähneln. Beide ziehen zum Krieg für den idealen, beide beschimpfen den realen Deutschen. Noch einen dritten muß man ihnen zugesellen: denjenigen, der an einem Frühlingstag vor 75 Jahren gesagt hat: »Wenn das deutsche Volk nicht bereit ist, sich bis zum letzten Mann für den Sieg zu opfern, dann hat es gezeigt, daß es seines Führers nicht würdig ist.« Dieser Satz, strukturell wie inhaltlich jenem von Frau Mitscherlich sehr ähnlich, ist der stärkste Ausdruck dessen, was die erwähnten Beobachter mit der »Politikfremde« der Deutschen bezeichnen.
Der Schwund der eigenen Substanz als Tugend
Sind solche Aussagen kriminell? Ich möchte es nicht behaupten. Sie sagen mir nur, daß die Betreffenden über den Zustand ihres Volks unglücklich sind und daß sie unbewußt von der Angst verfolgt werden, für diesen Zustand persönlich verantwortlich zu sein. Diese Angst ist den Tiefenpsychologen nicht unbekannt: Viele Kinder fühlen sich, äußerlich völlig grundlos, z.B. für den Tod der Mutter verantwortlich. Die Last ist so groß, daß auch irrationale Mittel willkommen sind, um sie loszuwerden. »An mir kann die Schuld nicht liegen« — sagt sich so einer — »ich bin ja ständig dabei, für das Gute zu kämpfen.«
Sind solche Aussagen neurotisch? Ich glaube, es hat sich gezeigt, daß der Vergleich mit dem neurotischen Verhalten fruchtbar war. Auf eine direkte Antwort kommt es nicht an, weil es auf die Terminologie nicht ankommt. Es ist aber nie normal gewesen und es kann nicht normal sein, daß die Vordenker eines Volkes den Schwund der eigenen Substanz als Tugend und Vorbild für andere erklären. Und das sage ich nicht als Deutscher, sondern als Beobachter, als Ausländer.
Prof. Dr. Hrvoje Lorković
Prof. Dr. Hrvoje Lorković, Jahrgang 1930, Dr. rer.nat. Universität Zagreb, gebürtiger Kroate mit US-Staatsbürgerschaft, research scientist, war Privatdozent für Physiologie an der Universität Ulm. Wichtige Veröffentlichungen: »Karakteristika« — Studie, Roman, Chronik (Hills/Iowa, 1973)und Hrvoje Lorkovic / Antun Pinterovic / Mladen Schwartz, »Das kroatische Trauma. Kulturpsychologisches über ein Volk am Rande der Vernichtung« (Verlag Bublies), Professor Lorković verstarb am 11. Mai 2018.

Dieser Artikel ist zuerst erschienen in der wir selbst-Ausgabe 2/1990.
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