US-Suprematie oder multipolare Weltordnung

von Dr. Winfried Knörzer

US-Suprematie oder multipolare Weltordnung

Seit vielen Jahrzehnten wird der Niedergang der USA verkündet. Teils ist das Wunschdenken von Antiamerikanern, teils wollen Westbindler die Niedergangsrhetorik als Warnung verstehen und schließlich handelt es sich auch nur um die notorische Schwarzseherei von Politikhypochondern. Diese fortgesetzten Negativprophezeihungen sind nicht eingetreten, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, daß sie auch in der Zukunft nicht zutreffen. Ein ganz wesentliches Moment für die Fähigkeit der USA, sich aus durchaus vorhandenen Talsohlen wieder herauszuarbeiten, ist deren Vielfalt kultureller und politischer Milieus und die Freiheit, deren Bestre­bungen zu artikulieren und umzusetzen. Damit steht für die gesellschaftliche Evolution gewissermaßen ein umfangreicher Genpool zur Verfügung, aus dem immer wieder neue und erfolgreiche Varianten selektiert werden. Die zunehmende Verschärfung der Spaltung des Landes in Progressive und Traditionalisten, in Anywheres und Somewheres könnte sich zu einem ernsten Problem entwickeln, weil sie einerseits die Vielfalt eindampft, indem die Milieus in einem der beiden Lager aufgehen und ihre Besonderheit in der Gemeinsamkeit der Frontstellung gegen den jeweiligen Gegner aufgeben, und weil andererseits in der Unerbittlichkeit des Kampfes die Freiheit zur Artikulation verschiedener Meinungen eingeschränkt wird.

Sei dem, wie es sei – die Zukunft wird es erweisen. Mir kommt es auf etwas anderes an. Die Frage, ob die USA ihre nach dem 1. Weltkrieg errungene Weltmachtstellung, die sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks eine Zeitlang zu einer absoluten Dominanz gesteigert hatte, halten können, hängt nicht so sehr von der absoluten Stärke der USA selbst ab, die zumeist am Ideal einer kurzfristigen Hochphase gemessen wird, als vielmehr von ihrer relativen Stärke im Vergleich zu ihren Konkurrenten. Eine einfache mathematische Überlegung mag dies verdeutlichen. Selbst wenn die Leistungskraft der USA im Hinblick auf zentrale Faktoren wie Wirtschaft, Militär und Befähigung zur globalen politischen Einflußnahme abnimmt, vergrößert sich der Abstand zu ihren Konkurrenten, wenn diese hinsichtlich der genannten Faktoren noch schlechter performen.

Das für die Kennzeichnung einer Weltmacht wesentliche Kriterium ist die Fähigkeit globaler Machtausübung. Macht bedeutet nach der klassische Definition von Max Weber „ jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.‟ (Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28) Gemäß dieser Definition kann Macht durch verschiedene Machtformen ausgeübt werden, so etwa auf wirtschaftliche, militärische, politische, kulturelle, religiöse Art und Weise. Entscheidend ist nur, daß tatsächlich und effektiv eine Einflußnahme stattfindet, wobei die eine Seite beein­flußt und die andere beeinflußt wird. Da die Frage nach der Weltmachtstellung die politische Sphäre betrifft, müssen alle nicht-politischen Machtformen letztlich in politischer Macht kulminieren, indem die weniger Mächtigen gezwungen sind, dem politischen Willen des Mächtigeren zu entsprechen.

Häufig wird behauptet (oder auch nur gehofft), daß die US-dominierte unipolare Weltordnung durch eine multipolare abgelöst werde. Als Kandidat dafür werden die BRICS-Staaten genannt, die nicht nur über dafür geeignete materielle Machtressourcen verfügen, sondern auch den politischen Willen zu einer sich der US-Dominanz entziehenden Souveränität besitzen. Um das Fazit vorwegzunehmen: Das beste, was man über diese Länder sagen kann, ist, daß sie eine große Zukunft hinter sich haben. Südafrika ist völlig unbedeutend. Brasilien und Indien haben die aufgrund ihrer Größe in sie gesetzten Erwartungen permanent enttäuscht. Um nur einen Punkt zu nennen: Das eher bescheidene Wirtschaftswachstum Indiens wurde durch das Bevölkerungswachstum aufgezehrt, wodurch weder Kapital für einen Sprung nach vorn akkumuliert werden konnte, noch der private Konsum als Motor für weiteres Wachstum fungieren konnte. Darüber hinaus haben beide Länder auch niemals angestrebt, über ihr unmittelbares regionales Umfeld hinaus Einfluß zu nehmen. Wer – auch in Koalition mit anderen – Weltmachtambitionen hegt, muß diese auch geltend machen. Rußland hat als Erbe der sowjetischen Supermacht praktisch und auch ideologisch am deutlichsten den Anspruch auf eine eigenständige Führungsrolle angemeldet. Dabei aber blieb es. Zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Wollen und Können klafft ein Abgrund. Trotz eigentlich günstiger Ausgangsbedinungen (Größe des Landes und der Bevölkerung, reiche Rohstoffvorkommen, politische Stabilität und gesellschaftliche Homogenität, hohes Bildungsniveau, technologisches Knowhow) hat Rußland nicht das geschafft, was den meisten ehemaligen Ostblockstaaten gelang: ein marktwirtschaftlich getriebenes, signifikantes Wirtschaftswachstum. Das schmähliche Versagen im Krieg mit der Ukraine hat bewiesen, daß Rußland nicht über die Mittel verfügt, um politische Ambitionen im Ernstfall umzusetzen. Was man auch immer von den US-Interventionen im Irak und Afghanistan halten mag, der USA kann nicht die Fähigkeit abgesprochen werden, die selbstgesetzten militärischen Ziele in der geplante Weise erreicht zu haben. Rußland ist, wie die anderen, zuvor genannten BRICS-Staaten, nicht mehr als ein Papiertiger.

Bevor ich auf die völlig andersgeartete und tatsächlich bedeutsame Rolle Chinas zu sprechen komme, möchte ich noch auf zwei Länder bzw. Regionen zu sprechen kommen, denen in der jüngeren Vergangenheit aufgrund ihrer zeitweisen weltweiten Einflußnahme Aufmerksamkeit zuteil wurde: die arabischen Ölförderländer (einige von diesen haben sich mittlerweile dem BRICS-Lager angeschlossen) und Japan. Die Einflußnahme der Ölscheichs durch den Stopp der Ölförderung war thematisch punktuell und zeitlich begrenzt. Sie zielte auf die Reduktion der Unterstützung Israels durch den Westen ab und verfolgte keine längerfristigen und umfassenden Ziele. Den Einnahmeverlust eines länger andauernden Boykotts hätten sie nicht durchstehen können. Ein Boykott ist immer ein zweischneidiges Schwert. Die seinerzeitige Einflußnahme qua Ölembargo war phänomenal rein destruktiv. Anderen zu schaden, nutzt einem selbst nichts und öffnet nicht den Weg zur Weltmacht. Komplizierter verhält es sich im Falle Japans. Japan hatte – auch als Folge der tota­len Niederlage im 2. Weltkrieg – keinerlei weltpolitischen Ambitionen und dazu auch weder die militärische Potenz noch ein ideologisches Sendungsbewußtsein. Die Einflußnahme erfolgte auf ausschließlich wirtschaftlicher Basis, dafür aber sehr massiv. In bestimmten Sektoren (teilweise in der Schwerindustrie wie Fahrzeuge und Schiffe, vor allem im Bereich der Optik und Unterhaltungselektronik) waren japanische Firmen absolut, monopolartig führend. Japan war hinter den USA Weltwirtschaftsnation Nr.2. Japans rasanter Aufstieg verdankte sich großenteils Besonderheiten der japanischen Mentalität und Kultur, schlagwortartig: den etwas ominösen „asiatischen Werten‟, worauf ich hier nicht näher eingehen möchte. Ende der 80er Jahre geriet aber das japanische Erfolgsmodell in eine Krise, aus der es sich immer noch nicht befreit hat. Dieses Unvermögen steht in krassem Gegensatz zur phönixhaften Fähigkeit der Amerikaner, aus Krisen wieder emporzusteigen. Eine ähnliche Entwicklung, sowohl was den rasanten Aufstieg als auch die darauf folgende Stagnation betrifft, machte im Abstand von 20 Jahren Südkorea durch. Dieser Vorgang ist einigermaßen rätselhaft. Anzunehmen aber ist, daß die tiefverwurzelten Faktoren, die den Aufstieg beflügelten, auch für die Stagnation verantwortlich sind: Verflechtung von Staat und Wirtschaft, Gruppenmentalität und Konformitätsdruck, hypertrophes Leistungsethos. Es treten nun die Schattenseite des Modells nach vorne, nachdem die positiven Potenzen ausgereizt sind. Möglicherweise fehlt beispielsweise dem japanischen Unternehmer die Hemdsärmeligkeit und Unbekümmertheit seines amerikanischen Pendants. Der japanische Unternehmer tut seine Pflicht und plant, der amerikanische hat Spaß und riskiert’s einfach.

Nun zu China. Auch hier scheint, teils aus ähnlichen Gründen wie bei den genannten beiden ostasiatischen Ländern, teils aus chinaspezifischen eine Stagnationsphase einzusetzen. Erschwerend kommen hier die enormen Unterschiede zwischen Nord und Süd, zwischen ländlicher Armut und städtischem Wohlstand und der politische Druck einer sich zusehend verschärfenden Diktatur. Unter Ji Jinping hat eine nominell der kommunistischen Tradition verpflichtete, faktisch aber dem autokratischen Kontrollwillen geschuldete Abkehr von der Marktwirtschaft und eine Rückkehr zu totaler staatlicher Regulierung stattgefunden. Erste Krisensymptome, die unvermeidlich irgendwann nach jeder Gründungsphase auftreten, haben nicht dazu geführt, die marktwirtschaftlichen Kräfte zu stärken, sondern im Gegenteil diese an die Kandarre zu nehmen. China hatte, beginnend mit den Reformen Ten Hsiao Pings, nicht auf politischem, militärischem oder ideologischem Wege Weltgeltung erlangt, sondern auf ökonomischem. Die Wirtschaftskraft ist die eigentliche Machtressource, von der sich alle anderen ableiten. Wie erwähnt, ermöglicht ökonomische Macht nur dann eine weltweite Führungsrolle, wenn sie in politische Macht umgemünzt wird. Dieses Vorhaben hat China durch weltweites ökonomisches Engagement verfolgt: Projekt Seidenstraße, Finanzierung des Aufbaus von Industrien in der 3. Welt und zugleich neokolonialistische Ausbeutung der dortigen Bodenschätze, Firmenaufkäufe in den westlichen Industrieländern. Dieses Vorhaben gelingt aber nur, wenn die heimische Wirtschaft dafür das Kapital bereitstellt. Doch dieser Finanzmotor stottert. Im übrigen stellt sich die Frage, ob sich China mit seiner insgesamt recht rigorosen Vorgehensweise Freunde macht und sich als Partner gegen den Westen qualifiziert, denn die Länder der 3. Welt dürften wohl wenig Interesse daran haben, die Bevormundung durch die USA mit der durch China einzutauschen. Vieles deutet darauf hin, daß China knapp unterhalb der Schwelle, deren Überspringen es zu einem echten Konkurrenten der USA machen würde, die Puste ausgeht.

Vieles ist möglich. Da sich immer Unvorhergesehenes ereignen kann, können Prognosen nicht mehr leisten, als aktuelle Konstellationen in die Zukunft zu extrapolieren. Dessen eingedenk, liegt das Entstehen einer multipolaren Weltordnung noch in weiter Ferne. Als einziger ernsthafter Konkurrent kommt, was keine neue Erkenntnis ist, sowieso nur China in Betracht, wodurch sich allenfalls eine bipolare Weltordnung herausbilden könnte. Auch dies ist keine Novität, sondern war über 40 Jahre lang der Normalfall. Warum man trotzdem den Topos der multipolaren Weltordnung im Munde führt, verdankt sich dies zum einen der Höflichkeit, die es geboten erscheinen läßt, Rußland, Indien et al. zu schmeicheln und ihnen zu versichern, daß auch Papiertiger schön brüllen können, und zum anderen dem Wunschdenken der Europäer, die von einer solchen globalen Konstellation erhoffen, zumindest als ein Pol unter vielen und nicht mehr nur als Anhängsel der USA Beachtung zu finden. Apropos Europäer: diese hatte ich – verständlicherweise – bisher noch gar nicht erwähnt. Verständlicherweise, weil die EU als solche weltpolitisch genauso unbedeutend ist wie Südafrika. Effektives weltpolitisches Engagement üben sporadisch nur die Briten und Franzosen aus, aber das tun sie nicht als Repräsentanten der EU, sondern als Briten und Franzosen.

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Dr. Winfried Knörzer

Dr. Winfried Knörzer, geboren 1958 in Leipzig, studierte in Tübingen Philosophie, Germanistik, Medienwissenschaften, Japanologie und promovierte über ein Thema aus der Geschichte der Psychoanalyse. Berufliche Tätigkeiten: Verlagslektor, EDV-Fachmann. Seit Anfang der 90er Jahre ist er mit Unterbrechungen publizistisch aktiv.

Hier finden Sie die Druckausgaben der Zeitschrift wir selbst, Nr. 55/1-2024 und 54/1-2023:

Die beiden Druckausgaben des Jahres 2022 unserer Zeitschrift sind auch noch erhältlich:

Ein Kommentar zu “US-Suprematie oder multipolare Weltordnung

  1. Dieser Artikel ist eigentlich das beste Beispiel dafür, dass man einzelne Staaten und deren weltpolitische Rolle nicht mal so eben im Schnelldurchgang abgrasen sollte, weil man dann zu verfehlten Schlussfolgerungen kommt. Mit Multipolarität ist eben nicht das Herausprägen mehrerer Supermächte (wie etwa der USA der 90er und 2000er) auf einmal gemeint, sondern das Zurückfallen bisheriger Supermächte auf den lediglichen Großmacht-Status einerseits und das Heranwachsen bisheriger Regionalmächte (im Falle Russlands zurück) zur Großmacht andererseits. Die Perspektive und der Vergleich zum Vorher sind das A und O.

    Mitnichten ist China auf dem absteigenden Ast, was eigentlich jeder sehen müsste, der mal einen Blick nach Afrika und Südamerika richtet. Auf beiden Kontinenten baut China seine ökonomische und in der Konsequenz auch geostrategische Hegemonie mit rasender Geschwindigkeit aus, bei gleichzeitigem Rückzug des Westens. Daran wird das zeitweilige Stottern der chinesischen Wirtschaft v. a. infolge der Corona-Krise letztlich nichts ändern.

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