von André Hagel
In Geisterzügen durch Dunkeldeutschland – die Bahn macht’s möglich.
Was Geisterzüge mit anderen gespenstischen Erscheinungen in Deutschland zu tun haben – und wie man Abhilfe schaffen könnte, wenn das DB-Management rechnen könnte oder ein Herz hätte. Eine spitzzüngige satirische Betrachtung.
Literatur und Realität: In Enid Blytons Jugendklassiker „Fünf Freunde im Zeltlager“ geht es darum, das Rätsel von Geisterzügen zu lösen, die des Nachts durch die Gegend kurven und in mysteriösen Tunneln verschwinden. Die literarische Welt der Romanhefte kennt die Story „Horror-Train nach nirgendwo“ aus der Gruselserie „Larry Brent“ von Dan Shocker alias Jürgen Grasmück. Es blieb allerdings der Deutschen Bahn vorbehalten, Geisterzüge zu verwirklichen, die fahrplanmäßig ohne Passagiere in dunklen Nächten Berlin umrunden, weil es dauerhaft nicht genügend Abstellplätze für die leeren Züge gibt.
Geisterzüge haben etwas Gespenstisches an sich. Insofern stehen sie für weitere, ähnlich gelagerte Symptome, die dieses Land inzwischen auszeichnen: bröselnde, wackelnde und auch mal einstürzende Brücken etwa; Waffenverbotszonen, in denen Messer spazierengetragen werden; eine linguistisch in jedem zweiten Satz scheiternde Außenministerin, die der Welt in gebrochenem Deutsch einzutrichtern versucht, wie sie gefälligst zu funktionieren habe; eine zunehmend Depressionen verfallende Bevölkerung, die die Wartelisten psychologischer Praxen verstopft; Politiker, die Bürger anzeigen, weil die diese Politiker für vielfach inkompetent halten und das auch öffentlich bekunden; Apotheken, die zunehmend keine Medikamente mehr verkaufen, weil es schlichtweg keine mehr gibt, und die leeren Stellen im Regal ersatzweise mit Wellness- und Beauty-Produkten füllen; Haussuchungen durch die Polizei bei Bürgern, die dachten, das Grundgesetz garantiere nicht nur zum Spaß und an sonnigen Sonntagsredensonntagen das Recht auf freie Meinungsäußerung; bis hin zu staatlich finanzierten Neubauwohnungen für neu im Land ankommende Migranten, während die Stammbevölkerung auf dem freien Wohnungsmarkt sich nicht nur dumm sucht, sondern auch dämlich zahlt. Ein zunehmend scheiterndes Land, das seinen traditionellen Fleiß und Erfindungsreichtum darauf verwendet, sich selbst auf der Abschußliste Platz für Platz nach oben zu drängen, statt nach einem Platz an der Sonne für sich und seine Bürger zu streben.
Zumindest für die Berlin umkreisenden Geisterzüge gäbe es eine lukrativ erscheinende Lösung: Würde man sie nämlich als Partyzüge anbieten, käme nicht nur Leben in die Bude, sondern es würde auch Geld in die Kassen der Bahn gespült, statt durch nächtelange Leerfahrten verbraten zu werden. So manche drückende Depression würde bei Passagieren beschwingter Heiterkeit weichen, und die Psychologen und Psychiater könnten etwas durchatmen. Vom positiven, stimulierenden Effekt solcher in vielerlei Hinsicht unterhaltsamen Rundfahrten auf die Bevölkerungsentwicklung ganz zu schweigen.
Als rollende Notbleibe für Obdachlose könnten die Züge zumindest in den kalten Monaten des Jahres menschliches Leid lindern und sozial Sinnvolles bewirken. In den Bordbistros könnten Bahnhofsmission oder Heilsarmee Eßpakete ausgeben und so einen weiteren Mangel von Menschen ohne Dach über dem Kopf beheben. Man schlüge sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe.
Und funktionierte man die Geisterzüge zu zeitweiligen Unterkünften für Migranten um, könnte sich die öffentliche Hand letztlich Unsummen für teure Neubauten sparen. Weiterer Vorteil dieser Variante: Die nachtsüber in den Zügen einquartierten Zuzügler kämen nebenbei ein bißchen herum, würden das Land kennenlernen. Mit ohne Beleuchtung als Dunkeldeutschland zwar, aber immerhin, mehr als nix. Und sie bekämen schon mal einen konkreten Eindruck davon, wie es in diesem Land aussieht, wenn demnächst der letzte das Licht ausmacht.
Wer rechnen kann und ein Herz hat, findet Lösungen. Auf Leerfahrten kreuz und quer durch die Nacht nach nirgendwo kommt nur die Deutsche Bahn. Und die kommt auch hier wie sonst immer zu spät.

André Hagel, Jahrgang 1971, ist Redakteur und Autor. Er lebt in Münster, zeitweilig in Graz. Erschienen sind aus seiner Feder Sachbücher ebenso wie belletristische Titel. Außerdem bestreitet er mit seinen Texten Lesungen. Letzte Buchveröffentlichungen: „Eine Form von Intelligenz – Kurz- & Kleingeschichten“ und „Das Leben ist erbarmungslos und selten was dazwischen“ (beide erschienen bei Edition Reklamation).

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