Zum Urteil des Thüringer Verfassungsgerichts

von Rocco Burggraf

Zum Urteil des Thüringer Verfassungsgerichts

Das Landesverfassungsgericht hat gesprochen. Und wie immer sorgfältig mitschreiben lassen. Über das Lehrstück gelenkter Demokratie werden sich sicherlich nun Juristen aller Fraktionen hermachen. Unschwer vorauszusagen, dass Medien den Ausgang in Verkennung der komplexen Problematik hocherfreut als Niederlage der Demokratieverächterin AfD und Anlass für weitere Vorstöße in Richtung Verbotsverfahren herausstellen werden.

Das getroffene Urteil zugunsten der CDU hatte ich trotz solider Unkenntnis der ausgesprochen komplizierten juristischen Materie gestern in meinem Artikel bereits angedeutet. Es wäre naiv anzunehmen, im Verfassungsgericht würde mit destilliertem Wasser gekocht. Darüber zu spekulieren ist allerdings müßig. Natürlich wird ein Gericht, dessen Richter entweder selbst einer Altpartei angehören oder aber von altparteipolitischen Wegbereitern platziert wurden, sich auch ohne konkrete Verdachtsmomente immer den Vorwürfen ausgesetzt sehen, den Bedürfnissen der Brandmauerpolitik entsprochen zu haben. Eine über den Wolken parteipolitischer Zwänge schwebende Justitia mit Augenbinde ist eine schöne Vorstellung, aber natürlich Illusion.

Für die vollziehende Politik ist erstmal Ende Gelände. Die Richter haben das Procedere so eindrücklich wie möglich diktiert. Hierin lag auch der wesentliche Streitpunkt. Das Ziel des Anti-AfD-Blocks ist erreicht. Das in der Geschäftsordnung derzeit noch dezidiert enthaltene, bisher auch praktizierte alleinige Vorschlagsrecht der stärksten Fraktion auf den Vorsitz im Landtag, mithin das zweithöchste Amt im Land, dürfte nicht mehr zu halten sein.

Dennoch ist es interessant, sich den richterlichen Erlass im Detail anzusehen. Zweifellos wurde hier mit äußerster Sorgfalt gearbeitet. Was da nun nach dem Eilantrag auf 36 eng beschriebenen Seiten mit endlosen Fußnoten und Querverweisen auf einschlägige Grundsatzurteile, Rechtsliteratur und Gesetzestexte vorliegt, ist ganz sicher nicht Ergebnis einer eintägigen Zusammenkunft der Richterschaft, sondern mutet eher an wie eine nach monatelangem Feinschliff entstandene Promotion zum Verfassungsrecht. Eine, die gegen alle nur denkbaren Einwände mittels eingezogener Leitplanken vorgebaut hat. Die Vorläufigkeit des Urteils, insbesondere deren Zulässigkeit überhaupt, ist ausführlich behandelt. Auch sonst vermittelt sich der Eindruck, dass für ein Hauptsacheverfahren kaum noch Verhandlungsmasse bleibt.

Was wie ein abgekartetes Spiel aussieht, ist eher als professionelles Arbeiten zu sehen. Der Frontalzusammenstoß im Thüringer Parlament erfolgte mit Ansage und sehr langer Vorlaufzeit. Nicht nur daran erkennbar, dass der CDU-Chef Mario Voigt seinen Rechtsbeistand schon Tage vor der konstituierenden Sitzung mit der Wahrnehmung seiner Interessen beauftragt hatte, sondern auch am bereits Monate zurückliegenden, damals noch am Widerstand einer siegesgewissen CDU gescheiterten Vorstoß der Grünen, die Geschäftsordnung des Landtages angesichts der veränderten Großwetterlage zu verändern. Beide Lager, Altparteienlager und AfD, haben also lange frontal aufeinander zugehalten, und das Verfassungsgericht war in jeglicher Hinsicht gut beraten, auf den absehbaren Chrash vorbereitet zu sein.

Was steht nun in der Begründung? Die Richter haben die Nachrangigkeit der Geschäftsordnung gegenüber den geltenden Verfassungsgrundsätzen herausgestellt und damit die Freiräume des Selbstorganisationsrechts des Parlaments betont. Das ist juristisch kaum zu beanstanden, aber natürlich ist bereits diese Interpretation politisch gefärbt. Denn die Sicht hätte durchaus auch eine andere sein können. Nämlich die Maßgabe, dem Wählerwillen dahingehend zu entsprechen, dass die stärkste Fraktion zwar nicht zwingend den Ministerpräsidenten stellt, dann aber einen legitimen Anspruch auf den Vorsitz im Landtag geltend machen kann. Eine Art Direktmandat der stärksten Partei für den Chefposten. Das alleinige Vorschlagsrecht für die Kandidatur zum Landtagspräsidenten durch die stimmenstärkste Partei (hier AfD 33% vor CDU 24%) ist ja nicht zufällig in die Geschäftsordnung gelangt und wurde im Konsens über Jahrzehnte praktiziert und akzeptiert.

Die Richter heben nun aber in ihrer Urteilsbegründung in epischer Breite darauf ab, dass der Landtagspräsident sich nicht zuerst auf das erfolgte Wählervotum der erfolgten Kommunalwahl, die geltende Geschäftsordnung oder ein Gewohnheitsrecht stützen dürfe, sondern vor allem die Vertrauensbasis des Präsidenten im Parlament selbst eine entscheidende Rolle zu spielen habe. Das ist ein Argument, das ohne jede belastbare parlamentarische Praxis präjudiziert, dass ein Präsident dieses Vertrauen von vornherein nicht hat. Ein Blick in die Glaskugel, der zwar nicht ganz von ungefähr kommt, aber eben erst mit dem Vormarsch der AfD und der errichteten Brandmauer überhaupt relevant wurde. Die deutlich erkennbare vorausschauende Reaktion des Gerichts hierauf, ist das zweifellos dünnste Eis, auf das sich die Rechtsprecher begeben haben; ist doch damit auch ein bundesdeutscher Verfassungsgrundsatz berührt, nachdem nicht die Repräsentanten der Demokratie, sondern vor allem der Souverän selbst von deutschen Gerichten vertreten wird. Vor den richterlichen Verkündungen heißt es ja nicht „Im Namen der Abgeordneten!“ sondern „Im Namen des Volkes!“

Bild von Manfred Kleine-Hartlage auf Pixabay

Rocco Burggraf

Ich wohne in Dresden, bin parteilos, Familienvater, hauptberuflich freier Architekt und nebenberuflich inzwischen auch kritischer Publizist in sozialen Netzwerken. Meine politische Orientierung würde ich in erster Linie als freiheitlich bezeichnen. Kontaminierte Einordnungen nach links oder rechts, sozial oder wertkonservativ sind für mich uninteressant, weil von Fall zu Fall verschieden.


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