von Detlef Kühn
Die Neuvereinigung Deutschlands und die Lehren seit 1989
Diesen Beitrag stellte uns Detlef Kühn 1999 zur 10-Jahresfeier des Falls der Berliner Mauer zur Verfügung. Seine Gedanken zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten und den Lehren, die aus der Vorgeschichte und den Irrtümern der damals etablierten Politik gezogen werden sollten, sind unverändert gültig.
Die Wiedervereinigung Deutschlands wurde 1989/90 von der Bevölkerung der DDR gegen den Willen unserer Verbündeten Frankreich und Großbritannien und vor allem auch vieler deutscher Intellektueller und Politiker herbeigeführt. – Auch weiterhin gilt: Politik ist gestaltungsfähig und gestaltungsbedürftig; maßgeblich ist die Interessenlage der Staaten und Völker; die nationalstaatlichen Strukturen bleiben noch für längere Zeit erhalten.
1989 – und die Lehren
In den Massenmedien Deutschlands fehlt es derzeit nicht an Rückblicken auf das Jahr 1989. Dies ist durchaus berechtigt, war es doch ohne Zweifel eines der aufregendsten Jahre dieses Jahrhunderts. Will man historische Parallelen ziehen, so fällt einem noch am ehesten ein ähnlich einschneidendes Ereignis 200 Jahre früher ein – die Französische Revolution 1789.
Wie damals fehlte es auch diesmal im Vorfeld der Ereignisse nicht an Unruhe und mehr oder weniger deutlichen Zeichen an der Wand. Und wie damals wußten nur wenige sie zu deuten oder gar konkrete Schlußfolgerungen aus ihnen zu ziehen. Daß innerhalb nur eines Jahres ein Ereignis wie die Wiedervereinigung Deutschlands stattfinden würde, überstieg die politische Phantasie fast aller Zeitgenossen.
Zeitgeist West
Bei den meisten deutschen Intellektuellen verwundert dies nicht, hatten sie doch gerade beschlossen, nun nicht mehr länger aus ihrem Herzen eine Mördergrube zu machen und dem sowieso ungeliebten Gedanken an eine Wiedervereinigung Deutschlands auch offiziell eine Absage zu erteilen. Durch die Politik konnten sie sich dabei wenigstens teilweise bestätigt fühlen: Die SPD-Führung hatte erst im Sommer 1987 gemeinsam mit den Genossen von der Sozialistischen Einheitspartei ein Papier (je nach Geschmack Streitkultur- oder Ideologie-Papier genannt) erarbeitet, in dem die westdeutsche Opposition die Existenzberechtigung der kommunistischen Partei im anderen Teil Deutschlands nicht mehr in Frage stellte. Eine wichtige Vorarbeit hierfür hatte ein Jahr vorher die Redaktion einer der großen politischen Wochenzeitungen der Bundesrepublik, der „Zeit“ geleistet, als sie offiziell die DDR bereiste und dort eine eindrucksvolle Verbesserungder wirtschaftlichen und sonstigen Verhältnisse feststellte. Die Bevölkerung sei im wesentlichen zufrieden und der Staatsratsvorsitzende und SED-Generalsekretär ein durchaus populärer Mann.– Folgerichtig hatte auch der deutschlandpolitische Chefdenker der SPD, Egon Bahr, den Rat vergessen, den er 1970 dem sowjetischen Ministerpräsidenten Kossygin erteilt hatte, nämlich keinem Deutschen zu trauen, der die deutsche Frage für erledigt erkläre, er sei entweder dumm oder er lüge. Auch er schwor jetzt für unbegrenzte Zeit dem Gedanken an eine Wiedervereinigung ab.– Unter diesen Umständen wollten natürlich auch die „fortschrittlichen“ Kräfte in der CDU nicht zurückstehen und bereiteten unter ihrem Generalsekretär Geißler für den Bundesparteitag 1988 einen Antrag vor mit der Absicht, das bislang in der Partei offiziell unumstrittene Ziel der Wiedervereinigung zu verwässern. Bundeskanzler Kohl als Parteivorsitzender verhinderte dies letztlich, obwohl auch er ja seit 1982 keine Wiedervereinigungspolitik betrieben hatte. Das Scheitern dieser CDU-Frondeure hat damals die Unionsparteien vor einer riesigen deutschlandpolitischen Blamage bewahrt, die nur ein Jahr später, als die Bevölkerung der DDR an die Tore der Bundesrepublik klopfte, offenkundig geworden wäre. Dennoch: Der Zeitgeist hatte sich erheblich gewandelt. Die SED-Führung hatte ihren größten propagandistischen Erfolg im Westen erzielt. In Regierung und Opposition war man sich weitgehend einig, daß man die DDR um des lieben Friedens willen auf keinen Fall destabilisieren dürfe. Folglich mußte man sie stabilisieren, nicht zuletzt durch finanzielle Zuwendungen in Milliardenhöhe.
Und wenn man überhaupt noch eine Wiedervereinigung Deutschlands in öffentlicher Rede in Betracht zog, dann war man sicher, daß dies allenfalls im Rahmen einer gesamteuropäischen Einigung von mindestens der Memel bis zum Atlantik möglich und wünschenswert wäre. Damit konnte man dann sicher sein, dieses Problem bis zum Sankt Nimmerleinstag entsorgt zu haben. Nur noch wenige Versprengte in Wissenschaft, Publizistik und Parteien hielten 1989 an der Auffassung fest, daß die Wiedervereinigung auch ruhig zuerst kommen dürfe und damit eine die bisherigen Blöcke übergreifende Einigung vorbereiten könne.
Für sie gab es immer weniger Publikationsmöglichkeiten. Man muß es einmal sagen: Unter den überregionalen Blättern kamen sie nun noch in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“! und in der „Welt“ sowie im..„Rheinischen Merkur“ zu Wort, darüber hinaus (mit geringer Auflage) in „Mut“- oder „wir selbst“, die allerdings von den politisch Korrekten bereits unter Faschismus- oder wenigstens Neutralismus-Verdacht gestellt wurden. Von den elektronischen Medien stand, dank der unbeugsamen Haltung seiner Deutschland-Redaktion, fast nur noch der Deutschlandfunk in Köln zur Verfügung. Das Fernsehen fiel fast vollständig aus.: Rückschauend ist es gelegentlich belustigend, damals fand ich es weniger komisch, zu sehen, welche geistigen Verrenkungen Intellektuelle unternahmen, um die Teilung Deutschlands als historisch zwangsläufig, dauerhaft und vor allem im Interesse des Weltfriedens liegend darzustellen.

… und zweitens als man denkt
Manche von ihnen sind in den 90er Jahren mit der selben Präzision und Deutlichkeit damit beschäftigt, in Büchern, Artikeln und Vorträgen darzulegen, warum dennoch alles ganz anders gekommen ist, ja kommen mußte, als sie es prognostiziert hatten. Dabei ist die Anwort auf diese Frage ganz einfach. Der Fehler lag in der Regel darin, daß man Fakten allein deshalb für dauerhaft hielt, weil sie vorhanden waren. Dieser Trugschluß passierte erstaunlicherweise auch und gerade Historikern, die doch eigentlich durch ihre Studien am besten wissen müßten, daß der Volksmund recht hat, wenn er behauptet: „Erstens kommt es anders und zweitens als man- denkt!“ Daß dieser Denkfehler offenbar zeitlos ist, kann man auch jetzt noch jeden Tag in der Zeitung lesen. Noch immer werden Prognosen selbstsicher vorgetragen, die das angeblich bevorstehende weltweite Ende der Nationalstaaten, den Erfolg des Multi-Kulturalismus, die Stabilität des Euro, die Globalisierung und ihre Folgen oder die angebliche Überflüssigkeit einer deutschen Landesverteidigung mangels potentieller Gegner betreffen. Alle diese Prognosen fußen auf der Annahme, daß eine Tendenz schon deshalb unumkehrbar sei, weil sie vorhanden ist. Offenbar kann oder will man nicht aus den vor zehn Jahren gemachten Fehlern lernen.
Selbstbestimmungsrecht – für Deutsche?
Der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes in Deutschland Ende 1989 war aber noch in anderer Beziehung lehrreich: Es wurde deutlich, wie dünn doch in Wahrheit auch in traditionellen Demokratien wie Frankreich und Großbritannien die Firnis der Akzeptanz der Menschenrechte ist, wenn vermeintlich entgegen stehende nationale Interessen berührt sind. Der französische Staatspräsident Mitterand und die britische Premierministerin Thatcher unternahmen plötzlich energisch Aktivitäten, um die Teilung Deutschlands auch gegen den sich bereits abzeichnenden Wunsch der DDR-Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, also auch des deutschen Volkes, spielte für sie plötzlich keine Rolle mehr. Man fiel zurück in die traditionelle Politik des „Teile und herrsche“ und scheute sich nicht einmal, die sowjetische Führung zu entsprechenden Schritten gegenüber der DDR aufzuhetzen. Letztlich lag es nur an der schon weit vorangeschrittenen Agonie des Sowjetreichs und der Einsicht Gorbatschows, sowieso nichts mehr verhindern zu können, daß dieser von alten nationalen Verhaltensmustern geprägten Politik unserer Nato-Verbündeten kein Erfolg beschieden war. In der Nato war Verlaß vor allem auf die Amerikaner, die in dem Weiterbestehen der DDR für sich keinen Nutzen entdecken konnten. Auch dies dürfen die Deutschen nicht vergessen. Der Tatsache, daß man auf einen Teil der Nato-Partner 1990 nicht zählen konnte, hat Bundeskanzler Kohl – unnötigerweise, wie ich finde – dadurch Rechnung getragen, daß er, hinter dem Rücken der Wähler, Mitterand als Gegenleistung für die Aufgabe weiteren Widerstandes gegen die Wiedervereinigung die (west-)europäische Währungsunion und das Ende der in Frankreich besonders gefürchteten Deutschen Mark zusagte, für die sich die Menschen in der DDR gerade entschieden hatten.
Jedenfalls kann bis zum Ende des Jahres 1989 in der alten Bundesrepublik von einer aktiven Wiedervereinigungspolitik bei allen Parteien keine Rede sein. Als erster raffte sich am 28. November immerhin Bundeskanzler Kohl mit seiner 10-Punkte-Erklärung auf, wenigstens eine entsprechende gedankliche Perspektive anzudeuten. Damit überraschte er alle anderen Parteien, auch seinen Koalitionspartner FDP. Die Sozialdemokratie als Opposition war noch zögerlicher und bereitete damit ihre Niederlage bei der Volkskammer- und der Bundestagswahl des kommenden James vor. Ihr Parteivorsitzender Lafontaine erklärte sich, laut Egon Bahr, für außerstande, zu sagen, daß er sich über die Wiedervereinigung freue, und Willy Brandt konnte diesen verheerenden Eindruck allein dadurch, daß er darauf hinwies, jetzt wachse zusammen, was zusammen gehöre, bei den Wählern nicht wettmachen. Erst unter dem Druck der demonstrierenden DDR-Bevölkerung auf der Straße fand die damalige Bundesregierung Kohl/Genscher im Frühjahr 1990 zu einer klaren und letztlich erfolgreichen Wiedervereinigungspolitik gegenüber allen Siegermächten des Zweiten Weltkriegs.
Welche Folgen allerdings das dabei verabredete einmalige Experiment haben wird, eine Währungsunion ohne eine einheitliche Wirtschaftspolitik und ohne die politische Union, die praktisch als Ziel erst einmal aufgegeben wurde, zu etablieren, werden die Deutschen und mit ihnen ganz Europa noch zu spüren bekommen. Die Aufweichung der Haushaltskriterien von Maastricht durch Italien und der daraufhin sich prompt nochmals verstärkende Wertverlust des Euro gegenüber dem Dollar durften erst der Anfang sein. Inzwischen fragen sich nicht nur überzeugte Euro-Gegner, wozu das alles letztlich gut sein soll. Nimmt man einen „weichen“ Euro und den zu erwartenden inflatorischen Effekt bewußt in Kauf, um auf diese Weise einen Teil der gigantischen Schulden aller Staaten loszuwerden? Eine derartige Politik müßte letztlich von den Sparern bezahlt werden, deren Geldforderungen weitgehend entwertet wären.
Wie weiter?
Welcher Erkenntnisgewinn läßt sich aus dem aufregenden Jahr 1989 für die Gegenwart und die Zukunft erzielen?
Zuerst einmal der, daß jede deterministische Betrachtungsweise bei der Beurteilung zeitgeschichtlicher Abläufe unangebracht ist. Politik ist auch weiterhin gestaltbar und bleibt damit die Kunst des Möglichen – und Notwendigen, muß man hinzufügen.
Zweitens: Die verläßlichste Grundlage für die Beurteilung des politischen Handelns von Personen, Staaten und Völkern bleibt auch weiterhin deren Interessenlage. Sie außer acht zu lassen, wäre ein gefährlicher Fehler. Gleiches gilt allerdings auch für die eigenen Interessen, die man deutlich formulieren und für die Partner verständlich darstellen muß, sonst kann man nicht erwarten, ernst genommen zu werden. Gerade die Deutschen haben damit oft Probleme, die auf ihre Partner irritierend wirken. Sie neigen dazu, den Eindruck zu erwecken, als ginge es ihnen nicht in erster Linie um ihre Interessen, sondern vor allem um die (natürlich gute) „Sache“ – seien es der europäische Gedanke, die Menschenrechte in Kurdistan oder die Wiedergutmachung von Unrecht, das Deutsche irgendwann einmal anderen Menschen zugefügt haben. Wenn die deutsche Politik dann doch einmal wagt, z.B. bei den allfälligen Zahlungen auf ihre beschränkten Ressourcen hinzuweisen, weiß man im Ausland leider nie, wann es ihr damit wirklich ernst ist. Dies ist das Gegenteil von Verläßlichkeit und macht die Deutschen auch sonst nicht beliebt.
Drittens: Wir täten gut daran, bei der Gestaltung der europäischen Zukunft von der Weiterexistenz nationalstaatlicher Strukturen auszugehen. Anders ist eine Erweiterung der Europäischen Union derzeit kaum vorstellbar. Weder die Türkei noch die osteuropäischen Nachbarn wollen auf absehbare Zeit in einem gesamteuropäischen Bundesstaat aufgehen. Auch weiterhin ist das „Europa der Vaterländer“ im Sinne de Gaulles das wahrscheinlichste Modell für die Gestaltung der europäischen Zukunft. Es liegt auch im Interesse Deutschlands.
Detlef Kühn
geboren 1936 in Potsdam, seit 1956 Studium der Rechtswissenschaften an der Freien Universtität Berlin, anschließend Referendardienst, 1966-1970 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Geschäftsführer des Arbeitskreises I der FDP-Bundestagsfraktion in Bonn (Außen- und Deutschlandpolitik, Verteidigung, Entwicklungshilfe), 1970-1972 Persönlicher Referent des Staatssekretärs Dr. Hartkopf im Bundesministerium des Innern, 1972-1991 Präsident des Gesamtdeutschen Instituts – Bundesanstalt für gesamtdeutsche Aufgaben, 1990/91 zugleich Verwaltungsdirektor und zuletzt kommissarischer Rundfunkdirektor bei Sachsenradio in Leipzig, 1992-1998 Direktor der Sächsischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien in Dresden.

Kurz und bündig
: Nach dem verlorenen Krieg teilten die Siegermächte Deutschland in 3 Teile auf:die BRD,die DDR und Österreich, drei deutsche Staaten für ein Volk! So wurde: „Teile und herrsche“ praktiziert. 1952 hätten wir die Wiedervereinigung der BRD mit der DDR schon erlangen können,wenn Adenauer nicht der Tradition des rheinischen Separatismus folgend die Stalinofferte
für eine solche Wiedervereinigung abgelehnt hätte. Seit der Reichsgründung 1871 leidet das deutsche Reich an dem Ausschluß Deutschösterreiches. Von einer Wiedervereinigung könnte so gerechtfertigt nur die Rede sein, wenn das jetzige Deutschland sich mit Österreich wieder verbindet. Ein Deutschland ohne das Österreichische ist kulturell gesehen auch ein zu einseitig preußisches
Deutschland.
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